Stillerthal. Martina Simonis
keine Angst, ich tue dir nichts. Ich habe dich gefunden und in mein Haus getragen. Hier droht dir keine Gefahr.»
Der Mann hatte schwarzes Haar, einen kurzen Bart und einen ruhigen, vertrauenerweckenden Blick. Sie entspannte sich. Mühsam bewegte sie die Lippen, suchte nach dem richtigen Wort für die eine Frage, die irgendwie wichtig erschien.
«Wo?»
«Du bist in Fehrin. In Stillerthal. Mein Name ist Matthis und das hier ist der Matthishof.»
Sie schlug kurz die Augen nieder, um anzudeuten, dass sie verstanden hatte. Dann glitt sie in den alten Dämmerzustand zurück.
So blieb es. Wann immer sie aus schwerem Schlaf erwachte, sah sie das Zimmer, die Dinge, das Licht, das durchs Fenster fiel. Doch jedes Erwachen brachte neue Bilder. Sie sah den mit grauen Steinplatten ausgelegten Boden, das raue Holz der Wände, die mit Moos ausgestopften Fugen. Sie sah den Ausguss neben der sauber gemauerten Kochstelle und den rußgeschwärzten Kamin. Und immer wieder den Mann, der kam, beruhigend sprach und Suppe oder Tee brachte. Sie bemerkte die schwarznarbigen Punkte in seinem Gesicht, die feinen Falten rund um die Augen, die schwieligen Hände, denen man ansah, dass sie schon viel gearbeitet hatten. Manchmal kam ein Knabe. Schüchtern träufelte er ihr Tee oder Suppe in den halb geöffneten Mund.
Doch die Bilder hatten nichts mit ihr zu tun. Sie kamen und gingen, so als würden sie mit jedem Erwachen von Neuem zum Leben erweckt, um danach wieder in die Finsternis zu entschwinden, der sie entstammten.
Seit sie aus ihrer Bewusstlosigkeit erwacht war, hatte sie, außer dieser einen kurzen Frage nach dem Wo, kein Wort gesprochen. Meist lag sie im Bett, die Augen starr an die Decke gerichtet, nur manchmal, wenn Matthis oder Vince im Raum waren, beobachtete sie, was sie taten. Das Gestern war ein schwarzes Loch, das Morgen existierte nicht. Sie lebte in einer Zwischenwelt ohne Vergangenheit und Zukunft, nur von der kurzen Zeitspanne der Gegenwart umfangen.
Sie wäre gern immer in dieser Welt geblieben. Aber eines Tages kam ein verstörendes Gefühl hinzu, das alles änderte. Sie fühlte ein vages Ich. Ein Ich, das litt, weil es spürte, dass es schwach und krank war. Ein Ich, das litt, weil es nicht wusste, wer es war. Ein Ich, das plötzlich Scham empfand, das die Augen schloss und den Kopf zur Wand drehte, wenn der Mann sie wusch oder die Windeln wechselte.
Der Mann schien die Veränderung zu merken. Er hängte einen Vorhang auf, mit dem er ihren Alkoven vom Rest der Stube abtrennte, wenn er sie wusch. Manchmal erzählte er. Vom Leben auf dem Hof, von den Kühen, vom Wetter. Jeden Tag erzählte er, mit leiser, unaufdringlicher Stimme. Ruhig, so als gäbe es nichts Selbstverständlicheres als ihr namenloses Ich, das stumm und ausgezehrt in seinem Alkoven lag.
Seine Pflege zahlte sich aus. Das Fieber wich, die Schmerzen vergingen. Ihr Körper gesundete. Nicht jedoch ihr Geist. Sie hatte ihren Körper zurückbekommen, aber sie konnte ihn nicht füllen. Noch immer lag ein schwarzer Vorhang zwischen ihr und der Person, die sie früher war. Bis der Tag kam, der alles änderte.
Wie jeder Tag begann auch dieser mit fahlem Dämmerlicht, das durch die Fenster ins Zimmer fiel. Aber das Licht war anders. Weißer, heller, kälter. Schneeflocken fielen dicht an dicht und bedeckten das Land jenseits der Stube. Mit dem Schnee fiel der Vorhang. Die Tür zu ihrer Vergangenheit, die so lange verschlossen war, öffnete sich und gab die Bilder frei. Wer sie war, woher sie war. Was sie hierher geführt hatte.
