Nachtengel von Köln. Reinhard Rohn
Kellertür ihren Ersatzschlüssel hervorgeholt und hockte da und erwartete, jeden Moment ihre schlurfenden Schritte an der Tür zu hören.
Es war bereits sechzehn Uhr am Nachmittag. Er hatte bei Google nach dem Chor gesucht, den dieser Friedbert immer noch leitete. »Encore«, so hieß seine Truppe, sollte womöglich ein Wortspiel sein. »Friedbert Frings, vierundsiebzig Jahre alt, seit dreißig Jahren verwitwet, pensionierter Oberstudienrat, leitet den Chor immer noch mit Engagement und Weitsicht.« Im Juni waren auf der Homepage von »Encore« zwei Konzerte aufgeführt: Gummersbach und Bergneustadt. Das Foto des Chorleiters schmeichelte ihm; da wirkte er gut und gerne zwanzig Jahre jünger.
Mit diesem Mann sollte seine Mutter vor fast dreißig Jahren eine Affäre gehabt haben? Dieser Gedanke ging ihm nicht aus dem Kopf, ebenso wenig wie das seltsame Empfinden, dass gleich sein nach kölnisch Wasser riechender Vater hinter ihm stehen und ihn beim Namen nennen würde.
Doch nein, er war allein, Thereses Küchenuhr tickte laut die Zeit herunter, der Kaffee schmeckte schal.
Zweimal hatte Birte ihn angerufen und ihm von den Ergebnissen aus der Rechtsmedizin berichtet; er hatte sie vertröstet, er müsse etwas erledigen.
Dann war eine SMS von Nadine eingegangen. »Schönes Wetter in Bordeaux – vermisse dich. N.«
Er holte sein Smartphone wieder hervor und besah sich die Nachricht. Er hatte noch nicht geantwortet. Eigentlich hätte er glücklich sein müssen. Sie hatten zum ersten Mal miteinander geschlafen, und das war noch keine vierundzwanzig Stunden her.
Als Thereses Telefon irgendwo in ihrem Wohnzimmer klingelte, sprang er auf und lief hinüber. Das Telefon, ein grünes Ungetüm mit Wählscheibe, befand sich auf dem zerschlissenen Cordsofa unter zwei Babydecken. Er hob ab. Eine Frau fragte mit zitternder Stimme nach Therese. Die alte Hebamme habe doch vorbeikommen wollen, um nach ihrem kranken Kind zu sehen. Chorweiler, Mercatorstraße.
Schiller vertröstete die Frau, bevor er wieder auflegte. Dann, als wäre er endlich aus seiner Apathie erwacht, begann er, sich genauer in der Küche umzusehen. Hier hatte Therese sich die meiste Zeit aufgehalten.
Die tote Amsel lag immer noch da, als würde sie auf Therese warten.
Er stellte das Radio an, ein Gerät, das gewiss mehr als dreißig Jahre alt war und an dem es noch ein Fach für Tonbandkassetten gab; laute klassische Musik ertönte. Zeitungen stapelten sich auf der Fensterbank, daneben Kassenzettel von Einkäufen, ein Taschenbuch – ein Roman von Utta Danella – und ein verblichener Busfahrplan, in dem eine Postkarte steckte. »Liebe Grüße aus Texel von Marion – dem kleinen Nicky geht es gut. Kein Durchfall mehr. Wir kommen nach Karneval zurück.« Wahrscheinlich war die Karte zehn Jahre alt, und Nicky war längst eingeschult worden. Auf dem Boden vor dem Fenster drei Kartons, Bettwäsche, Kinderkleidung und eine kleinere Pappkiste, in der sich offenbar nur Socken befanden.
Schiller versuchte erneut, Thereses Smartphone zu erreichen. Stille. Keine Verbindung. Sein Unbehagen wuchs immer mehr. Er überlegte, Nele anzurufen, aber wenn man Thereses Telefon geortet hatte, hätte sie sich sofort bei ihm gemeldet.
Wo, verdammt, war sie? Und warum hatte sie nie diesen Chorleiter erwähnt?
Er begann durch das Haus zu gehen, sah in jeden Raum. Alles war hier ebenerdig; Arbeitszimmer, in dem sich auch Kisten stapelten, Bügelzimmer, Schlafzimmer, der einzige Raum, der nicht vollgestellt war, Abstellraum.
Eine Ahnung wuchs in ihm, dass Therese etwas passiert sein könnte. Wer hatte diese rumänische Frau nach Köln gebracht und offenbar ja in einer Art Gefangenschaft gehalten? Ging es um Mädchenhändler, um Prostitution? Hatte Therese etwas herausgefunden? Hatte sie doch einen Verdacht gehabt, wo diese Julika vorher gewesen oder wohin sie verschwunden war?
