Stillerthal. Martina Simonis

Stillerthal - Martina Simonis


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Schritt gegangen. Ich werde ihn auch gehen.»

      Matthis betrachtete sie einen Moment, dann nickte er.

      «Dann gehe ich mir mal was zu essen holen.»

      Kurz bevor er durch die Tür trat, drehte er sich noch einmal um.

      «Hast du dir deinen Geburtsbaum schon gewählt?»

      Lele zögerte kurz, schließlich sagte sie:

      «Du kennst ihn. Es ist die Birke auf der kleinen Lichtung im Wald.»

      Matthis nickte.

      «Eine gute Wahl!», brummte er und verschwand im Haus.

      Sein Gespür hatte ihn nicht getrogen. Als er am nächsten Tag in den frühen Morgenstunden aufstand, um auf die Alm zu gehen, hörte er Lele im Schlaf stöhnen. Ihre Zeit war gekommen. Matthis zögerte kurz, dann machte er sich auf den Weg hinauf zur Alm. Die Kühe duldeten keinen Aufschub. Aber er machte sich Sorgen. Lele hatte sich zuversichtlich gegeben, aber wahrscheinlich wusste sie wie er, dass es eine schwere Geburt werden würde. Ihr Körper hatte viel durchgemacht in diesem letzten Jahr – zu viel, um gut mit der Anstrengung der Geburt fertig zu werden. Und das aufrechte Gebären mit Hilfe des Pandrums würde für ihren linken Arm eine Tortur sein.

      Als er von seinem Melkgang zurückkam, fand er das Haus wie erwartet verlassen vor. Auf dem Herd stand ein Topf Suppe und auf dem Tisch standen Teller und Löffel bereit. Er goss sich den Teller voll und setzte sich, um zu essen. Er hatte den Teller zur Hälfte leer, als er den ersten Schrei hörte. Danach war wieder Stille. Ruhig aß Matthis seinen Teller leer, stellte das Geschirr in den Ausguss und richtete eine Schüssel Salzwasser, um die Käselaibe abzuwischen. Dann ging er zum Felsenkeller der Käserei, in dem er seinen Käse lagerte. Der zweite Schrei begleitete ihn, als er den Keller betrat, der dritte begrüßte ihn, als er aus der kühlen Dunkelheit wieder ans Licht trat. Bald kamen die Schreie häufiger, sie begleiteten ihn über den Tag. Auf die Wiesen, wo er Disteln rupfte, auf die Felder, wo er Kompost aufbrachte, in den Gemüsegarten, wo er Unkraut jätete. Sie begleiteten ihn hinauf auf die Alm, als er am Nachmittag das zweite Mal zum Melken ging.

      Erst als er zurückkam und keine Schreie mehr vernahm, suchte er Lele. Er fand sie am Fuße der Birke. Das hochgebundene Kleid und die Beine waren verkotet und blutverschmiert, die rotglibberige Nachgeburt schimmerte im Gras. Das Neugeborene lag neben ihr und wimmerte leise. Vorsichtig nahm Matthis das Kind auf und betrachtete es. Es war ein Mädchen. Es sah noch etwas bläulich und zerdrückt aus, ansonsten wirkte es gesund. Er wickelte das Kind in eines der Tücher, die Lele vorsorglich mitgebracht hatte. Dann inspizierte er die Nachgeburt. Er nickte, als er sah, dass sie vollständig war. Mit einem Stück Bruchholz grub er ein Loch am Fuße Birke, legte die Nachgeburt hinein und bedeckte sie mit Erde. Jetzt erst wandte er sich Lele zu.

      «Maruwen!», sagte er anerkennend.

      Er half ihr, die Hände aus den Schlaufen zu lösen, und stützte sie, als sie taumelte. Schließlich band er sich das Neugeborene auf den Rücken und führte Lele langsam zum Hof zurück.

      Matthis hatte Lele geholfen sich zu waschen und ein frisches Hemd anzuziehen. Jetzt lag sie in ihrem Alkoven, noch immer überwältigt von dem Sturzbach der Gefühle, die der Tag gebracht hatte. Niemand hatte sie vorbereitet auf die Dimension des Geburtsschmerzes. Zu Hause hätten erfahrene Marimi sie Techniken gelehrt, den Schmerz wegzuatmen. Hier musste sie alleine mit den Wehen, die wie Messerstiche ihren Unterleib zerschnitten, fertig werden. Mit der Angst, das Kind könnte steckenbleiben und sie beide könnten einen qualvollen Tod erleiden. Die Wut, mit der sie ihre letzten Kräfte in die Presswehen fließen ließ, und der Stolz, als sie das Kind zur Welt gebracht hatte. Maruwen! Der respektvolle Ton, in dem Matthis dies gesagt hatte, klang noch in ihr nach.

      Nachdenklich sah sie Matthis zu, der das Neugeborene auf den Küchentisch gelegt hatte und untersuchte. Beruhigend und leise redete er auf das kleine Wesen ein, während er es mit geübten Händen drehte und wendete. Lächelnd wandte er sich an Lele.

