1870/71. Tobias Arand
nicht wie die Herren in Paris; wir halten uns den Kopf kühl; wir suchen keinen Händel. Aber wer Händel mit uns vom Zaun bricht, – er wird uns bereit finden zu energischer Abwehr.«89 Bezeichnet die ›Kreuzzeitung‹ einen denkbaren Krieg am 14. Juli noch als eine »Katastrophe«90, so hat sich die Haltung unter dem Eindruck der ›Emser Depesche‹ auch in Deutschland etwas gewandelt. Nun betrachtet ebenso Deutschland den Konflikt als eine Ehrensache. Am 16. Juli betont die ›Kreuzzeitung‹, »[…] daß der französische Botschafter die Regeln des diplomatischen Verkehrs dabei so weit außer Augen gesetzt hat, daß er sich nicht enthielt, den König in der Badekur zu stören, ihn auf der Promenade über die Angelegenheit zu interpellieren und ihm Erklärungen abringen zu wollen. […].«91 Einen Tag später, noch vor der offiziellen französischen Kriegserklärung, ist für die deutsche Presse die Entscheidung bereits gefallen. Die Meinung der ›Kreuzzeitung‹ steht in direktem Widerspruch zur Antwort Olliviers an Thiers in der Pariser Kammer: »Der Würfel ist geworfen – er wird fallen nach Gottes Willen Rathschluß. Frankreichs Uebermuth hat uns wirklich den Krieg erklärt – ein Krieg so ohne allen Grund, so frech hervorgerufen wie kaum irgend ein Krieg.«92
König Wilhelm reist am 15. Juli frühmorgens aus Bad Ems ab, um sich in Berlin der weiteren Entwicklung zu stellen. Am Vortag hatte er sich noch am Bahnhof des Kurorts von Benedetti verabschiedet und diesem wiederum bekräftigt, dass es nichts mehr zu besprechen gäbe. Als der preußische König in Berlin ankommt, eilen ihm schon Berichte über Benedettis Verhalten und die französischen Forderungen voraus. In Brandenburg erwarten der Kronprinz, Bismarck, Moltke und Roon ihren König, dessen Zug um Viertel vor neun abends in den Potsdamer Bahnhof einrollt. Dort besteigt er eine Kutsche und fährt von den Massen bejubelt in einer Art von Triumphzug durchs Brandenburger Tor, über die Prachtstraße ›Unter den Linden‹ zum königlichen Schloss. Ganz Berlin ist auf den Beinen. Bereits in den Bahnhöfen von Kassel, Göttingen und Magdeburg hatte der König kurze Reden vor patriotisch gesinnten Mengen halten müssen. ›Unter den Linden‹ werden Unterschriften für Petitionen an den König gesammelt, immer wieder werden das ›Preußenlied‹ und die dem König bis dahin unbekannte ›Wacht am Rhein‹ angestimmt. Mehrmals muss sich der König unter dem Jubel der Bevölkerung am Fenster zeigen. Am 16. Juli beschreibt die ›Kreuzzeitung‹ die Stimmung dieses Tages: »Die Stimmung in Berlin ist allgemein eine freudig erregte über die Abweisung, welche Sr. M. der König dem Grafen Benedetti hat angedeihen lassen.«93 Auch der Kronprinz Friedrich Wilhelm lässt die bewegten Ereignisse des 15. Juli in seinem Tagebuch Revue passieren: »Telegramm von Bismarck, er führe S. M. bis Brandenburg gleichzeitig mit Moltke und Roon entgegen; ich in Wildpark eingestiegen und mit. Bismarck unterwegs […] ruhiger Vortrag über die Situation, die immer ernster wird, so daß kaum Aussicht auf Beilegung; er sprach endlich einmal ohne Zooten [sic!] und Zynismen. S. M. sehr erstaunt, uns in Brandenburg zu finden. Bismarck wiederholt seinen vorher gehaltenen Vortrag. Bei Ankunft in Berlin Nachricht p. telegr. daß Ollivier den Krieg in einer Rede verkündet habe. S. M. will die rheinische Armeekorps zunächst mobilisieren, ich aber dringe auf Mobilisierung der gesamten Armee, Landwehr und Marine, was S. M. auf dem provisorischen Eisenb. Hof auch noch befiehlt. Begeisterter Empfang in den Straßen vor dem Palais.«94 Dem nüchternen König ist die nationale Begeisterung bei seiner Rückkehr nach Berlin hingegen eher unheimlich. Der Königin vertraut er brieflich an: »Mich erfüllt eine komplette Angst bei diesem Enthusiasmus.«95
In der Nacht vom 15. zum 16. Juli geht nicht nur die preußische Mobilmachungsordre an alle Standorte hinaus, König Wilhelm telegrafiert auch an Königin Augusta, die sich in Koblenz aufhält, und unterrichtet sie über die neueste Entwicklung. Diese praktische Frau fällt nicht in den patriotischen Jubel ein, sondern unternimmt erste, wichtige Schritte, um für die unvermeidlichen Nöte eines Krieges vorbereitet zu sein. Sie schreibt ihrem Mann am 16. Juli: »Um Mitternacht habe ich Dein Telegramm erhalten! So ist nun alles entschieden und das Verhängnis da, denn bei allem Aufschwung des Patriotismus ist das Los der Opfer des Kriegs wahrlich entsetzlich! […] Ich habe heute sofort Versammlung des hiesigen Hilfsvereins und des vaterländischen Frauenvereins. Du siehst, daß wir hier nicht untätig sind. Aber auch schon in den nächsten Tagen kann unsere Grenze überschritten sein, und die Kopflosigkeit könnte sich dann leicht einstellen.«96 Hilfsund Frauenvereine werden in ganz Deutschland in den kommenden Monaten einen großen Teil der Verwundetenversorgung übernehmen.