Für einen Moment wurde er von Kummer übermannt. Am liebsten hätte er sich hingesetzt und einen Brief geschrieben. Tatsächlich nahm er von einem Block, der auch auf dem Tisch lag, ein Blatt Papier und begann mit einem schwarzen Kugelschreiber die ersten Worte zu verfassen. »Liebe Therese, wo bist du? Das Haus ist leer, nein, die ganze Stadt ist leer ohne dich. Es ist ein Gefühl, als wärest du aus meiner Welt verschwunden …«
Schiller blickte auf seine krakelige, beinahe völlig unlesbare Schrift, dann zerknüllte er das Papier und warf es auf den Boden. Was sollte dieser sentimentale Ausbruch! Er war Polizist, ausgebildet, um Verbrechen aufzuklären. Sie würden Therese finden, eher früher als später.
Im Auto, kaum dass er den Motor angelassen hatte, summte sein Smartphone. Er wusste es, bevor er Neles ungewöhnlich angespannte, atemlose Stimme vernahm.
»Wir haben sie – Therese«, sagte Nele. »Jemand hat sie zum Krankenhaus Severinsklösterchen gefahren und dort vor dem Hintereingang abgelegt. Sie ist …«
»Ist sie tot?«, fragte Schiller panisch. »Sag mir die Wahrheit!«
Nele holte tief Luft. »Nein, aber sie war nicht bei Bewusstsein. Sie ist auf dem Weg in die Uniklinik. Im Severinsklösterchen wollte man sie nicht operieren … Sie hat anscheinend schwere Kopfverletzungen …«
»Wer hat sie da einfach so abgelegt?« Schiller schrie fast, während er Richtung Stadtzentrum raste.
»Hör zu, Jan«, sagte Nele. »Wir wissen noch nichts Genaues. Birte schaut sich die Örtlichkeiten an, ob da Kameras hängen und so weiter, und ich habe alle Taxizentralen angemailt. Wir sind dran …«
Sie wird sterben, dachte Schiller, und wieder – wie am Morgen am Grab der Eltern – reiste er in der Zeit zurück. Damals, auf dem Weg von der Schule nach Hause, fröhlich und verliebt, war er sich auch, während er den schwarzen Rauch beobachtet hatte, der aus den Zimmern ihrer Wohnung quoll, für eine lange Sekunde sicher gewesen, dass seine Eltern tot waren, noch bevor er Genaueres erfahren hatte.
»Ich fahre zur Uniklinik«, brüllte er. »Und ich will alles wissen. Jedes Scheißtaxi soll uns mitteilen, wen es in den letzten zwei Stunden gefahren hat. Und hatte Therese ihr Telefon dabei? Wissen wir das?«
»Ich muss jetzt auflegen«, sagte Nele ganz ruhig. »Ich gebe dir sofort Bescheid, wenn sich etwas Neues ergeben hat.«
»Ja«, sagte er kraftlos, aber da hatte Nele die Verbindung schon unterbrochen.
In Gedanken ging er alle Maßnahmen durch, die notwendig waren, um den Wagen zu finden – Verkehrsüberwachung, Anfrage bei Autovermietungen, Beschreibung von Therese an jeden Streifenwagen, auch die KVB musste man informieren. Therese fuhr meistens Straßenbahn … Aber wer eine Frau tötete und verbrannte, der würde auch ein Auto stehlen, um eine verletzte Frau zu transportieren … Und doch … Warum hatte man sie vor einem Krankenhaus abgelegt? Damit sie gerettet wurde? Weil etwas aus dem Ruder gelaufen war?
Schiller spürte, dass ihm Tränen kamen. Wenn Therese tatsächlich sterben würde, würde er keine Ruhe mehr finden, bis er den Schuldigen hatte – keine Sekunde, nicht einen Augenblick.
Während er das Bettenhaus der Uniklinik schon vor sich sah, versuchte er, Birte zu erreichen, aber sie nahm das Gespräch nicht an.
Dann stürmte er mit gezogenem Ausweis zum Empfang in der Klinik, nachdem er seinen Golf auf einem Behindertenparkplatz abgestellt hatte.
»Wir haben keine Therese Stiller im System«, sagte ihm eine freundliche Frau an der Rezeption.
»Nein«, erwiderte Schiller, »sie ist eben erst eingeliefert worden. Vom Severinsklösterchen. Ein Notfall. Wahrscheinlich wird sie gerade operiert.«
»Dann muss ich mich erkundigen«, erklärte die Frau. »Wollen Sie Platz nehmen? Ist es eilig?«
Eilig? Panik bereitete sich in ihm aus. Am liebsten hätte er sie vor Wut angeschrien, doch stattdessen sagte er im Flüsterton, als würde seine Stimme gleich brechen: »Ja, es ist sehr eilig. Bitte finden Sie etwas heraus.«
12
Keine Kameras, sagte ihr erster Blick, als sie den Hintereingang des Krankenhauses absuchte, aber warum hätten hier auch Kameras hängen sollen? Hier wurden Materialien angeliefert und vielleicht auch