1870/71. Tobias Arand
Grafen Charles Raymond de Saint-Vallier, Paris davon abzubringen, aus der spanischen Thronfolgefrage eine deutsche Angelegenheit zu machen, welche die süddeutschen Staaten an die Seite Preußens und dann in ein ›kleindeutsches‹ Reich zwingen müsste. Auch er wünscht eigentlich keine ›Verpreußung‹ Württembergs. Doch bald schwankt seine Haltung und er teilt Saint-Vallier seine Sorge mit, dass der preußische König Gramonts Forderungen ablehnen werde und müsse. In Absprache mit der Regierung in Bayern sieht auch er dann in der ›Julikrise‹ den ›Casus Foederis‹ gegeben. In Württemberg strömen desgleichen nun Massen auf die Straßen und fordern in nationaler Emphase den Krieg gegen Frankreich. Die 1868 gegründete ›kleindeutsch‹ und propreußisch gesinnte ›Deutsche Partei‹ organisiert agitatorische Volksversammlungen und patriotische Unterschriftensammlungen. Der ›Schwäbische Merkur‹ bearbeitet offensiv die Öffentlichkeit im Sinne Preußens. Schließlich können sich auch die ›großdeutschen‹ und demokratischen Parteien im ›Ländle‹ dem Druck der Straße nicht mehr entgegenstellen. Nach Beratungen mit Varnbühler ordnet König Karl die Mobilmachung an und die Kriegskredite werden im Stuttgarter Landtag beinahe einstimmig verabschiedet. In einem Bericht von seiner Abschiedsaudienz am Stuttgarter Hof schildert Saint-Vallier die Verbitterung des Königs und seiner Gattin Olga, die stets Wert auf gute Beziehungen zu Napoleon III. gelegt hatten. Sie ahnen das Ende der württembergischen Freiheit. Die beiden Monarchen fühlen sich von Preußen hintergangen, von Volk und Regierung verlassen. Unter Tränen versichern Karl und Olga ihren Schmerz, nun Partei für Preußen und gegen Napoleon ergreifen zu müssen. Man scheint in Stuttgart nicht vergessen zu haben, dass es Napoleon I. war, der 1806 den Herzog Friedrich von Württemberg, Karls Großvater, erst zum Kurfürsten und dann zum König erhoben hat.
Mit Baden ist das Herrscherhaus Preußen seit dessen Hilfe bei der endgültigen Niederschlagung der Revolution im Jahr 1849 deutlich mehr verbunden als mit Württemberg. Die direkte Grenzlage zu Frankreich lässt in Baden zudem rasch Ängste vor einem französischen Überfall wach werden. So ist man während der ›Julikrise‹ in Karlsruhe einerseits geneigt, Frankreich nicht zu provozieren, erkennt aber an, dass im Kriegsfall nur an der Seite Preußens Schutz gegen Frankreich erwartet werden kann. Am 15. Juli ergeht auch in Baden der Mobilmachungsbescheid an die Dienststellen, am 21. Juli wird formell die Kriegsteilnahme beschlossen. Wie in Württemberg, sehen auch die Badener in Napoleon einen Aggressor, den sie in einer Mischung aus Empörung, banger Erwartung und patriotischer Begeisterung bekämpfen wollen. Die Warnung des unbedachten Gramont gegenüber dem bayerischen Gesandten, dass man das Großherzogtum Baden, das doch »nicht mehr als eine Zweigstelle Berlins« sei, auch auflösen könne, wird viele Badener nicht gerade für Frankreich eingenommen haben.
Im Großherzogtum Hessen hat man die Annexionen Nassaus, Kurhessen und Frankfurts sowenig wie die eigenen Abtretungen an Preußen vergessen. Reinhard Carl Friedrich Freiherr Dalwigk zu Lichtenfels, großherzoglicher Ministerpräsident, betreibt nach 1866 eine radikale und durchaus intrigant zu nennende Politik gegen Preußen. Das Großherzogtum, das, wie an anderer Stelle schon erwähnt, nur mit dem nördlichen Teil dem ›Norddeutschen Bund‹ angehört, soll nach Dalwigks Willen Teil einer französisch-österreichischen Allianz werden. 1868 bietet er der französischen Regierung bei einem Besuch der Weltausstellung sogar an, mit einem Beitritt des südlichen Teils des Großherzogtums zum ›Norddeutschen Bund‹ Frankreich einen Kriegsgrund gegen das verhasste Preußen konstruieren zu können. Im Windschatten eines solchen Krieges erhofft sich Dalwigk wohl die völlige Wiedererlangung der hessischen Freiheit. Auch die preußisch-hessische Militärkonvention von 1867, durch welche die großherzoglichen Truppen in die preußische Armee eingegliedert wurden, und den Abschluss des ›Schutz- und Trutzbündnissses‹ versucht Dalwigk 1867, nach Kräften zu unterlaufen. In der ›Julikrise‹ jedoch kann selbst Dalwigk nicht verhindern, dass die großherzoglich-hessischen Truppen als Teil der 2. deutschen Armee in den Krieg gegen Frankreich ziehen müssen.
