In der Waldklause - Märchen für kleine und große Kinder bis zu 80 Jahre und darüber. Augustin Wibbelt

In der Waldklause - Märchen für kleine und große Kinder bis zu 80 Jahre und darüber - Augustin Wibbelt


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mir doch noch überlegen.

      Nun müsst ihr nicht spotten und sagen: Der alte Waldbruder hat bloß geträumt. Die Träume, liebe Kinder, sind oft das Beste im Leben; aber das versteht ihr noch nicht. So, nun erzählen wir uns Geschichten und singen ein Lied, und dann bekommt ihr zum Abschied eine Handvoll Nüsse, damit ihr nächstens gerne wiederkommt.

      Das Märchen

      Mit Ungeduld habe ich euch erwartet, denn ich habe euch viel zu erzählen. Setzt euch schnell ans Feuer! Die Mädchen kommen auf die Bänkchen, die haben die sieben Zwerge mir eigens für sie gezimmert. Und die Knaben können sich dort in das dürre Laub legen und die Beine von sich strecken nach Herzenslust. Knaben können ja nicht gut stillsitzen und stellen die Beine am liebsten in die Höhe. Nur zu! Ihr müsst euch aber nicht stoßen wie junge Ziegenböckchen. Der Knüppel-aus-dem-Sack lauert immer noch hinter der Tür.

      Nun denkt euch, ich habe dieser Tage Besuch gehabt. Ihr sollt nicht raten, von wem. Von dem Märchen! Das ist ein uraltes Großmütterchen mit einem braunen, faltigen Gesicht unter der großen Haube; aber die Augen sind jung wie die Frühlingssonne. Es geht gebückt in dem dicken, weiten Mantel; aber die Füße sind flink wie Kinderfüße. Und eine Stimme hat es, so klar wie ein Silberglöcklein. Ich war gerade dabei, einen Weidenkorb zu flechten; man muss sich seinen Hausrat selbst anfertigen, so viel man kann. Wenn man Tannenzapfen sammelt, muss man einen ordentlichen Korb haben. Tannzapfen sind so gut zum Feueranmachen.

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      Da kam das uralte Mütterchen herangetrippelt und bot mir freundlich einen guten Tag.

      Ich sagte: »Guten Tag, Großmutter Märchen! Wo kommt Ihr denn her, und wo wollt Ihr denn hin?« Mit dem Märchen muss man nämlich altmodisch sprechen, denn es ist von der alten Welt.

      »Waldbruder«, sagte das Großmütterchen, »darf ich mich ein wenig bei Euch ausruhen?«

      Und wie es den dunklen Mantel etwas lüftete, sah ich, dass es ein blitzgoldenes Kleid darunter anhatte. Nun saßen wir denn bald gemütlich an meinem Herd, und das Feuer fing auf einmal von selbst an zu brennen und zu prasseln, und es wurde ganz hell und behaglich in der alte Klause. Die Eule kam gleich aus ihrem Winkel herangeflogen und setzte sich dem Märchen auf die Schulter und sagte: »Uhuuu!«

      Ich fragte, ob ich einen braven Kaffee brauen sollte, denn so alte Großmütterchen lieben gewöhnlich einen kräftigen Kaffee.

      »Nicht nötig«, schmunzelte das Märchen und zog ein Fläschchen hervor, »habt Ihr ein Gläschen zur Hand?«

      Da wurde ich erst ein bisschen verlegen und bemerkte schüchtern, ich tränke keinen Branntwein. Da hättet ihr hören sollen, wie das Mütterchen lachte! Es klang, als wenn eine ganze Handvoll Goldperlen eine silberne Treppe herunterrollte. Die Eule plusterte sich dick auf vor lauter Vergnügen und knappte mit ihrem Schnabel.

      »Wie könnt Ihr von Branntwein sprechen, Waldbruder!«, rief das Märchen und wischte sich die Lachtränen aus den Augen. »Dies ist Maientau, vermischt mit Kleeblütenhonig und Nektar aus Geißblattblumen, auch eine kleine Prise vom Samen des Hexenkrautes ist darin.«

      »Das habe ich noch nie gekostet«, sagte ich, »ein Glas habe ich nicht, aber ich habe eine halbe Eierschale, die ich unter dem Turteltaubennest gefunden habe.«

      »Gebt her«, sagte das Mütterchen, und als es nun vorsichtig ein paar funkelnde Tropfen in das weiße Schälchen goss, da duftete die ganze Klause. Die Eule wollte gleich mittrinken, sie kriegte aber eins auf den Schnabel.

      Wie das Tröpfchen schmeckte, kann ich euch gar nicht sagen, liebe Kinder! Es rann mir durchs Blut wie Rosenfeuer, und ich fühlte mich mit einem Schlage kinderjung. Ich hätte wahrhaftig bald einen Purzelbaum geschlagen, aber ich genierte mich vor der alten Eule, die etwas verstimmt in ihren Winkel geflogen war und ganz große, runde Augen machte.

