Stillerthal. Martina Simonis

Stillerthal - Martina Simonis


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hatte ich da noch etwas anderes außer meinen Kleidern an mir? Eine Kette mit einer Art Amulett?»

      Matthis sah auf und dachte nach. Schließlich schüttelte er den Kopf.

      «Nein.»

      «Bist du sicher? Vielleicht hast du es nur vergessen. Vielleicht fandest du es schön und hast es genommen, ohne weiter darüber nachzudenken …»

      Matthis legte den Löffel beiseite und nahm ihre Hand.

      «Lele, da war nichts. Ich würde dich nie bestehlen.»

      Lele fühlte, wie sich Eiseskälte in ihr ausbreitete. Sie hatte die Antwort erhalten, vor der sie sich am meisten gefürchtet hatte.

      «Dann ist es verloren», flüsterte sie. «Die Zukunft und die Vergangenheit …»

      Matthis schüttelte den Kopf.

      «Nichts ist verloren. Du HAST etwas verloren. Was verloren wurde, kann wiedergefunden werden.»

      Lele starrte vor sich, in die braungrauen Schollen der frisch gestochenen Erde.

      «Ich hoffe, du hast recht … Denkst du, wir können schon suchen gehen?»

      Matthis schüttelte den Kopf.

      «Oben auf den Almen liegt noch Schnee. Du musst dich noch etwas gedulden.»

      Seit diesem Gespräch waren viele Tage vergangen. Die heller und länger werdenden Tage zeigten, dass die Warmzeit nicht aufzuhalten war. Immer wieder schaute Lele nach oben auf die Almwiesen und beobachtete, wie die Schneedecke dünner und löchriger wurde. Als sie die ersten freien braunen Stellen sah, holte sie Matthis und zeigte nach oben.

      «Schau, es ist Zeit. Ich denke, wir können suchen gehen.»

      Matthis schüttelte den Kopf.

      «Dort oben ist noch Winter. Wir müssen warten.»

      Als nur noch wenige weiße Flecken an den Winter erinnerten, zeigte sie erneut hinauf.

      «Schau, es ist Zeit. Ich denke, jetzt können wir suchen gehen.»

      Wieder schüttelte Matthis den Kopf.

      «In den Kuhlen liegt noch Schnee. Wir müssen warten.»

      Doch irgendwann kam der Tag, an dem Matthis nach oben zeigte, wo die von einem grünen Schleier überzogenen Almen in der Morgensonne leuchteten.

      «Heute ist ein guter Tag zum Suchen. Bist du bereit?»

      Jetzt, wo es soweit war, hatte sie plötzlich Angst. Angst, den Ort zu sehen, wo Matthis sie gefunden hatte. Angst, dass es nicht da sein könnte. Dennoch nickte sie und packte etwas zu Essen in die Kiepe. Dann brachen sie auf.

      Es funkelte ihnen aus dem trockenen alten Gras entgegen. Schimmernd und rein, so als wäre kein Winter und keine Schneeschmelze darüber hinweggegangen. Behutsam nahm sie es auf und hielt es gegen die Sonne. Je nachdem wie sie es drehte, leuchtete das Amulett in dunklem Schiefergrau, klarem Silber oder warmem Gold. Die filigran in sich verschlungenen Arabesken, die sich erst bei genauerem Hinsehen als Teil eines meisterhaft geschmiedeten Baumes erkennen ließen, waren unbeschädigt. Wie kleine Samenkörner hoben sich die fein granulierten Äpfel von dem durchbrochenen Laubwerk ab. Selbst die fein geflochtene Kette sah aus wie neu.

      Staunend betrachtete Matthis die kunstvolle Schmiedearbeit.

      «Was ist das für ein Metall?»

      «Trisellerium. Eine Legierung der drei Edelerden.»

      Lele nahm es auf, hängte es sich um den Hals und ließ es schnell in ihren Ausschnitt gleiten, wo es versteckt zwischen ihren durch die Schwangerschaft angeschwollenen Brüsten lag. Matthis musterte sie nachdenklich.

      «Es würde auffallen hier im Tal», verteidigte sie ihr Tun.

      Matthis nickte nur. Er griff sich seinen Stock und streckte Lele seine Hand entgegen.

      «Komm, Zeit für die Rückkehr.»