Augusta und Wilhelm schreiben sich täglich, wobei die Königin die politischen Ereignisse weiter meinungsfreudig kommentiert. Am 17. Juli fragt sie Wilhelm schnippisch, die Lächerlichkeit des Ganzen aber gut treffend: »Ist denn der spanische Thronkandidat von seiner anmutigen Alpenreise endlich heimgekehrt?«97
Am 19. Juli, dem Todestag der in Preußen wie eine Heilige verehrten Königin Luise, Mutter Wilhelms I., wird der Norddeutsche Reichstag versammelt. Eine von Johannes von Miquel vorbereitete Adresse des Reichstags an den König wird verabschiedet. Pathetisch heißt es dort: »Wir vertrauen auf Gott, der den blutigen Frevel straft. Von den Ufern des Meeres bis zum Fuße der Alpen hat das Volk sich auf den Ruf seiner einmütig zusammenstehenden Fürsten erhoben. Kein Opfer ist ihm zu schwer. Die öffentliche Stimme der zivilisierten Welt erkennt die Gerechtigkeit unserer Sache. Befreundete Nationen sehen in unserem Siege die Befreiung von dem auch auf ihnen lastenden Drucke Bonapartischer Herrschsucht und Sühne des auch an ihnen verübten Unrechts. Das deutsche Volk aber wird endlich auf der behaupteten Wahlstatt den von allen Völkern geachteten Boden friedlicher und freier Einigung finden. Ew. Majestät und die verbündeten deutschen Regierungen sehen uns wie unsere Brüder im Süden bereit. Es gilt unsere Ehre und unsere Freiheit.«98 Am 20. Juli bewilligt der Norddeutsche Reichstag umfangreiche Kriegskredite in Höhe von 120 000 000 Talern. Lediglich die sozialdemokratischen Abgeordneten August Bebel und Wilhelm Liebknecht enthalten sich der Stimme. Am 19. Juli war auch die offizielle Kriegserklärung Frankreichs als formal korrekter Nachklang der informellen Erklärung Olliviers vom 15. Juli in Berlin eingetroffen. In diesem von Le Sourd unterschriebenen Dokument werden wiederum alle schon bekannten Vorwürfe gebündelt. Als eigentlicher Kriegsgrund wird in gewundenen Worten die ›Emser Depesche‹ vorgeschoben. In plumper Wahrheitswidrigkeit wird der Sigmaringer Leopold auch hier noch als ›preußischer Prinz‹ bezeichnet: »Die Regierung Sr. Majestät des Kaisers der Franzosen, indem sie den Plan, einen preußischen Prinzen auf den Thron von Spanien zu erheben, nur als ein gegen die territoriale Sicherheit Frankreichs gerichtetes Unternehmen betrachten kann, hat sich in die Notwendigkeit versetzt gefunden, von S. Majestät dem König von Preußen die Versicherung zu verlangen, daß eine solche Kombination sich nicht mit seiner Zustimmung verwirklichen könnte. Da Se. Majestät der König von Preußen sich geweigert, diese Zusicherung zu erteilen, und im Gegenteil dem Botschafter Sr. Majestät des Kaisers der Franzosen bezeugt hat, daß er sich für diese Eventualität, wie für jede andere, die Möglichkeit vorzubehalten gedenke, die Umstände zu Rate zu ziehen, so hat die kaiserliche Regierung in dieser Erklärung des Königs einen Frankreich ebenso wie das allgemeine europäische Gleichgewicht bedrohenden Hintergedanken erblicken müssen. Diese Erklärung ist noch verschlimmert worden durch die den Kabinetten zugegangene Anzeige von der Weigerung, den Botschafter des Kaisers zu empfangen und auf irgendeine neue Auseinandersetzung mit ihm einzugehen. Infolgedessen hat die französische Regierung die Verpflichtung zu haben geglaubt, unverzüglich für die Verteidigung ihrer Ehre und ihrer verletzten Interessen zu sorgen, und, entschlossen zu diesem Endzweck alle durch die ihr geschaffene Lage gebotenen Maßregeln zu ergreifen, betrachtet sie sich von jetzt an als im Kriegszustande mit Preußen.«99 Betrachtet man die wilde Entschlossenheit Gramonts zu Provokation und Krieg, das Drängen der Kaiserin und Le Boeufs sowie die frühzeitige Mobilisierung, kann diese Begründung als bestenfalls unaufrichtig bezeichnet werden. Diese Zusammenhänge sind von Thiers, einem Gegner Preußens, am 15. Juli in der Pariser Kammer klar erkannt und offen benannt worden. Dieser Umstand schmälert aber nicht die Schuld Bismarcks, der mit Finten und Tricks – manche Kommentatoren halten die Redaktion des Abeken-Telegramms sogar für Verfassungsbruch durch Amtsmissbrauch – seinen alten, kriegsunwilligen König in eine Situation gebracht hat, die er unbedingt vermeiden wollte. Wilhelm ist für den Frieden sogar bereit, mit Leopolds Rückzieher eine persönliche Blamage in Kauf zu nehmen. Doch der preußische Militärapparat um Moltke und Roon will im Verein mit Bismarck den Krieg genauso wie die Protagonisten auf französischer Seite