1870/71. Tobias Arand
1870. Bismarcks Änderungen und Kürzungen führen zu einer keineswegs fehlerhaften Darstellung, er spitzt die Ereignisse allerdings in einer Weise zu, die bewusst provokant angelegt ist. Im Mittelpunkt steht nun die königliche Weigerung, Benedetti erneut zu treffen und weitere Garantien abzugeben: »Nachdem die Nachrichten von der Entsagung des Erbprinzen von Hohenzollern der Kaiserlich Französischen Regierung von der Königl. Spanischen amtlich mitgetheilt worden sind, hat der Französische Botschafter in Ems an S. Maj. den König noch die Forderung gestellt, ihn zu autorisiren, daß er nach Paris telegraphire, daß S. Maj. der König sich verpflichte, niemals wieder Zustimmung zu geben, wenn die Hohenzollern auf ihre Kandidatur wieder zurückkommen sollten. Seine Maj. der König hat es darauf abgelehnt, den Franz. Botschafter nochmals zu empfangen, und demselben durch den Adjutanten vom Dienst sagen lassen, daß S. Majestät dem Botschafter nichts weiter mitzutheilen habe.«81 In dieser Version der Ereignisse steht Benedetti wie ein begossener Pudel da, ohne Garantie, vom König stehen gelassen. In der späteren Zeugenschaft Bismarcks soll Moltke nach Lektüre des redigierten Telegramms gesagt haben: »So hat das einen anderen Klang, vorher klang es wie Chamade82, jetzt wie eine Fanfare in Antwort auf eine Herausforderung.«83
Die erste Zeitung in Frankreich, die Bismarcks Version des Telegramms veröffentlicht, ist der ›Soir‹, der für seine Sensations- und Skandalmeldungen bekannt ist. Der ›Soir‹ bringt die ›Emser Depesche‹ am 14. Juli um 18.30 Uhr. Allerdings bleibt die Wirkung zuerst bescheiden, da Bismarck nicht eindeutig als Urheber benannt wird. Eine erhebliche Steigerung der ohnehin großen öffentlichen Erregung ist durch die ›Emser Depesche‹ jedenfalls nicht nachzuweisen. Bedeutsamer ist die Depesche für die Gespräche des französischen Ministerrats, die ebenfalls am 14. Juli stattfinden. Hier haben alle Beteiligten die Darstellung in der ›Norddeutschen Allgemeinen Zeitung‹ vor Augen. Der 14. Juli, ohnehin als Tag des ›Sturms auf die Bastille‹ von 1789 symbolhaft aufgeladen, verläuft in Paris wechselhaft.
Der Ministerrat, der sich am 14. Juli mittags unter Vorsitz des Kaisers in den Tuilerien trifft, steht unter dem Druck der von Gramont entfesselten öffentlichen Meinung. Vor der Deputiertenkammer und den Ministerien tobt die erregte Meute. Nicht alle Minister sind mit Gramonts Forderungen nach Garantien einverstanden, umso mehr als der forsche Herzog sie nicht zuvor um Rat gefragt hat. Bereits am Vortag hat es erregte Diskussionen unter den Ministern wegen dieser Frage gegeben. Ollivier versucht, die Emotionen zu glätten. Kriegsminister Edmond Le Boeuf, ein vollbärtiger Held aus den Kriegen gegen Russland und Österreich, hingegen drängt zur Eile und fürchtet jede Verzögerung bei der bereits begonnenen Mobilisation. Der Kaiser, von akuten Blasenkoliken geschwächt, wünscht keinen Krieg, sondern schlägt eine internationale Konferenz zur Beilegung des Konflikts vor. Nach der ersten Sitzung des Ministerrats wird dieser Vorschlag angenommen. Am Abend wird der Ministerrat jedoch erneut zusammengerufen. In der Zwischenzeit haben Eugénie und der aufgebrachte Le Boeuf auf den Kaiser eingewirkt. Kaiserin Eugénie äußert sich später über ihre Rolle: »Zurückweichen, mit sich reden lassen, wir konnten es nicht; das ganze Land wäre wider uns aufgestanden. […] Wir konnten das Kaiserreich keinem zweiten Sadowa aussetzen, es hätte das nicht mehr ausgehalten.«84 Der Kaiser lässt nun die Idee einer Konferenz fallen, stattdessen wird nach Le Boeufs Drängen beschlossen, die Reserve zu mobilisieren, was schon beinahe eine Kriegserklärung bedeutet. Der Kriegsminister möchte sich seinen kommoden Vorsprung in den militärischen Vorbereitungen vor den noch untätigen Preußen nicht nehmen lassen. Dazu kommt im Ministerrat die, wie sich zeigen wird, völlig überzogene Vorstellung, über eine ohnehin unschlagbare Armee zu verfügen und so ein überschaubares Risiko einzugehen. Am nächsten Tag soll die Kammer einberufen werden, die über die offizielle Kriegserklärung entscheiden muss. Ollivier wird dort die Absicht des Ministerrats erklären und um Zustimmung und die Gewährung der Kriegskredite bitten.