      Nun haben wir ein schönes Plauderstündchen gehalten, und die Zeit verflog im Nu. Das Märchen erkundigte sich zunächst nach den sieben Zwergen, ob sie mir auch fleißig hälfen. Ich konnte sie nur loben, und daraufhin versprach das Mütterchen, sie sollten jeder ein funkelnagelneues, rotes Röckchen haben. Das wird sie freuen, denn die Kerlchen sind eitel. Unterdessen hatte das Märchen einen Rocken von gelbem Flachs hervorgeholt und ließ die Spindel tanzen.

      Ich dachte mir gleich, dass es dieselbe Spindel sei, an der Dornröschen sich gestochen hatte, und fragte, wie es der jungen Königin gehe.

      »Sie lebt ganz vergnügt«, sagte das Märchen, »und hat schon drei Prinzlein, die alle Hagebutte heißen. Der älteste Hagebutt hat eine Tochter von Schneewittchen gefreit, und es ist eine große Hochzeit gewesen. Rübezahl hat sich dabei den Magen verdorben, weil er bloß die mageren Rüben gewöhnt war. Aber jetzt ist er wieder gesund, nachdem er einen Schiebkarren voller Rettiche gegessen hat.«

      Dann erzählte sie mir, Rotkäppchens Großmutter sei immer noch am Leben und säße den ganzen Tag an der Wiege und sänge »Schlaf, Kindlein, schlaf!«. Denn Rotkäppchen habe den Jäger geheiratet, und die Geiß mit den sieben Geißlein hätte bei ihnen eine fette Weide gefunden.

      »Was macht denn der kleine Däumling?«, fragte ich.

      »Oh, der!«, rief das Märchen, »der ist groß und stark geworden. Er ist Hufschmied geworden und beschlägt den vier Haymonskindern das starke Ross Bayard, wenn sie von ihren Fahrten nach Hause kommen. Und der freche Junge, der auszog, um das Fürchten zu lernen, ist jetzt ein alter Mümmelgreis und hat nur noch einen Zahn.«

      Ich hatte immer schon ein Scharren und Kratzen gehört vor meiner Klause, und als ich die Tür öffnete, war das ganze Waldgetier draußen versammelt, das vierbeinige und das geflügelte. Sogar ein Schlänglein war darunter, aber eine harmlose Ringelnatter. Sie wollten alle das Märchen begrüßen.

      »Kommt nur alle herein«, rief das Mütterchen, »aber seid hübsch artig.«

      Im Augenblick war die ganze Waldklause voll bis auf das letzte Eckchen. Und nun fing das Mütterchen an zu erzählen, die allerschönsten Märchen und Geschichten, bis der graue Morgen verwundert durch das Fensterlein blickte. Jetzt weiß ich so viele schöne, neue Sachen, dass ich gar nicht mehr fertig werde, wenn ich einmal anfange. Ihr sollt noch euer blaues Wunder erleben.

      Mein Patenkindchen

      Was man doch nicht alles erleben kann, sogar mitten im einsamen Walde! Ihr wisst, die letzten Tage war kaltes Wetter eingefallen, und es fror Stein und Bein. Nun, mir hat es nichts getan. Ich habe einen tüchtigen Eichenklotz ans Feuer gelegt und habe es draußen stürmen und schneien lassen nach Herzenslust. Gestern Mittag hatte es sich etwas aufgehellt, und ich hatte einen kurzen Gang gemacht durch das Tannicht, um zu sehen, ob die Meisen noch Hanfsamen in ihrer Vogelglocke haben. Es ist eine richtige Berlepsche Vogelglocke von rundem Glas, in das man Hanfsamen schüttet. Der Samen bleibt schön trocken und fällt langsam durch die untere Öffnung in ein Schälchen, das darunter befestigt ist.

      Dann kommen die kleinen Meisen und klammern sich mit ihren geschickten Zehen an das Schälchen und knuspern den fetten Samen. Oh, das tut ihnen so gut in der Winterkälte! Ihr könntet auch eine solche Meisenglocke aufhängen in eurem Garten. Meine Glocke war noch halbvoll, und Herr Meis und Frau Meise haben sich bereits bestens bedankt.

      Als ich heimging, kratzte ich mir ein Flöckchen Moos von dem alten, grauen Stein, der neben der Klause liegt. Ich nahm es mit herein und legte es auf den Tisch. Dann holte ich ein dickes, gelehrtes Buch, um den Namen der Moospflänzchen nachzuschlagen. Sie sind nicht leicht zu bestimmen, und gerade die kleinsten Pflänzchen haben die längsten Namen, in die man sie wohl zehnmal einwickeln könnte. Als ich das Moos nun auseinanderzerrte, hörte ich ein ganz leises, feines Stimmchen; ich bin nämlich sehr scharfhörig.

      Es rief: »Nun drück mir doch mein armes Bäuchlein nicht platt!« Ich war sehr verwundert, denn ich sah nichts, so genau ich auch durch meine Brille hinschaute. »Wer bist du denn?«, fragte ich.

      Da


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