So steht nun ganz Deutschland gegen Frankreich im Feld. Mit Bayern, Württemberg und Baden stehen jetzt drei Länder an der Seite Preußens und der norddeutschen Länder zum Kampf gegen Frankreich bereit, die nur vier Jahre zuvor noch Feinde der Hohenzollern waren. Es fällt nicht schwer, hier ein völliges Versagen der französischen Diplomatie festzustellen, die selbst Warnungen aus den süddeutschen Ländern vor einer solchen Entwicklung in den Wind geschlagen hatte. Der französische Historiker Albert Sorel schildert bereits 1875 in einer Untersuchung der diplomatischen Vorgeschichte des Krieges Gramont als ›einzigartig unfähig und kurzsichtig‹113, verlässt er sich doch vollkommen auf mehr als unsichere Annahmen. Man könnte hinzufügen, dass Gramont mit seiner ganzen Politik im Vorfeld des Krieges indirekt zum ›Geburtshelfer‹ der vereinten deutschen Nation wurde.
Betrachtet man Gramonts Verhalten vom Ergebnis seiner Bemühungen her, ist Sorels Darstellung nachvollziehbar. Auch wenn es aus Sicht der Pariser Kriegspartei logisch gewesen sein mag, einen Konflikt vom Zaun zu brechen – sei es um das Kaisertum zu retten, sei es um liberale Reformen rückgängig zu machen –, muss man sich wundern, dass Gramont diesen Krieg unter derart ungünstigen Voraussetzungen herbeiführt. Schließlich steht Frankreich ohne Verbündete gegen das ganze, national erregte Deutschland. Dazu kommt, dass auch die öffentliche Meinung in ganz Europa gegen Frankreich steht – so, wie es Adolphe Thiers am 15. Juli in der Pariser Kammer richtig vorausgesehen hatte. Am 17. Juli schreibt zum Beispiel die Zeitung ›The Daily News‹ aus London: »Von französischer Seite ist der Krieg nur Ehrsucht und Angriff, der scheußliche Kommentar der Zeit zu der großartigen Prahlerei, daß das Kaiserreich der Frieden [sei]. Der Kaiser möchte seinem Oheim nacheifern und sein Reich bis an den Rhein ausdehnen: wir können nur hoffen, daß er seines Oheims Missgeschick erleben und seine missbrauchte Gewalt in seinen blutbefleckten Händen zerplatzen sehen werde. Der 15. Juli 1870 wird in der Geschichte als ein Tag eines großen Verbrechens verzeichnet stehen.«114
Auch alle Versuche Gramonts, Verbündete zu gewinnen, sind bei Ausbruch des Krieges gescheitert. Nur unter der reichlich überheblichen Annahme, selbst ohne Verbündete gegen Deutschland bestehen zu können, da die französische Armee unbesiegbar sei, konnten Gramont, Ollivier, der Kaiser, die Kaiserin und Le Boeuf dieses Risiko eingehen. Oder glaubte man in Frankreich, Österreich und Italien kämen zur Hilfe? Mit Österreich und Italien hatte es in den Jahren 1868 und 1869 Gespräche über Bündnisverträge gegeben, die zu den sogenannten ›Monarchenbriefen‹ führten. Eine vertraglich abgesicherte Entente besteht im Jahr 1870 zwischen den Ländern jedoch nicht, obgleich ein österreichisch-französischer Bündnisvertrag im Mai 1869 vorlag, der aber nicht unterschrieben wurde. Die ›Monarchenbriefe‹ des Kaisers Franz Joseph I. von Österreich und des Königs Vittorio Emanuele II. von Italien sagen Frankreich lediglich zu, keine Verhandlungen mit Dritten zu führen, ohne zuvor Frankreichs Einverständnis eingeholt zu haben. Napoleon sieht seltsamerweise in diesen Briefen den Ausdruck einer moralischen Verpflichtung zum Beistand im Kriegsfalle – eine Sichtweise, die allerdings in Florenz – bis 1871 Hauptstadt Italiens – und Wien nicht geteilt wird. Dieses Missverständnis der Pariser Regierung ist eine Ursache für den Beschluss der ›Konfliktstrategie‹ im Ministerrat des 6. Juli 1870. Als es dann spät zu konkreten Verhandlungen mit Italien und Österreich über Bündnisse kommt, scheitern diese an übertriebenen Forderungen, Eigensüchtigkeiten, Arroganz und kommunikativer Unfähigkeit. Albert Sorel urteilt als Historiker und Zeitgenosse 1875 streng über Gramonts Fehler, alle Pläne von der ungewissen Bereitschaft Italiens und Österreichs zum Eingreifen abhängig zu machen, wenn diese erst von den raschen französischen Erfolgen überwältigt sein würden: »So ruhten alle Schlüsse des Herzogs von Gramont einzig auf seinem absoluten Vertrauen in die Überlegenheit der französischen Armee.«115 Von diesem Vertrauen, das Schicksal einer ganzen Nation abhängig gemacht zu haben, erscheint Sorel als fahrlässig.
Italien wünscht ein Durchmarschrecht durch Österreich, um in Bayern einfallen zu können. Österreich verweigert dies. Von Frankreich strebt Italien als Gegenleistung für die militärische Hilfe das Ende des französischen Schutzes für Rom und den Papst an. Rom soll an Italien angegliedert und endlich ›Capitale‹ werden. In Frankreich ist man jedoch der Meinung, Italien stehe seit 1859 in französischer Schuld und verweigert das Geschäft in der gewünschten Form. Desgleichen wünscht man in Paris keinen Ärger mit der katholischen Kirche, die schließlich einen Hauptpfeiler im System des Second Empire bildet. Gramont glaubt,