Stillerthal. Martina Simonis
Lele sagte nicht sofort etwas. Nachdenklich schaute sie ihn an.
«Das wird nicht gehen, Matthis. Es würde Gerede geben.»
«Natürlich wird es Gerede geben. Du siehst anders aus als wir hier. Aber irgendwann hat dich jeder gesehen und der Tratsch wird aufhören.
«Ich meine nicht diese Art von Gerede, Matthis. Ich spreche von einer anderen Art Gerede. Ich erwarte ein Kind.»
Matthis zuckte leicht zusammen.
«Verstehe. Nein, dann geht das nicht.»
Er schaute auf seine Hände hinunter.
«Ich … ich könnte dich als meine Frau ausgeben. Nur nach außen natürlich. Ich … würde nichts verlangen, keine Ansprüche erheben. Aber unter den Umständen … wäre es vielleicht das … Unauffälligste?»
Lele nickte.
«Ja, machen wir es so!»
Nie vergaß sie diesen ersten Winter. Sie war ein verletztes Tier, der Matthishof war ihr Bau. In der Stille und Abgeschiedenheit des Bergbauernhofes fand sie die Zuflucht, die sie brauchte, um zu genesen.
Es war ein langer und schwerer Weg zurück in ihren geschändeten Körper. Anfangs saß sie nur da und schaute hinaus auf den fallenden Schnee. Ihr schien, als ob ihr Körper selbst sich die Fessel der Reglosigkeit auferlegt hatte, als hoffte er, in der Ruhe der Glieder die Ruhe der Gedanken zu erzwingen. Doch irgendwann löste sich die Erstarrung und sie begann, sich kleine Aufgaben zu setzen. Erste Gänge vom Alkoven zum Stuhl, vom Stuhl zum Vorhang, von dort zum Alkoven zurück. Aber immer blieb sie in der Stube.
Matthis ließ sie gewähren. Er verlangte nichts, gab keine Ratschläge. Er war einfach da und ging seiner Arbeit nach. Stand früh auf und molk die Kühe, dann folgte die Arbeit in der Käserei, dann die Hühner. Manchmal war über Nacht so viel Schnee gefallen, dass er zuerst die Wege freischaufeln musste. Mittags stampfte er Butter, buk Brote, kochte, stellte seine Eutersalbe her. Abends saß er in der Stube und reparierte Werkzeug oder stopfte seine Hemden. Manchmal fragte sie ihn nach seiner Arbeit, dann erklärte er geduldig.
Schließlich kam der Tag, an dem sie beschloss, dass es Zeit sei, sich nützlich zu machen. Sie ließ sich von Matthis Arbeiten im Haus zuweisen. Sie schnitt Zwiebeln, schälte Erdäpfel, legte Brennholz nach. Anfangs waren selbst diese einfachen Tätigkeiten anstrengend, manchmal schlief sie vor Erschöpfung mitten in der Arbeit ein. Meist erwachte sie nicht einmal, wenn Matthis ihr die Schüssel mit den Erdäpfeln aus der Hand zog, um sie selbst zu Ende zu schälen. Auch verweigerte ihr versehrter Arm immer wieder den Dienst. Er blieb schlaff, wenn er fest zugreifen sollte oder zog sich plötzlich krampfartig zusammen. Einiges fiel zu Boden, manches ging zu Bruch. Sie war dankbar, dass Matthis kein Wort über die zerborstenen Schalen verlor. Mit zusammengebissenen Zähnen kehrte sie die Scherben auf und machte weiter.
Als sie sich stärker fühlte, bat sie Matthis eines Nachmittags, ihr den Hof zu zeigen. Mit klopfendem Herzen folgte sie ihm hinaus auf die tief verschneite Lichtung, die den Matthishof umgab. Es war eine beruhigend überschaubare und begrenzte Welt. Der Himmel hing tief, aus grauen Wolken fiel feiner Schnee. Ringsumher war schützender Waldsaum, die Äste der Lärchen und Kiefern beugten sich unter ihrer weißen Last. Und inmitten der verschneiten Wiesen mehrere geduckte kleine Holzgebäude. Das war der Matthishof.
Je kräftiger Lele wurde, desto mehr traute sie sich zu. Sie fragte Matthis, ob sie ihm im Stall oder beim Verkäsen der Milch helfen könnte. Matthis zuckte zuerst mit den Schultern und schüttelte den Kopf, aber am nächsten Tag nahm er sie morgens mit in den Stall. Interessiert sah sie zu, wie Matthis die Kühe mit etwas Salz begrüßte, fütterte, molk und den Stall ausmistete. Wie er Lab in die Milch gab, um das Kasein zu trennen, das dann in großen Netzen aus der Molke gehievt, in Formen gefüllt und gepresst wurde. Beschämt musste sie sich eingestehen, dass all diese Arbeiten zu schwer für ihren entkräfteten Körper waren. Anfangs hatte sie gehofft, Matthis zumindest beim Melken helfen zu können. Aber ihr versehrter linker Arm erlaubte kein gefühlvolles Arbeiten. Die Kühe lernten schnell ihren harten Griff fürchten und muhten, sobald sie den Stall betrat. So ließ sie es wieder sein und übernahm stattdessen das Füttern der Hühner.
