Nachtengel von Köln. Reinhard Rohn
Danuta begann zu schniefen.
»Du kannst bald wieder nach Hause fahren«, sagte Birte. »Ein Flug nach Vilnius kostet nicht viel, aber zuerst wird sich eine Freundin um dich kümmern, eine alte freundliche Frau.«
Hoffentlich verspreche ich nicht zu viel, dachte Birte. Nele hatte sie bereits zweimal angerufen. Wahrscheinlich gab es neue Erkenntnisse über die tote Frau.
Und was würde sie tun, wenn Therese nicht zu Hause war? Die alte Hebamme kannte keinen Ruhestand, eigentlich war sie immer unterwegs.
Die Jalousien an Thereses Küchenfenster waren hochgezogen, erkannte Birte, als sie vor dem Bungalow abbremste. Sie warf Danuta einen Blick zu.
»Hier ist es«, sagte sie. »Warte bitte einen Augenblick.«
Danuta blickte sie aus leeren Augen an, als müsse sie sich für die nächste Enttäuschung wappnen.
Durch eine rostige Pforte und über alte Steinplatten, die mehrfach gesprungen waren und aus denen Unkraut wuchs, ging Birte auf die Haustür zu, ein altes Monstrum aus Holz, das vor Urzeiten einmal braun gewesen war. Sie drückte einen Messingknopf, über dem zwei Namen standen, die so verwittert waren, dass man sie nicht mehr lesen konnte.
Ein lauter Gong ertönte.
Im nächsten Moment wusste sie, dass niemand zu Hause war. Dieser Gong würde Tote aufwecken. Sie klingelte noch einmal, aber sie lockte lediglich eine Katze heran, die aus einem Gebüsch hinter ihr hervorkam und zu miauen begann. Offenbar war sie es gewohnt, hier gefüttert zu werden.
Ratlos ging Birte zu ihrem Alfa zurück. Nun müsste sie Therese anrufen oder einen anderen Platz für Danuta finden. Nein, sie würde die Frau für eine Nacht in einem Hotel einquartieren. Das Geld dafür würde sie aufbringen.
Danuta schaute sie durch die Frontscheibe fragend an. Birte zuckte mit den Schultern und begann aufmunternd zu lächeln. Niemand da, sollte ihr Lächeln sagen, aber wir finden eine andere Lösung.
Ein Taxi rollte heran. Würde Therese mit einem Taxi kommen? Nein, das sah ihr gar nicht ähnlich. Eine Frau stieg aus, die ein kleines Kind, das kaum ein Jahr alt sein mochte, auf dem Arm trug. Hastig strebte sie auf Thereses Bungalow zu.
»Wenn Sie zu der Hebamme möchten«, rief Birte ihr zu. »Sie ist nicht zu Hause.«
Die Frau wandte sich abrupt um. Sie hatte dunkle Haut, eine Türkin oder Iranerin. »Aber das kann nicht sein«, entgegnete sie. »Therese hat gesagt, sie ist da und will sich meine kleine Samira ansehen. Sie hat unser Treffen noch nie vergessen.«
9
Eine halbe Stunde saß Schiller reglos hinter dem Steuer, unfähig, sich zu bewegen. Er sah, wie der Chorleiter den Friedhof verließ. Mit ruhigen Schritten, fast heiter ging der alte Mann auf ein riesiges Wohnmobil zu, startete und fädelte sich in den Verkehr ein. Es war ungeheuerlich, was der Alte gesagt hatte. Sein Vater hatte seine Mutter umgebracht, indem er einen Ofen manipuliert hatte …
Keinen Menschen hatte Schiller mehr geliebt als seinen Vater – nicht Carla, seine ehemalige Freundin, nicht die drei, vier Frauen, die es davor gegeben hatte. Und auch seine schweigsame, immer ein wenig zu träumerisch wirkende Mutter nicht. Sein Vater, der freundliche, muskulöse Motorradpolizist, war sein Vorbild gewesen, das er später jahrelang vermisst hatte.
Er spürte, dass sich sein Herzschlag beschleunigte. Die Kehle war wie ausgetrocknet. Er brauchte dringend einen Kaffee oder besser noch einen guten Rotwein. Zweimal summte sein Smartphone. Birte versuchte ihn zu erreichen, und Nadine hatte auch eine Nachricht geschrieben. »Hebe gleich ab, mein Polizist. War trotzdem schön mit dir. N.«
Trotzdem … Ihm aber kam es vor, als wäre ihre gemeinsame Nacht schon lang vergangen, wäre vor einer Ewigkeit passiert.
Als Birte noch einmal anrief, nahm er nicht ab, sondern ließ den Motor an. Ja, sie warteten im Präsidium auf ihn. Wahrscheinlich hatte Fitschen wegen der toten Frau eine Konferenz angesetzt, und sie sollten auch baldmöglichst eine Pressemeldung herausgeben, aber zuerst musste er für sich etwas klären.