Auch an diesem Tag ist die Stimmung in Paris aufgeheizt, wie Theodor Fontane beschreibt: »Mit verschwindenden Ausnahmen (einige Jünger der Internationale und der europäischen Friedensliga trugen rothe Laternen und wagten den lebensgefährlichen Ruf ›Vive la Prusse‹) war Paris einem chauvinistischen Rausch hingegeben. Zahllose Banden, von denen manche über tausend Köpfe stark waren, oft von Soldaten geführt und mit der dreifarbigen Fahne vorauf, durchzogen unter dem beständigen Rufen: ›Es lebe der Krieg! Nieder mit Bismarck!‹ die Straßen; andere Tausende, die ihnen begegneten, schlossen sich an, klatschten Beifall oder stimmten in die Marseillaise mit ein. Die Polizei ließ Alles gewähren. […] dann wurden Fackeln herbeigeholt, Andere zündeten Straßenbesen an, und diese schwingend und in die Bäume schleudernd (so daß einige Boulevard-Platanen an zu brennen fingen) kehrten die Trunkenen mit dem Morgengrauen heim.«85 In der Pariser Deputiertenkammer geht es ähnlich erregt zu. Keineswegs alle Abgeordneten sehen im Emser Vorgang einen Kriegsgrund. Ollivier gerät in eine heftige Debatte, in der vor allem Politiker der Linken scharfe Kritik an der Regierung üben. Die deutlichste Rede, immer wieder unterbrochen von stürmischen Zwischenrufen, führt jedoch kein Linker, sondern Adolphe Thiers. Der gelernte Historiker ist sicher einer der interessantesten und ambivalentesten französischen Politiker seiner Zeit. Auf der einen Seite konservativ-katholisch, Gegner des allgemeinen Wahlrechts und der Linken, Monarchist, auf der anderen Seite bis 1863 als Gegner Napoleons III. im Exil, danach Führer der liberalen Opposition, ist Thiers politisch nur schwer zu greifen. In der Kammer erklärt er, dass dieser Krieg aus den falschen Gründen geführt und ohne Rückhalt in Europa in einem Desaster für Frankreich enden werde: »Sie hatten die Hauptsache erreicht, und ein bedeutender moralischer Eindruck war erreicht. Aber, sagt man, die Kandidatur war nicht auf alle Zeiten beseitigt. Ich lege Berufung an den gesunden Menschenverstand und an das, was auf der Hand liegt: Sie werden in einigen Tagen das Urteil der ganzen Welt über ihre Politik vor Augen haben, Sie werden es in allen Blättern lesen. […] Ich sage also: es ist eine beklagenswerte Sache, daß, da die Interessen Frankreichs gesichert waren, man durch Aufreizung im Lande den Krieg unvermeidlich gemacht hat (Lärm). Man hat sich in Etikettenfragen gestürzt und der Stolz der beiden Länder ist aufeinander gestoßen. Ich will diese Tribüne nicht verlassen unter der Ermüdung, die Sie mir verursachen, indem Sie mich nicht hören wollen. Ich habe jedoch bewiesen, daß die Interessen Frankreichs sichergestellt waren und daß Sie Empfindungen geschaffen haben, woraus der Krieg hervorgegangen ist. Das ist ihr Fehler (Lärm).«86 Ollivier antwortet Thiers nur knapp: »Wir haben stets die Leiden, welche ein Krieg mit sich bringt, vor Augen gehabt, auch halten wir diejenigen für strafbar, die das Land in Abenteuer stürzen. Aber wir erklären, daß, wenn jemals ein Krieg notwendig war, so ist es der Krieg, zu welchem uns Preußen zwingt.«87 Damit ist der Krieg zwar noch nicht auf dem Papier, aber faktisch erklärt. Die Regierung gewinnt die Abstimmung über die Kriegskredite mit 245 gegen zehn Stimmen. Auch der Senat stimmt für den Krieg. Am 16. Juli vermeldet eine Delegation der gesetzgebenden Kammer und des Senats dem in seinem Schloss St. Cloud bei Paris weilenden Kaiser das Ergebnis. Napoleon dankt in einer Rede voller Selbstbetrug und Pathos: »Ich empfinde eine hohe Befriedigung am Vorabend meines Abgangs zur Armee, Ihnen für die patriotische Unterstützung, welche Sie meiner Regierung gewährt haben, zu danken. Ein Krieg ist legitim, wenn er mit der Zustimmung des Landes und der Bewilligung seiner Vertreter geführt wird. Sie haben recht, an die Worte Montesquieus zu erinnern: ›Der wahre Urheber des Krieges ist nicht der, welcher ihn erklärt, sondern der, welcher ihn notwendig macht.‹ Wir haben alles, was von uns abhing, getan, um ihn zu vermeiden, und ich kann sagen, daß es das ganze Volk ist, welches unter seinem unwiderstehlichen Drange unsere Beschlüsse diktiert hat. […] Entschlossen, mit Tatkraft die große mir anvertraute Mission zu erfüllen, habe ich den Glauben an den Erfolg unserer Waffen, denn ich weiß, daß Frankreich hinter mir steht und daß Gott Frankreich beschützt.«88 Doch anders als er es den Deputierten mitteilt, ist Napoleon weder tatkräftig noch vom Erfolg des Krieges überzeugt. Er weiß, dass eine Niederlage das Ende seiner Herrschaft bedeutet. Von schweren Koliken geplagt, kann sich der bedauernswerte Kaiser kaum aufrecht halten. Schmerzmittel rauben ihm die geistige Klarheit, die er gerade jetzt dringend benötigt und eine peinliche Blasenschwäche wird durch in seine Uniformhose gestopfte Servietten für jeden sichtbar. Dieser Kaiser hat keine Ausstrahlung und keine Autorität mehr. Zudem haben die jahrelange Günstlingswirtschaft und Korruption verhindert, dass er jetzt von wirklich fähigen Leuten beraten werden kann.
In den Tagen der sich verschärfenden Krise beginnt auch die deutsche Presse,