      «Glückwunsch, Lele! Du hast eine kerngesunde Tochter zur Welt gebracht.»

      «Du machst das gut», sagte sie. «Wo hast du das gelernt? Bei deiner Mutter?»

      Matthis schüttelte den Kopf.

      «Fast alles, was ich weiß, habe ich von den Kühen gelernt. Seit ich sieben oder acht war, war ich alleine für sie verantwortlich. Manchmal kam es vor, dass eine Jungkuh ihr Kalb nicht annahm oder nicht genug Milch hatte oder starb. Ich habe dann die Kälber großgezogen. Hab sie gefüttert und umsorgt. Dabei habe ich gelernt, wie sie denken. Sie sind so hilflos, wenn sie klein sind. Alles ist bedrohlich. Wenn der Magen wehtut, weil sie Hunger haben, wenn der Bauch wehtut, weil sie Koliken haben, wenn sie ängstlich sind, weil sie alleine sind. Dann muss man da sein, mit ihnen sprechen, ihnen das Gefühl geben, alles wird gut.»

      Er nahm einen Lappen und massierte mit sanften, aber zügigen Bewegungen die Käseschmiere ein. Das Neugeborene protestierte lauthals gegen die Behandlung. Matthis ließ sich nicht beirren. Schließlich gab er etwas Salbe auf den frischen Nabel, dann windelte er das Kind und wickelte es in ein weiches Wolltuch ein. Er reichte es Lele.

      «Du musste es jetzt anlegen, das regt den Milchfluss an.»

      Lele band ihr Hemd auf und legte das Neugeborene an. Sofort verstummte das Geschrei und die Kleine begann zu saugen.

      Matthis nickte zufrieden. Er wusch Leles verschmutztes Kleid und die dreckigen Tücher aus und hängte sie zum Trocknen an das Holzgestänge über dem Herd. Dann wandte er sich wieder Lele zu. Er deutete auf das Kind.

      «Es braucht einen Namen.»

      Lele nickte. Sie schaute auf das kleine Mädchen an ihrer Brust. Die fast weiße Haut, der helle Flaum auf dem Kopf, die kleinen, zu Fäusten geballten Hände. Noch etwas, auf das sie niemand vorbereitet hatte: dass das größte Glück mit dem größten Schmerz zusammenfallen konnte. Nun war es entlassen, dieses Geschöpf, das sie mehr liebte als sich selbst. Entlassen in sein eigenes Leben. In welches Schicksal, das wusste nur Aoum. Zart strich sie über die weichen Wangen.

      «Aeolin», flüsterte sie mit rauer Stimme. «Stern, der im Dunkel leuchtet.» Sie lauschte dem Klang des Namens, nickte. «Aeolin», sagte sie laut, wie um sich des Versprechens, das der Name ihres Kindes enthielt, zu versichern. Sie wandte den Kopf, damit Matthis die Tränen nicht sah.

      Ein Waldbauernhof war kein Ort, an dem man lange im Bett liegen konnte. Lele wusste das. So stand sie trotz den dumpfen Schmerzen im Unterleib und dem fast tauben linken Arm, der brannte, als würde er in Flammen stehen, am nächsten Morgen kurz nach Matthis auf, kochte die Frühsuppe, ließ die Hühner aus dem Stall und fütterte sie, jätete Unkraut im Gemüsegarten und brachte reifen Dung auf. Am Nachmittag suchte sie die frisch gelegten Eier, erntete Gemüse für das Abendmahl und kochte. Wenn die Kleine schrie, nahm sie sie hoch, band ihr Kleid auf und legte sie an.

      Eigentlich war alles gut. Sie hatte Schmerzen und war noch schwach, zeigte aber keine Anzeichen einer Infektion. Aeolin war gesund und hatte einen kräftigen Zug. Dennoch fühlte sich Lele unruhig und getrieben. Als hätte sie etwas Wichtiges vergessen. In der Nacht lag sie wach und konnte nicht schlafen. Ruhelos lauschte sie dem leisen Schnorcheln der ruhig schlafenden Aeolin und Matthis’ entspannten, flachen Atemzügen aus dem Nachbaralkoven.

      In der Zeit zwischen Mitternacht und Morgen hatte sie ein seltsames Erlebnis. Eine Art Wachtraum. Sie ging einen finsteren, engen Gang entlang. Der Gang lag totenstill und verlassen, dennoch hatte sie Todesangst. Immer wieder sah sie sich um und lauschte, aber außer ihren eigenen schweren Atemzügen war nichts zu hören. Und dann war der Gang zu Ende, verschlossen durch eine schwere Holztür. Nur eine kleine Holzklappe, die als Durchreiche gedacht war, stand offen. Zwei schwarze, mandelförmige Augen blickten hindurch, so als suchten sie etwas. Es dauerte nicht lange, bis sie fündig wurden. Der dunkle, forschende Blick fiel auf sie selbst, Lele. Ein schwarzes Augenpaar senkte sich in ihr dunkelblaues Paar Augen. «Komm», sagten sie.

      Lele schälte sich vorsichtig unter ihrer Decke hervor. Sie schritt durch


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