1870/71. Tobias Arand
Konflikts in aller Deutlichkeit: »Wir würden dann unsere Beteiligung an der Seite Russland durch eine Haltung und ein Vorgehen herbeizuführen suchen, welches Frankreich zum Angriffe oder zur Bedrohung Deutschlands nötigte. Truppenaufstellungen, nationale Manifestationen in Deutschland und Italien sowie unsere Beziehungen zu Belgien, selbst zu Spanien, würden uns Gelegenheit zu Diversionen bieten, welche unser Eingreifen herbeiführten, ohne demselben gerade die Form eines aggressiven Cabinetskrieges zu geben.«51
Für das in den Jahren 1866 und 1867 gedemütigte Frankreich und seinen kranken Kaiser wirkt die Kandidatur ausgerechnet eines Hohenzollern, auch wenn er überhaupt kein Preuße ist, im südwestlichen Nachbarland Spanien wie ein Affront. Man fühlt sich ein weiteres Mal herabgewürdigt und wähnt sich – nicht ganz frei von Paranoia – im Fall einer Thronannahme durch Deutsche eingekreist. Entsprechend sind die weiteren Folgen. Dazu kommt, dass Frankreich selbst Ambitionen hat, in Spanien in der Thronkandidatenfrage mitzureden. Pläne, einen italienischen Kandidaten, Prinz Amadeus von Savoyen, zu installieren, stoßen auf Ablehnung Frankreichs. Die noch immer ungeklärte Rom-Frage verhindert ein Übereinkommen zwischen Italien und Frankreich. Napoleon bevorzugt den Sohn der gestürzten Isabella als neuen Regenten.
Napoleon III. selbst wird erkannt haben, dass mit der Kandidatur des freundlichen und harmlosen Leopold eigentlich keine Gefahr für Frankreich verbunden ist und kein Grund zur Hysterie besteht. Das Haus Hohenzollern-Sigmaringen ist ihm persönlich vertraut, hatte er in seiner Jugend dort sogar Jagdeinladungen angenommen. Ihm ist bewusst, dass Leopold im heruntergewirtschafteten Spanien andere Sorgen haben würde, als Frankreich zu schaden. Auf den jungen Mann warten keine Ruhmestaten, sondern Prüfungen und Entbehrungen in einem vormodernen, fremden Land voller überkommener Strukturen. In einem Anflug von Zynismus hätte der französische Kaiser sogar sagen können, dass »ein Hohenzoller auf dem spanischen Thron seine ›Rache für Sadowa‹«52 sei. Allein, der Kaiser bestimmt die Politik in der Realität nicht mehr. Die entscheidenden Kräfte sind nun andere. Neben der Kaiserin Eugénie sind dies vor allem Émile Ollivier, seit dem 2. Januar 1870 liberaler Ministerpräsident Frankreichs, und Antoine Alfred Agénor, Duc de Gramont, der konservative Außenminister. Dem Herzog von Gramont, einem backenbärtigen ›Preußenfresser‹ und Günstling der Kaiserin, fehlen alle Voraussetzungen für die Funktion eines Diplomaten. Er ist unbedacht, ungeschickt und aufbrausend. Ollivier, ein etwas zögerlicher Intellektueller mit Nickelbrille, ist von Beruf Anwalt und liberalen Prinzipien verpflichtet, mit denen er das Regime Napoleons von innen reformieren möchte. Er steht an der Spitze des ›Empire libérale‹. Außenpolitisch sucht Ollivier den Ausgleich mit Preußen. Er ist weder Teil der ›Kriegspartei‹ noch des Günstlingskreises um Kaiserin Eugénie.
Die ›Julikrise‹
Bevor Leopold den von der Regierung in Madrid angebotenen Thron übernehmen kann, muss Bismarck noch einiges an Überzeugungsarbeit leisten. Leopolds Vater Karl Anton und König Wilhelm I. von Preußen müssen ebenso wie Leopold zuvor ihre Zustimmung geben. Die Bedenken sind nicht unerheblich, ahnen sie doch auch beim dritten Anlauf die Probleme, die da kommen können. Schließlich aber willigen alle nach massivem Druck Bismarcks ein. Dass Wilhelm I. bei der ganzen Sache aber durchaus Bedenken hat, zeigt sein Einwilligungsschreiben vom 21. Juni 1870 an den Thronprätendenten Leopold: »Du hast einen Entschluß gefaßt, den Du früher, nach meiner Überzeugung vollbewußt mit Recht zurückgewiesen hattest. Jetzt findest Du die im Winter d. J. vom Minister Graf Bismarck aufgestellten politischen Ansichten für staatsmännisch berechtigt und unwiderlegbar. Wäre dies von Haus aus meine Auffassung gewesen, so würde ich nicht so entschieden Deine damalige Zurückweisung der spanischen Krone gebilligt haben.«53
Als Leopold nach langem Zögern der spanischen Regierung endlich seine Zusage macht, ist die ›Cortes‹, das Parlament in Madrid, bereits in der Sommerpause. Da aber nur die ›Cortes‹ über die Annahme des Throns durch Leopold entscheiden kann, muss sie erneut einberufen werden. Damit wird außerdem der so lange geheim gehaltene Anlass öffentlich, über den das Parlament abstimmen soll. Die am 3. Juli 1870 öffentlich gewordene Nachricht über die »spanische Bombe«54, wie sich König Wilhelm I. ausdrückt, sorgt in Paris für helle Aufregung. Zwar waren auch den französischen Diplomaten zuvor Gerüchte zugetragen worden, dass Leopold nun tatsächlich annehmen könnte. Über die beiden vorhergegangenen vergeblichen Versuche der Regierung in Madrid, Leopold als König zu gewinnen, war die französische Diplomatie von Anfang an unterrichtet. Doch als der Vorgang bekannt wird, handelt der Herzog von Gramont zielgerichtet im Sinne der ›Kriegspartei‹ am Hof, indem er die Kandidatur zu einem vermeintlichen Skandal stilisiert.