      Dankbar griff Lele nach Matthis’ Hand und ließ sich von ihm hochziehen. Die Last ihres Körpers machte sich mittlerweile bemerkbar. Ein Teil der Last auf ihrer Seele dagegen war ihr genommen. Erleichtert und zuversichtlich wie schon lange nicht mehr folgte sie Matthis den schmalen Pfad zum Matthishof hinunter.

      Zwei Masuren lang hatte Matthis die Unbeständigkeit des Wetters mit wachsender Ungeduld verfolgt. Dann endlich zeigte sich der Himmel in dem Blau, auf das er so lange gewartet hatte. Er war licht und klar, des Abends mit weißen Quellwolken über den Bergen. Der Almauftrieb konnte beginnen.

      Obwohl die Zeit, in der die Kühe auf der Hochalm standen, noch mehr Arbeit als sonst brachte, war sie kostbar. Die Winterweiden rund um den Hof konnten sich erholen, ohne deren Heu seine Kühe im Winter verhungern würden. Außerdem liebten die Kühe den Auslauf und das würzige Almengras und gaben kräftig Milch. Matthis’ Almkäse war begehrt und galt als Delikatesse.

      Matthis war daher gut gelaunt, als er am Nachmittag des Auftriebs mit einem gut gefüllten Eimer Milch von der Matthisalm zurückkam. Er trat aus dem Wald hinaus auf die sonnenbeschienenen Wiesen, die den Matthishof umgaben. Er blieb einen Moment stehen und ließ den Blick schweifen. Die Winterweiden waren abgegrast, aber auf den Feldern sprossen Grünkorn, Einkorn und Erdapfel. Die schindelgedeckten Dächer der Matthishofgebäude – Wohnhaus, Kuhstall, Käserei, Hühnerschlag und der in den Hang gebaute Naturkeller – glänzten goldbraun in der warmen Nachmittagssonne. Der Matthishof hatte seinen Namen verdient, dachte er nicht ohne Stolz. Nichts erinnerte mehr an die armselige Kate des Großvaters, in den seine Mutter mit ihm auf dem Rücken aus den Tieflanden zurückgekehrt war.

      Und bald, dachte er, würde er eine Familie beherbergen. Er winkte Lele zu, die unten auf der Bank vor dem Wohnhaus saß, aber sie reagierte nicht. Sie starrte abwesend und in Gedanken verloren vor sich hin. Er kannte dasselbe Verhalten von seinen Kühen, wenn sie kurz vor dem Kalben waren. Sie legten sich oft hin, wurden unruhig und suchten den Abstand. Bei Lele, deren Bauchumfang in den letzten Masuren kräftig zugenommen hatte, würde es nicht mehr lange dauern, er rechnete jeden Tag mit ihrer Niederkunft.

      Matthis legte die kurze Strecke bis zum Hof zurück und grüßte sie.

      «Hayda Lele!», sagte er, zog aufatmend die Kiepe vom Rücken und streckte sich.

      Lele schaute versonnen auf.

      «Hayda Matthis», antwortete sie und lächelte. «Brot und Käse stehen in der Stube, du brauchst dich nur bedienen. Ich habe auch Hornblattsalat gemacht, der wächst jetzt frisch.»

      Matthis nickte und wollte gerade gehen, als sein Blick auf den Gegenstand fiel, der neben ihr auf der Bank lag. Es war ein aus Stoffstreifen kunstvoll gedrehtes Stück Tau, dessen beide Enden in zwei Schlaufen ausliefen, gerade groß genug, um eine Hand hindurchzuführen.

      «Was ist das?», fragt er.

      «Das ist ein Pandrum. Die Frauen in meinem Land verwenden es für die Geburt. Schon lange vor der eigentlichen Geburt wählen wir uns unseren Geburtsbaum. Wenn es soweit ist, suchen wir ihn auf, um das Kind zu gebären. Dafür werfen wir das Pandrum über einen Ast und hängen uns daran. So bleiben wir auch im größten Schmerz aufrecht.»

      Matthis schwieg kurz, dann sagte er:

      «Hier im Tal bekommen die Frauen die Kinder im Liegen.»

      Lele nickte.

      «Das habe ich gehört.»

      «Ich kann die Heilerin bitten zu kommen.»

      «Die Frau, die Annin empfohlen hat, ihren Bauch mit Urin einzureiben, damit es ein Junge wird? Nein danke!»

      Matthis schwieg wieder.

      «Du willst das Kind alleine zur Welt bringen?», fragte er zögernd.

      Lele nickte und lächelte ihn zuversichtlich an.

      «So will es die Tradition.


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