Schöner Tod. Astrid Keim

Schöner Tod - Astrid Keim


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zu zerstören, die Zerstörung wird noch kommen – dieses Leben auszulöschen, wie man eine Kerze auslöscht?

      Stechende Rückenschmerzen machen ihr bewusst, dass sie wohl mehrere Minuten in der halbgebeugten Stellung verharrt hat. Wieder mahnt die Vernunft, die Polizei zu informieren, aber genau diese Vernunft lässt sie auch zögern. Nur allzu gut weiß sie, was jetzt ­kommen wird. Spurensicherung, Absperrung des Fundorts, Eintreffen des Gerichtsmediziners, des Fotografen. Bestandsaufnahme in aller Routine und Nüchtern­heit. Es erscheint ihr wie ein Sakrileg, die Ruhe dieses Körpers zu stören.

      Sie könnte Thomas anrufen, dann müsste sie das Unvermeidliche nicht allein durchstehen. Mit Thomas Aumann verbindet sie eine langjährige Freundschaft. Zuerst war es der Beruf, der sie zusammenführte. Neunzehn Jahre ist es her, als sie ihn im Rahmen eines Prozesses um die Entführung und Ermordung eines Kindes kennenlernte. Er war ein junger Kriminal­kommissar, zumindest kam er ihr so vor, mit gut zehn Jahren Altersunterschied, aber sein akribisches Vorgehen, seine soziale Kompetenz, die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, Mitgefühl zu zeigen, nötigten ihr von Beginn an Achtung ab und führten schließlich zu einer Freundschaft, die auch seine wechselnden Partnerinnen und Christoph einbezog. Ausgerechnet er, der sich eine Familie wünschte, hat in Liebesdingen wenig Glück gehabt. Die längste Beziehung dauerte zwei Jahre, es wollte sich einfach nichts Festeres ergeben, und heute, mit über fünfzig, hat er wohl aufgegeben, darauf zu hoffen.

      Ja, es wäre gut, Thomas direkt anzurufen, dann hat sie wenigstens einen Freund an ihrer Seite, wenn der ganze Tross eintrifft. Sie erwischt ihn sofort, als hätte er den Anruf erwartet. Er sei auf dem Weg nach Hause und wollte gerade Jenny Bescheid sagen, dass er früher komme. Heute sei eine der seltenen Gelegenheiten, ein paar Überstunden abzufeiern. Jenny, wer ist Jenny?, fährt ihr durch den Sinn, sie schiebt aber die Neugier beiseite, es gibt jetzt Wichtigeres. Mit etwas schlechtem Gewissen, da sie seine Freizeitplanung zunichte machen wird, berichtet sie von ihrem Fund.

      »Ich bin sofort da, alarmiere nur noch die Truppe.«

      »Halt«, stoppt sie ihn, bevor er auflegen kann, »die Portale sind zu. Man kann sie natürlich öffnen lassen, aber das dauert eine Weile. Am besten fahrt ihr ein Stück weiter. Kurz vor dem Eingang des Jüdischen Friedhofs ist eine Schranke. Wenn ihr Sprechkontakt aufnehmt, wird sie gehoben.«

      »Ist der Fundort weit vom Eingang entfernt?«

      »Nein, nur ein paar Schritte vom Alten Portal aus.«

      »Dann parken wir dort und kommen zu Fuß rein, so können keine Spuren zerstört werden. Es wäre allerdings gut, wenn du uns hinführen würdest. Warte am Parkplatz auf uns.«

      Sie macht sich sofort auf den Weg, denn die Anfahrt wird nicht lange dauern. Das Polizeipräsidium liegt ganz in der Nähe. Thomas ist als Erster da, er war bereits am Auto, als ihn der Anruf erreichte. Als die Kollegen eintreffen, hat sie ihm den Sachverhalt bereits hastig erklärt, und er gibt die Informationen knapp und präzise weiter. Sie lotst die kleine Kolonne in Richtung Neues Portal. Nach ungefähr 100 Metern wendet sie sich nach rechts. Jetzt sind es nur noch ein paar Schritte, und das Grabmal liegt vor ihnen.

      Nachdem sich Thomas mit aller Vorsicht einen ersten Überblick verschafft hat, kehrt er zu ihr zurück. Sie steht etwas abseits, um die Spurensicherung nicht zu behindern. Seine Lippen sind ­zusammengekniffen, und die Querfurchen auf der Stirn treten deutlicher als sonst hervor. Er fährt sich mit der Hand über sein immer noch dichtes Haar, in dem das Grau begonnen hat, das dunkle Braun zu verdrängen. »Es ist ­unfassbar, was Menschen bereit sind, anderen Menschen anzutun. Selbsttötung halte ich wegen der Folie für unwahrscheinlich, obwohl man auch diese Möglichkeit genau prüfen wird. Es sieht eher so aus, als sei das Mädchen sorgfältig gebettet und die Kleidung arrangiert worden.« Auch er scheut sich offenbar, von einer Toten oder schlicht der Leiche zu reden, empfindet die Lebendig­keit im Angesicht des Todes.

      Thomas legt den Arm um ihre Schultern: »Geh nach Hause, im Moment kannst du nichts tun. Ich informiere die Kollegen über deine Personalien. Sobald die Spurensicherung abgeschlossen ist, wirst du Besuch bekommen, um deine Aussage zu protokollieren.«

      »Kannst du das nicht machen?« Laura schaut ihn bittend an.