Die ›Bombe‹ platzt in eine friedliche europäische Sommeratmosphäre, die Theodor Fontane anschaulich und mit unnachahmlicher Ironie direkt zu Beginn seiner 1872 verfassten Darstellung des Krieges von 70/71 beschreibt. Theodor Fontane, aus Neuruppin stammender Journalist, Theaterkritiker und Militärschriftsteller mit hugenottischen Wurzeln und Apothekerausbildung, der später mit Gesellschaftsromanen wie ›Effi Briest‹ oder ›Frau Jenny Treibel‹ bekannt werden sollte, schreibt: »Der 1. Juli 1870 sah Europa in tiefem Frieden. Die Empfindung jedes Einzelnen hatte am Tag zuvor noch eine offizielle Bestätigung empfangen. ›Zu keiner Zeit – so etwa lauteten die Worte, mit denen der französische Minister Ollivier vor den gesetzgebenden Körper getreten war – war die Ruhe mehr gesichert, als eben jetzt; wohin man auch blicken mag, nirgends ist eine Frage zu entdecken, die Gefahr in sich bergen könnte.‹ So der Minister. Mit besondrer Genugtuung war dieses offizielle Siegel, das der Großsiegelbewahrer auf den Frieden und damit zugleich auf die Hoffnung jedes Einzelnen drückte, entgegengenommen worden und die vornehme Welt Europas, die distinguirten Träger der ›Gesellschaft‹ eilten in vollkommener Beruhigung ihren bevorzugten Rendez-vous-Plätzen, den deutschen Bädern zu.«55 Auch der preußische König ist seit dem 20. Juni schon im Kururlaub, den er wie stets in Bad Ems verbringt. Fontane schildert die Tage in Ems vor der ›Julikrise‹ als heiteres Idyll. Die oberen Tausend laben sich am heilenden Wasser und genießen die Nähe ihres Königs: »Ueber alle aber kam auf Augenblicke eine Ruhe im Gemüth, wenn die hohe Gestalt König Wilhelms, hinausragend über das Kleine und Krankhafte, grüßend an ihnen vorüberschritt. Glückliche, stille, in ihren Bildern beständig wechselnde Tage. Am Vormittage Revuen und Inspectionen auf Uebungsmärschen befindlicher Regimenter […], am Nachmittage Ouvertüren und Symphonien concertierender Kapellen, am Abend eine Theater-Vorstellung […] und dann zum Schluß ein Feuerwerk: Raketen und Tableaux, ein preußischer Adler in Brillantfeuer und die ganze Herrlichkeit wiedergespiegelt im stillen Wasser der Lahn. Nichts fröhlicher, nichts friedlicher als die Mittsommerzeit der 70er Saison im schönen Ems.«56
Inmitten dieser trügerischen Ruhe wittert Gramont die Chance, Preußen zu erniedrigen und endlich Rache für die Jahre 1866 und 1867 zu nehmen. Sollte es gelingen, Preußen als Drahtzieher hinter Leopolds Kandidatur zu entlarven und gleichzeitig durch Kriegsdrohungen einen Rückzug des Hohenzollers zu bewirken, wäre dies ein Triumph, der das Risiko eines militärischen Konflikts lohnte. Frankreich soll als beleidigte und gekränkte Nation dastehen, deren Ehre nur durch einen würdelosen Rückzug des preußischen Königs wieder herzustellen wäre. Sollte sich Preußen darauf nicht einlassen, stünde der Krieg vor der Tür, den die Bellizisten um die Kaiserin ohnehin wünschen. Gramont sieht sich so in einer Situation, in der er nur gewinnen kann. Ohne Absprache mit dem französischen Generalstab und ohne Abstimmung mit seiner Regierung, aber mit Billigung des kranken, mit Schmerzmitteln sedierten Kaisers, wird Gramont noch am 3. Juli 1870 hektisch aktiv. Baron Henri Mercier de l’Ostende, französischer Botschafter in Madrid, wird aufgefordert, sofort bei der spanischen Regierung gegen die Frankreich beleidigende Kandidatur eines Deutschen zu protestieren. An den Geschäftsträger der französischen Gesandtschaft in Berlin, Georges Le Sourd, geht der Auftrag, rasch auf die preußische Regierung einzuwirken, die Kandidatur nicht weiter zu betreiben. Frankreichs Botschafter in Berlin, Comte Vincent Benedetti, ist schon unterwegs nach Ems, um direkt mit dem König zu verhandeln. Der hagere Diplomat korsischer Herkunft hat bereits große Erfahrung im Ausland gesammelt und gilt als besonnener Mann. Ihm wird ohne eigene Schuld eine Schlüsselrolle beim Kriegsausbruch zufallen. Gleichzeitig lanciert Außenminister Gramont in führenden Zeitungen von Paris Artikel, die seine Sicht der Dinge in die Öffentlichkeit bringen und für die gewünschte Emotionalisierung