Nachtengel von Köln. Reinhard Rohn

Nachtengel von Köln - Reinhard Rohn


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lag und die er nur hervorziehen und mit einem aktuellen Datum versehen musste, wenn ihm alles zu viel wurde; sie aber könnte nie etwas anderes sein als eine Ermittlerin. Das würde auch Max verstehen müssen.

      Von den Ringen bog sie über den Ebertplatz in Richtung Bahnhof ab. Hier hatte Therese die junge Rumänin entdeckt, die ängstlich umhergeschlichen war.

      Der graue, öde Platz hinter dem Bahnhof lag verlassen da. Nur an einem Tisch vor einer Bäckerei saß eine Gestalt, die sich langsam aufrichtete und zu ihr herüberschaute. Birte stoppte den Wagen. Die Gestalt trug einen dicken Parka und eine Wollmütze, die sie tief ins Gesicht gezogen hatte. Neben ihr lag ein Rucksack.

      Eine Frau, erkannte Birte, da saß eine junge Frau. Sie schaltete den Motor ab und stieg aus, und im selben Moment richtete die Frau sich auf, griff nach ihrem Rucksack und begann in Richtung Rhein zu laufen, doch sie hinkte leicht und kam nur langsam voran. Birte hatte keine Mühe, sie einzuholen.

      »Bitte bleiben Sie stehen!« Birte zog ihre Polizeimarke hervor. »Ich möchte Sie nur etwas fragen.«

      Erschöpft beugte die Frau sich vor und versuchte, ruhig ein- und auszuatmen.

      »Ich habe nichts getan«, sagte sie mit einem schweren osteuropäischen Akzent. »Nichts getan.«

      »Ich glaube Ihnen gerne«, erwiderte Birte mit sanfter Stimme. »Woher kommen Sie? Rumänien?« Es war eine Frage ins Blaue hinein.

      Die Frau schaute auf, sie war jung, allenfalls Anfang zwanzig. Grünliche Augen starrten sie ängstlich an. »Polen«, sagte sie. »Ich bin Ewa aus Polen. Ich habe im Moment kein Haus.« Ihr Mund verzog sich schmerzhaft.

      »Ich suche eine Frau – sie kommt aus Rumänien«, sagte Birte. Sie zog ihr Smartphone hervor und rief das Foto auf, das Therese von Julika Bottesch gemacht hatte. »Haben Sie diese Frau schon einmal gesehen?«

      Ewa starrte auf das Display. »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Kann sein. Ich weiß nicht … Einmal in der Woche kommt ein Bus aus Rumänien mit Mädchen.«

      Im Bahnhof hatte bereits ein Café geöffnet. Als Birte hinüberdeutete, begann Ewa heftig zu nicken. »Kaffee?«, fragte sie.

      »Ja«, sagte Birte. »Ich könnte auch einen vertragen.«

      In dem Selfservice-Café mussten sie an der Kasse warten, weil bereits etliche Frühaufsteher anstanden. Wortlos tranken sie ihren Kaffee. Birte beobachtete die junge Frau, die auf dem Sprung zu sein schien, als wollte sie gleich wieder fliehen.

      »Ich bin Danuta – aus Litauen«, erklärte die Frau unvermittelt. »Ich sage immer erst falschen Namen. Ich dachte, ich hätte einen Freund in Deutschland, aber es war kein Freund.« Sie brach abrupt ab. Ihr Blick glitt ins Leere. »Deutscher Mann war ein Lügner«, sagte sie leise. Zwischendurch trank sie, und als ihr Becher leer war, stand Birte auf, holte einen zweiten und ein Croissant.

      »Wir haben eine tote Frau gefunden.« Birte beobachtete, wie Danuta sich über das Croissant hermachte. »Könnte sein, dass sie aus Rumänien eingereist ist.«

      Danuta starrte sie über ihren Kaffeebecher an. »Ich habe eine Krankheit, schlechtes Blut. Eigentlich müsste ich nach Litauen zurück, aber da glaubt man, dass ich reich geworden bin in Deutschland. Habe am Telefon gesagt, ich hätte Geld. Zweitausend Euro.«

      War jemand reich, der zweitausend Euro besaß? Birte besah die Hände der Frau, die schmutzig und rissig waren, als hätte sie schon längere Zeit auf der Straße gelebt.

      »Was haben Sie in Litauen gemacht?«, fragte sie.

      Danuta verzog erneut den Mund. Es sah aus, als würde diese Frage ihr Schmerzen bereiten. »Ich habe studiert. Englisch und Deutsch. Ich wollte Lehrerin werden …« Sie zögerte. »Nein, wollte ich eigentlich nicht. Ich bin … Puppenspielerin. In Vilnius bin ich durch die Altstadt gegangen, alte Stadt sehr schön, und habe gespielt … Vor dem Rathaus … vor der Kathedrale und am Tor der Morgenröte.«

      »Tor der Morgenröte – was für ein schöner Name!« Birte lächelte.

