Stillerthal. Martina Simonis

Stillerthal - Martina Simonis


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Frage statt der erwarteten Vorwürfe. Er überlegte, was ihm Thamis über die Entstehung des Lauschan erzählt hatte.

      «‹Verweile in Stille, lausche den Stimmen der Welt, und du wirst Aoum hören.› Das ist Lauschan. Eine Disziplinierung des Geistes. Den Männern vorbehalten, als Wegweiser für die Entscheidungen, die getroffen werden müssen, und als Reinigung der Sinne. Manche glauben, das Lauschan sei uns von den Feh gebracht worden. Aber das sind Märchen. Die Feh lebten vor der Zeit der Menschen. Sie sind schon lange tot.»

      Lele schwieg. Plötzlich lachte sie trocken auf.

      «Es ist eine Strafe. Grausam, aber gerechtfertigt!» Unwillkürlich strich sie sich mit ihrer gesunden rechten Hand über ihren versehrten linken Arm. «Darf ich dir berichten, woher das Lauschan kommt?»

      Matthis nickte.

      «Nicht die Feh haben das Lauschan gebracht, sondern das Volk der Aydin. Die Aydin waren ein friedliebendes Volk, das viel Wert auf die Zubereitung wohlschmeckender Nahrung und die Herstellung von Kunsthandwerk legte. Und sie praktizierten Lauschan. Leider waren ihre Nachbarn nicht so friedliebend. Immer wieder wurden die Aydin überfallen, ihre Kunstwerke zerstört, die Königin enthauptet, die Männer niedergemetzelt und die jungen Frauen geraubt. Daher beschloss Maoma, die letzte Königin der alten Welt, ihr Volk in ein neues Land zu führen, an einen Ort, an dem sie sicher vor Krieg und Zerstörung leben konnten. In einfachen Flößen machten sie sich auf den Weg über das große Wasser. So kamen sie nach Fehrin. Da an den Ufern des großen Wassers schon Menschen lebten, zogen sie weiter in die Berge bis nach Stillerthal. Das Land war öde und leer und galt als unbewohnbar, dennoch wagte die Königin den Schritt. Der Anfang war schwer und viele Aydin bezahlten den Entschluss der Königin, die karge Gebirgsregion zu besiedeln, mit dem Leben. Der erste Winter war lang und hart, die Vorräte gingen rasch zur Neige und der Hunger war ein steter Gast. Es wäre das Ende der Aydin gewesen, wenn nicht die Feh, die hier im Verborgenen lebten, sich vom Los der Aydin hätten berühren lassen und ihnen gezeigt hätten, wie sie die Technik des Lauschan vervollkommnen und die Erde fruchtbar machen konnten. Denn die Feh, Matthis …», Lele hob den Kopf und blickte Matthis direkt in die Augen, «… die Feh sind nicht tot. Sie leben immer noch. Und Lauschan ist weit mehr als nur eine Disziplinierung des Geistes. Richtig ausgeführt lenkt es die Energien Aoums und schenkt den Schwachen einen Abglanz seiner Macht.»

      Lele verstummte. Ihr Blick glitt über das bunte Muster aus dunklen Gehöften, zaghaft grünenden Wiesen und frisch gestochenen Feldern. Sie seufzte.

      «Leider konnten manche Khor-Kami nicht mit dieser Macht leben. Sie trachteten nach mehr Einfluss und Wohlstand. Also heuerten sie Arbeiter aus dem Tiefland an und ließen sie für sich arbeiten. Das war der erste Bruch mit der Tradition der Aydin, denn bis dahin galt, dass jeder in Freiheit für sich arbeitete und nur selbst hergestellte Waren zum Tausch anbot. Das zweite Vergehen war, dass die Khor-Kami ihre Fremdarbeiter in die Technik des Lauschan einweihten und diese an ihrer statt zum Lauschan schickten. Es gab Streit und ein böser Geist hielt Einzug in das Tal. Ein zweites Mal griffen die Feh ein und erzählten der Alda vom Land hinter den Bergen. So beschloss die Alda mit denen weiterzuziehen, die an den alten Gebräuchen festhalten wollten. In Stillerthal aber», mit einer weiten Armbewegung zeigte Lele auf das sich vor ihren Augen erstreckende Tal und lachte ein kurzes hartes Lachen, «in Stillerthal mischten sich die zurückgebliebenen Aydin mit den Fremdarbeitern und Lauschan wurde eine Angelegenheit der Männer.»

      Matthis sah sie an.

      «Du bist eine Aydin?»

      Lele nickte.

      «Ja. Ich bin eine Tochter derer, die weitergezogen sind.»

      Ehrfurchtsvoll blickte Matthis hinauf auf den so unüberwindbar wirkenden Kranz der schneebedeckten Berge.

      «Dann gibt es tatsächlich das Land hinter den Bergen!»

      «Ja. Es gibt das Land und es war ein Paradies», antwortete Lele, aber ihre Stimme klang dumpf, als sie das sagte. Kaum hörbar fügte sie hinzu: «Es wurde zur Hölle …».