Mit quietschenden Reifen raste er los. Was hatte dieser Chorleiter gesagt? Therese hatte ihm gedroht, und deshalb hatte er sich von dem damals vierzehnjährigen Jungen ferngehalten? Also musste sie etwas von der Affäre seiner Mutter gewusst haben. Aber konnte das sein – dass sie achtundzwanzig Jahre lang kein Wort darüber verloren hatte?
Wut und gleichzeitig Ratlosigkeit erfüllten ihn. Therese war der aufrichtigste Mensch, den er kannte. Sie konnte eine Träne vergießen, wenn sie einen toten Igel in ihrem Garten fand, und sie gab ihr letztes Hemd für Menschen, die in Not waren.
Vom Südfriedhof brauchte er nicht mehr als zwanzig Minuten bis nach Seeberg. Er würde sie stellen, ihr keine Möglichkeit für Ausflüchte geben, nahm er sich vor.
Als er in die schmale Straße einbog, sah er Birtes Alfa vor der Tür sehen. Sie sprach mit einer Frau, die ein Kind auf dem Arm hielt und die offensichtlich zu Therese gewollt hatte. Mit düsterer Miene stieg die Frau, eine noch recht junge Türkin, in ein Taxi, das neben dem Alfa wartete.
»Therese ist nicht da«, rief Birte ihm zu, nachdem er ausgestiegen war.
»Wahrscheinlich läuft sie umher und sucht diese Julika«, sagte Schiller.
Birte nickte. Er sah ihr an, dass sie ihn am liebsten gefragt hätte: Und warum bist du hier?, doch dann erklärte sie, dass sie eine junge Frau am Bahnhof aufgelesen und zu Therese hatte bringen wollen.
Schiller versuchte, die alte Hebamme am Smartphone zu erreichen, doch es sprang nur ihre Mailbox an. Er hinterließ eine kurze Nachricht. »Ich muss dich sprechen«, sagte er. »Ich hoffe, du machst keine Dummheiten. Ich war am Grab und habe diesen Friedbert getroffen.«
»Friedbert?«, fragte Birte, die seine Nachricht an Therese mitgehört hatte. »Wer ist Friedbert?«
Schiller antwortete nicht sofort darauf. Sein Zorn auf Therese war nicht abgeflaut, im Gegenteil, nun, da er sich auch noch auf die Suche nach ihr begeben musste, wuchs er noch.
»Eine Privatsache«, sagte er dann ungewöhnlich barsch. »Wo willst du diese Frau unterbringen?«
»Ich wollte ein Hotel suchen. Sie könnte uns nützlich sein.«
»Nein, kein Hotel«, sagte er nun versöhnlicher, »ich habe eine bessere Idee.«
Zwei Menschen gab es auf der Welt, die ihn sein Leben lang begleitet hatten: Der eine war Therese, der andere Henning Broder, sein bester Freund seit den gemeinsamen Tagen im Kinderheim. Broder hatte viele Krisen durchlebt. Eine Zeit lang hatte er wie ein Obdachloser im Garten einer Kirchengemeinde in Nippes gehaust, hatte Müll gesammelt und gelegentlich ein Bild gemalt. Dann war er angeschossen worden, eine Kugel in den Kopf, und hatte mühsam wieder lernen müssen, zu gehen und zu sprechen, doch er hatte sich zurück ins Leben gekämpft. Nach der schweren Verletzung war er eine Weile eine Berühmtheit in Köln gewesen; das hieß, seine Bilder waren zu horrenden Preisen verkauft worden. Sogar ein Museum hatte eines erworben. Er konnte sich nun eine kleine Wohnung und ein Atelier in einem Hinterhof in Nippes leisten.
Danuta war schüchtern zu Schiller in den Wagen gestiegen, während Birte ins Präsidium gefahren war. Sie blickte starr geradeaus.
Was genau haben Sie am Bahnhof gesehen?, wollte Schiller sie fragen, doch dann überlegte er es sich anders. »Dieser Mann, zu dem ich Sie bringe, ist mein bester Freund. Wer ist das bei Ihnen – wer ist Ihr bester Freund?«
Sie sah ihn an. Sie war hübsch, ein kleines, blasses Gesicht mit hohen Wangenknochen. Blonde Haare umrahmten es; ihre hellblauen Augen wirkten ein wenig zu groß. Sie hätte – wenn man von ihrer Erschöpfung absah – auch eine Schwedin aus einem Bilderbuch sein können.
»Ich weiß nicht«, sagte sie mit ihrem schweren osteuropäischen Akzent. »Ich hatte einen Freund … Matas, aber er wollte unbedingt in die USA … und dann …« Sie verstummte.
»Und dann?«, fragte er nach.
»Meine