      Danuta nickte. »Es ist ein Tor und eine Kapelle mit einer schwarzen Madonna. Wunderschönes Haus.« Plötzlich liefen ihr zwei dicke Perlen über die Wangen, die sie sich mit einer schnellen Bewegung wegwischte. »Sorry«, sagte sie. »Mir geht es nicht gut. Ich muss zurück nach Hause, aber ich habe nichts. Meine beiden Puppen … gestohlen.« Sie zog sich die Mütze vom Kopf. Kurzes, blondes, schmutziges Haar kam zum Vorschein. »Ich habe sogar auf Deutsch gespielt, für Touristen. ›Faust‹. Eine Figur war Faust, die andere Mephistopheles.« Sie veränderte ihre Stimme ein wenig. »›Ich bin der Geist, der stets verneint.‹« Dann begann sie zu husten, und zwei weitere Tränen rollten ihr über die Wangen.

      Birte wartete einen Moment. Dann sagte sie zu ihrer eigenen Überraschung: »Ich muss etwas über diese Mädchen wissen, die aus Rumänien kommen, aber vorher kannst du duschen und dir etwas anderes anziehen.«

      Es war kurz vor halb sieben, als sie mit Danuta in ihrer Wohnung eintraf. Max schlief noch. Nachdem sie Danuta das Badezimmer gezeigt und ihr ein paar Kleidungsstücke hingelegt hatte, nahm Birte wieder ihren Laptop hervor. Gab es einen Fahrplan? Konnte man einsehen, wann Busse aus Bukarest oder Sibiu nach Köln kamen? Nein, sie fand nichts. Von Köln aus wurden sieben Ziele in Rumänien angeflogen, aber nur die Namen Bukarest und Sibiu sagten ihr etwas. Dann schickte sie Nele eine Nachricht, dass sie sich bei der Bundespolizei, die für den Bahnhof zuständig war, erkundigen mussten, ob etwas über Busse aus Rumänien bekannt war.

      Als Danuta in einer ihrer alten Jeans und einem weißen T-Shirt aus dem Bad kam, trat ihr ein veränderter Mensch entgegen. Sie wirkte nun noch jünger und viel hübscher.

      Gleichzeitig schlurfte leicht hinkend Max aus dem Schlafzimmer. Er trug seinen langen Bademantel, der seine Prothese bedeckte. Erstaunt blickte er die fremde Frau an.

      Birte lächelte. »Max, das ist Danuta aus Litauen. Sie ist Puppenspielerin und irgendwie in Köln gestrandet. Ich glaube, wir müssen ihr ein wenig helfen.«

      6

      Wenn es nicht um Therese ginge, sagte er sich, wenn es ihr nicht so wichtig wäre, herauszufinden, ob die Tote die rumänische Frau war, die bei ihr übernachtet hatte, dann würde er keine Rücksicht nehmen – dann würde er morgen früh in der Maschine nach Bordeaux sitzen. Doch es ging um Therese … Der Mensch, der die größte Konstante in seinem Leben gewesen war.

      Er fuhr von der Rechtsmedizin nicht mehr ins Präsidium, sondern in seine Wohnung. Nein, nicht in seine Wohnung. Im Dunkeln stieg er die Treppen hinauf, als müsse er sich anschleichen, dann klopfte er an Nadines Tür. Zu spät fiel ihm ein, dass er etwas hätte kaufen sollen – eine Flasche Wein, Blumen, irgendetwas.

      Nadine öffnete sofort, als hätte sie auf ihn gewartet. Sie blinzelte ins Treppenhaus, als würde es ihr schwerfallen, in die Dunkelheit zu starren.

      Sie ist wahrhaftig die schönste Frau, die ich je gekannt habe. Dieser Gedanke überfiel ihn geradezu.

      Nadine trug wie so oft einen schwarzen Rollkragenpullover und ihre schwarze Hornbrille, hinter denen ihre blauen Augen funkelten. Ihre blonden Haare, die sie zusammengebunden hatte, schimmerten, als würde sich ein geheimes Licht in ihnen verbergen.

      »Du kommst doch noch«, sagte sie; es klang freundlich, ja beinahe erleichtert, und sie tat etwas, das sie noch nie getan hatte: Sie schlang die Arme um ihn und küsste ihn leidenschaftlich auf den Mund.

      Dann zog sie ihn herein und fingerte gleichzeitig an dem Reißverschluss seiner Jacke. Ihr Kuss wurde immer leidenschaftlicher. Ihre Zunge zuckte wild hin und her. Sie zerrte seine Jacke herunter, dann taumelten sie beide in einer Umarmung in Nadines Schlafzimmer.

      Er sah ihre weiße wunderschöne Brust aufblitzen, nachdem sie ihren Pullover abgestreift hatte. Hastig knöpfte er sein Hemd auf und dachte kurz daran, dass sein T-Shirt darunter alt und zerschlissen war.

      Doch einige Sekunden später lagen sie bereits nackt nebeneinander.

      Ich liebe sie, schrie er stumm in sich. Ein


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