      Dann sagte sie nichts mehr. Matthis hörte ihrem schweren Atem an, welche Anstrengung es kostete, die Erinnerung niederzuringen. Taktvoll schwieg er. Schließlich stand er auf und streckte die müden Glieder. Er reichte ihr seine Hand.

      «Komm, lass uns nach Hause gehen.»

      Matthis half Lele, vom Felsen hinunterzusteigen, und gemeinsam machten sie sich auf den Heimweg.

      Lele trat aus dem Haus und sah sich suchend nach Matthis um. Sie entdeckte ihn oben am Waldrand auf dem neuen Feld, das er urbar gemacht hatte. Mit gleichmäßigen wuchtigen Schlägen hieb Matthis mit der Hacke den störrischen Bergboden auf. Sein Gesicht war verschlossen und konzentriert, wie immer, wenn er arbeitete. Es war ein paar Masuren her, dass Matthis beschlossen hatte, ein kleines ebenes Waldstück, das an die Winterweide des Matthishofs grenzte, zu roden und dort ein weiteres Feld anzulegen. Er hatte die Bäume gefällt und zu Brennholz gehackt, hatte sich Lundis’ Ochsen ausgeliehen, um die Wurzelballen aus der Erde zu ziehen, hatte das Reisig verteilt und abgebrannt, als Dünger für die Erde. Nun bereitete er das Gelände für die Saat vor. Lele wusste, dass er es für sie tat. Ihr Magen war die fettreiche Kost nicht gewohnt und hatte des Öfteren rebelliert. Nun wollte Matthis für etwas mehr Korn auf dem Speiseplan sorgen.

      Sie hatte in den letzten Monden viel gelernt über das Leben der Bergbauern in Stillerthal. Jedes noch so kleine Feld musste dem Berg abgerungen und von Steinen befreit werden. Stallmist war ein wertvolles Gut, immer und immer wieder wurde er umgesetzt und gewendet, damit er reifte und auf die Felder und den Gemüsegarten aufgebracht werden konnte. Zweimal am Tag wurden die Kühe gemolken, um die Euter zu schonen. Und auch die Käseherstellung war mühsam und zeitaufwendig. Sie hatte größten Respekt vor diesen Menschen, vor der Selbstverständlichkeit, mit der sie die täglich anfallenden schweren Arbeiten verrichteten, und dem klaglosen Hinnehmen der mageren Ausbeute.

      Lele packte einen Krug Wasser, ein Tuch und den gut gefüllten Teller in die Kiepe und ging zu Matthis.

      «Hayda Matthis!»

      Matthis setzte die Hacke ab, richtete sich auf und wischte sich den Schweiß aus der Stirn.

      «Die Sonne steht hoch, es ist Zeit für eine Pause.»

      Matthis nickte und setzte sich in den Schatten unter den nächsten Baum. Er wusch sich mit etwas Wasser aus dem Krug die Hände, dann nahm er Teller und Löffel entgegen und begann hastig, das Essen in sich hineinzuschaufeln. Plötzlich hielt er inne und schaute erstaunt auf seinen Teller. Er kaute weiter, nun langsamer und bewusster. Schließlich schluckte er.

      «Es», er zeigte auf seinen Teller, «es schmeckt … sehr gut!», sagte er anerkennend. «Aromatisch.»

      «Danke!», sagte Lele.

      Insgeheim lächelte sie. Es war nicht schwer, Matthis’ fade, gewürzarme Kochkunst zu übertrumpfen. Dennoch freute sie sich. Endlich hatte sie einen Weg gefunden, Matthis ein klein wenig von dem zurückzugeben, das er ihr geschenkt hatte: ein neues Leben, eine neue Heimstatt. Beim Durchstreifen der Wiesen und der nahen Wälder hatte sie zahlreiche essbare Kräuter entdeckt, die sie aus Aldan-Aymurin kannte. Gerne nutzte sie diese, um der kargen Frühjahrskost etwas mehr Geschmack zu geben.

      «Die Kartoffeln habe ich in der Schale gekocht und danach mit Dornkraut angeröstet. Das Grün sind frische Federblatttriebe. Federblattsalat ist eine beliebte Delikatesse im Frühjahr, wenn noch nicht viel wächst. Und den Schmelzkäse hab ich mit frischem Schneewurz und Wintergrün bestreut, dann ist er besser verträglich.»

      Lele setzte sich entspannt neben Matthis ins Gras und sah zu, wie er seinen Teller leerte. Welch ein Unterschied zu den ersten Wochen ihres notgedrungenen Zusammenlebens. Das Gespräch auf dem Felsen, ihre Offenbarung, hatte den Wandel gebracht. Die Scheu, die bis dahin das Verhältnis zwischen ihr und Matthis bestimmt hatte, war einer vorsichtigen Vertrautheit gewichen. Das Schweigen, wenn es nichts zu sagen gab, war nicht mehr beängstigend, die kurzen Alltagsgespräche zwanglos und freundlich. Deshalb wagte sie, die eine Frage zu


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