Ein dumpfer Schrei entrang sich ihrer Brust. Sie richtete sich in ihrem Alkoven auf, schob die Decke beiseite und setzte erst den einen, dann den anderen Fuß auf den Boden. Es dauerte kläglich lange, bis sie aus dem Bett geklettert war, aber es gelang. Als sie kniend vor dem Alkoven hockte, streckte sie den gesunden rechten Arm aus, griff nach dem Bettkasten und zog sich hoch. Sie atmete schwer, hielt sich am Vorhang fest. Dann der erste Schritt, der zweite. Taumelnd tastete sie sich an der Wand entlang in Richtung Fenster. Endlich war sie da. Sie presste die Stirn an die kalte Fensterscheibe und sah hinaus. Aber sie sah nicht den Schnee, der vor dem Fenster tanzte. Sie sah, was dahinter war. Was verloren war. Für immer. Als sie es nicht mehr ertrug, schloss sie die Augen und spürte der Kühle des Fensters auf ihrer warmen Haut nach. Dann drehte sie sich um und tastete sich zum Küchentisch vor. Auf dem Küchentisch stand ein Messerblock. Sie zog ein Messer nach dem anderen heraus und prüfte ihre Schärfe. Endlich fand sie eines, mit dem sie zufrieden war. Mit dem Messer in der Hand ging sie zum Kamin und ließ sich vorsichtig nieder. Die Klinge blitzte im Licht der lodernden Flammen. Sie beugte den Kopf, hob das Messer und begann, sich das Haar abzurasieren. Locke für Locke ihres goldfarbenen Haares fiel auf den Boden, bis es aussah, als säße sie in einem Bett aus Stroh. Als sie ihr Werk vollendet hatte, legte sie das Messer behutsam neben sich auf den Boden. Ihr kahler, geröteter Schädel schimmerte im Feuerschein. Dann warf sie Büschel für Büschel des Haares ins Feuer. Lodernd und dampfend ging ihre Vergangenheit in Flammen auf.
Matthis beobachtete die Fremde, die am Tisch saß und die Hühnerbrühe löffelte, die er zubereitet hatte. Langsam und konzentriert führte sie jeden einzelnen Löffel zum Mund, sorgsam darauf bedacht, das Zittern der noch schwachen Hand unter Kontrolle zu halten. Man sah ihr die schwere Erkrankung an. Der Körper war dürr und ausgemergelt, die Wangen eingefallen, die Haut blass wie eine gekalkte Wand. Aber schon jetzt sah man ihre einstige Schönheit durch das Leiden hindurchschimmern. Die großen Augen, die ausgeprägten Wangenknochen. Das Tuch seiner Mutter, das er ihr gegeben hatte, trug sie wie eine Krone um den Kopf geschlungen.
Auf seine Frage, wie sie heiße, hatte sie «Lele» geantwortet. Matthis hielt sich daran.
«Gibt es einen Ort zu dem ich dich bringen kann, Lele?», fragte er. «Freunde? Ein Zuhause?»
Der Löffel der Fremden verharrte auf halbem Wege. Sie sah kurz auf.
«Ich komme nirgendwoher und ich kann nirgendwohin», sagte sie. Dann richtete sie ihren Blick wieder auf den Löffel und führte ihn schweigend zum Mund.
Matthis verstand, was das bedeutete. Es war die Bitte um Asyl. Er nickte langsam.
«Also gut. Du kannst hier bleiben. Ich werde mir etwas überlegen.»
Als die Fremde mit Essen fertig war, räumte er den Teller ab, wischte den Tisch sauber, legte ein sauberes Tuch auf und holte sein Wundmesser. Lele sah ihn fragend an.
«Es ist Zeit, den Verband abzumachen», erklärte Matthis. «Der Arm muss bewegt werden, sonst versteift er.»
Sie rollte den Ärmel des alten Männerhemdes, das ihr Matthis gegeben hatte, hoch und legte den Arm auf den Tisch. Vorsichtig schnitt Matthis mit dem Messer die Schnüre des Rindenverbands auf. Der Arm darunter war dünn wie Reisig. Über die gesamte Länge zog sich eine wulstige rote Narbe. Dort, wo Matthis viel Fleisch hatte wegschneiden müssen, wölbte sich die Narbe nach innen, und in der Ellenbogenbeuge war die Haut so auf Zug gewachsen, dass es aussah, als würde sie beim geringsten Versuch, den Arm durchzustrecken, reißen.
Matthis blickte unglücklich auf den verunstalteten Arm.
«Es tut mir leid», sagte er. «Ich …»
Lele unterbrach ihn fast grob.
«Schweig, Matthis. Ich lebe und ich habe noch beide Arme. Mehr wäre …» Sie stockte, strich vorsichtig mit ihrer rechten Hand über das vernarbte Gewebe. «Mehr wäre unangemessen. Dieser Arm wird mich immer daran erinnern, wer ich war.»
Matthis sagte nichts. Die Frage «Wer warst du?» blieb ungestellt. Er wusste, sie hätte ihm nicht geantwortet. Nach einer kurzen Zeit des Schweigens räusperte er sich.
«Außer Vince weiß keiner, dass du hier bist. Ich denke, es ist am besten, wenn es so bleibt. Vinces Zeit als Kuhbub endet mit dem elften Mond, dann muss er nach Hause zurück, aber er wird nichts erzählen. Im Winter ist der Matthishof eingeschneit, da kommt keiner aus dem Dorf hier rauf. Doch um den dritten Mond beginnt die Schneeschmelze, dann wird sich deine Anwesenheit nicht länger geheim halten lassen. Daher habe ich mir etwas überlegt. Sobald die Straße befahrbar ist, könnte ich mir Lundis’ Ochsenkarren ausborgen und ins Tal reisen. Ich tue das hin und wieder, um