Es bedrückte sie, wie wenig sie helfen konnte. Als die Schneeschmelze einsetzte und die Schneeberge in sich zusammensanken und begehbar wurden, beschloss sie, Matthis auf ihre Art etwas zurückzugeben. Nachdem sie die Hühner gefüttert hatte, ging sie im frühen Dämmerlicht in den nahen Wald. Bald fand sie, was sie suchte. Auf einer kleinen Lichtung stand eine alte Birke, deren Rinde sich an zahlreichen Stellen löste. Sie zog einige Rindenstücke ab und nahm sie mit nach Hause. Nach dem Wässern glättete sie die Rindenstücke zu dünnen, weißen Rindenblättern. Auf dem Herd kochte sie aus Ruß, Harz und Wasser Tinte, im Heuschober fand sie einen geeigneten Strohhalm, den sie sich als Feder zurechtschnitt. Mit diesen Utensilien setzte sie sich in die Stube und machte Notizen.
Matthis kam herein und blieb wie angewurzelt stehen, als er ihr Tun sah.
«Was tust du?», rief er. Es hätte nicht viel gefehlt und er hätte ihr die Dinge aus der Hand gerissen.
Sie sah erstaunt auf.
«Ich schreibe das Rezept deiner Eutersalbe auf.»
«Aber das ist … Schrift!»
«Natürlich ist das Schrift, was sonst?»
«Aber Schrift ist … von Übel!»
Lele blickte Matthis verständnislos an.
«Warum soll Schrift von Übel sein?»
«Schrift kann lügen. Lügen, die mit der Schrift festgehalten werden, vergehen nicht wie das gesprochene Wort. Sie bleiben bestehen und wirken fort.»
Lele überlegte einen Moment, dann antwortete sie ihm mit großer Ernsthaftigkeit.
«Was du sagst, stimmt. Schrift kann lügen und es ist schrecklich, wenn sie es tut. Aber kann das gesprochene Wort nicht auch lügen? Gibt es nicht Lügen, die in Form von mündlichen Traditionen und Vorurteilen von Generation zu Generation weitergegeben werden und unser Leben vergiften? Nicht die Schrift ist das Übel, sondern die Lüge. Schrift selbst ist etwas Wunderbares. Du hast selbst gesagt, wie schade es ist, dass mit dem Tod deiner Mutter so viel von ihrem Wissen verloren ging. Hätte sie es aufgeschrieben, wäre es jetzt noch verfügbar.»
Matthis’ Augen wanderten verunsichert zwischen ihr und den Schreibutensilien auf dem Tisch hin und her. Schließlich nickte er.
«Fahre fort!» Er schaute an ihr vorbei, als er das sagte und ging schnell aus dem Raum.
Traurig sah sie ihm nach. Ohne es zu wollen, hatte er sie wieder an das erinnert, was sie war. Eine Fremde in einem fremden Land.
Gegen Ende des dritten Mondes waren die Wege soweit befahrbar, dass Matthis’ Plan in die Tat umgesetzt werden konnte. Unter alten Erdapfelsäcken versteckt, hatte Matthis Lele aus dem Tal geschmuggelt. Einen Tag hatten sie in einer verlassenen Hütte am Rande der Tieflande verbracht, dann waren sie zurück nach Stillerthal aufgebrochen. Für ihren offiziellen Einzug hatte Lele sich ein altes Wollkleid von Matthis’ Mutter passend genäht, um den Kopf trug sie ein gelbes, mit Zwiebelschalen und Alaun gefärbtes Tuch geschlungen. So saß sie aufrecht oben auf dem Bock neben Matthis und schaute sich aufmerksam um. Die Schlucht, die hinauf nach Stillerthal führte, war so eng, dass sie unwillkürlich das Gefühl hatte, den Kopf einziehen zu müssen. Ein holpriger, steiniger Fahrweg wand sich neben dem schäumenden Wilderbach den Talboden entlang. Die kürzliche Schneeschmelze hatte tiefe Furchen hinterlassen, was das Durchkommen noch schwerer machte. Die Wälder, die die Steilhänge rechts und links des Weges erobert hatten, waren düster und zerzaust, etliche Stellen waren durch Schneebruch zu undurchdringlichem Gehölz geworden. Umso mehr staunte sie, als sich plötzlich nach einem letzten steilen Aufstieg die Weite Stillerthals vor ihr auftat. Dunkles Gehölz wich weiten braunen Feldern und Weiden, die von einem hochstämmigen lichten Bergwald umgeben waren. Die Bauernhöfe waren klein, aber gepflegt,