      »Wo bleibt deine Professionalität? Schon vergessen, dass eine neutrale Person wesentlich besser dafür geeignet ist? Natürlich bezweifele ich nicht, dass du auch mir den Sachverhalt genau schildern würdest, aber du weißt, welche Wichtigkeit selbst das kleinste Detail hat. Um das herauszulocken, hat jemand Unbefangenes nun mal wesentlich bessere Chancen als ein langjähriger Freund.«

      Laura kommt nicht umhin, zuzustimmen. Doch bevor sie sich auf den Nachhauseweg macht, braucht sie noch eine dringende Auskunft.

      »Wann gebt ihr eigentlich die Sache an die Presse?«

      »Sobald wir hier fertig sind. Zwecklos, es aufzuschieben. Ich bin ohnehin überrascht, dass offenbar noch niemand von der Sache Wind bekommen hat. Normalerweise ist die Meute schon da, bevor die Spuren­sicherung fertig ist. Du brauchst keine Angst zu haben«, nimmt er ihre Befürchtungen vorweg, »dein Name wird nicht erwähnt. Eine Spaziergängerin hat die Leiche gefunden. Punkt.«

      Mit der Bitte, sie auf dem Laufenden zu halten, wendet sie sich zum Gehen. Thomas schaut ihr nach. Er freut sich über das Treffen, auch wenn ihm ein anderer Anlass lieber wäre. Seit Christophs Tod haben sie sich nicht mehr gesehen, auch nicht telefoniert, obwohl er seine Unterstützung angeboten hatte. Als sie sich nicht meldete, nahm er an, dass sie Zeit brauche, um sich zu fangen, und wollte sich nicht aufdrängen. Mehrmals hatte er den Telefonhörer in der Hand, war dann aber doch nicht mutig genug, ihre Nummer zu wählen. Aber in seinen Gedanken war sie oft präsent. Natürlich gab es keinen Grund für sie, sich ausgerechnet an ihn zu wenden, um sich trösten zu lassen. Da gibt es andere, die ihr näher stehen, das muss er zugeben. Aber gewünscht, sie trösten zu dürfen, das hatte er schon.

      Die Uhr bei der Friedhofsgärtnerei zeigt kurz vor drei, als Laura dort vorbeiradelt. Der angekündigte Besuch wird sicher nicht vor fünf erfolgen, Zeit genug also, um einen Abstecher ins Café Wacker im Mittelweg zu machen, eine heimelige Oase, nur einen Steinwurf entfernt von der hektischen Betriebsamkeit des Oederwegs. Genau das, was sie braucht, um ihre Gedanken zu sortieren.

      Eine Tasse Kaffee mit aufgeschäumter Milch und ein Stück Himbeertorte ohne Sahne sollten helfen, den Ablauf der Geschehnisse stichpunktartig zu ­rekapitulieren. Sie leiht sich einen kleinen Bestellblock samt Kugelschreiber und versucht, sich zu konzentrieren.

      Die Aussicht auf den Kuchen jedoch bringt eine Ablenkung, denn als Erstes fällt ihr ein, was für ein Privileg es ist, Anfang März in den Genuss von Himbeeren zu kommen. Besonders während der kalten Jahreszeit sehnt sie sich nach diesen Früchten. Das war schon in der Kindheit so. Für sie als Novembergeborene stand die Himbeertorte ganz oben auf der Wunschliste. Früher gab es nur eingemachte oder tiefgefrorene, beide zwar etwas matschig, aber doch mit den Aromen des Sommers. Als dann die ersten frischen im Winter kamen, war das eine Sensation. Um nichts in der Welt möchte sie jetzt darauf verzichten. Eigentlich ist sie Gegnerin des Imports von Lebensmitteln aus weit entfernten Regionen, erstens wegen der katastrophalen Energiebilanz, zweitens aus Bedenken vor zugesetzten Pestiziden. In Bezug auf Himbeeren macht sie allerdings eine Ausnahme. Der Geschmack von frischen schlägt die anderen um Längen, und so fallen sie unter die Amnestie. Genauso wie der Kuchen, welcher den Früchten erst zur Vollkommenheit verhilft.

      Als sie bemerkt, wie ihre Gedanken abschweifen, ruft sie sich zur Ordnung. Sie muss sich konzentrieren und den Ablauf rekapitulieren, solange er noch frisch im Gedächtnis ist. Dieses Vorgehen war mit das Erste, was sie bei Zeugenbefragungen lernte. Wenn kein Mikrofon zur Hand war und keine Möglichkeit bestand, Notizen zu machen, war das Gedächtnisprotokoll direkt im Anschluss die einzige Chance, Ergebnisse fehlerfrei zu sichern.

      Wie also war der Ablauf? Nachdenklich malt sie kleine Spiralen auf das Blöckchen. Gibt es etwas, das ich vergessen habe? Schritt für Schritt geht sie die Situation durch, vom Entziffern der Inschrift bis zur Entdeckung des leblosen Körpers, und notiert die einzelnen Punkte. Das Gesicht. Sie hat den vagen Eindruck, es irgend­wann schon einmal gesehen


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