Die zweite Leiche. Frits Remar
Ich schätzte ihre Größe auf einsfünfundsechzig, ihr Gewicht auf 55 Kilo. Sie mochte etwa 22 Jahre alt gewesen sein, aber das war nicht so wichtig. Ich werde ihr Gesicht nie vergessen.
Die hellblonden Haare waren zu einer knabenhaften Kurzhaarfrisur geschnitten. Die Backenknochen traten vor, der Mund war ziemlich groß. Die Ohren lagen eng an dem runden Kopf. Das Kinn wirkte energisch; die regelmäßigen Zähne waren gepflegt. Ich griff nach dem Ring, ließ ihn aber sogleich los und schämte mich.
Schließlich beschäftigte ich mich mit dem Medaillon. Es schien mir aus alter Zeit zu sein – meine Mutter hatte ein ähnliches gehabt. Darin hatte sie ein Bild meines Vaters gehabt, aber als der Schuft mit einer Kellnerin verduftete, ohne sein Reiseziel anzugeben, warf sie das Bild weg und steckte statt dessen einen Zettel mit ihrer Krankenkassennummer hinein, die sie sonst immer vergaß.
Ob das Medaillon des Mädchens wohl etwas enthielt? Ich öffnete es, und da hatte ich das Bild eines Mannes vor mir. Er war in meinem Alter, vielleicht ein wenig jünger, um gerecht zu sein. Ihr Vater vielleicht? Aber nein. Er hatte zwar graugesprenkelte Schläfen, aber man sah, daß die Haare kohlschwarz waren. Konnte er eine so hellblonde Tochter haben? Ich untersuchte bei ihr den Haaransatz. Die Haare waren durch und durch blond, es sei denn, sie hätte sie gestern oder vorgestern färben lassen.
Der Mann konnte nicht ihr Vater sein. Wer aber war er? Möglich, daß es aus den Presseberichten in Zusammenhang mit den Nachforschungen hervorging. Sie mußte ja in ihn verliebt gewesen sein, sonst hätte sie sein Bild nicht mit sich herumgetragen. Sicher kannten ihre Angehörigen ihn, so daß die Presse ihn erwähnen würde.
Ich nahm das Medaillon an mich und nach kurzem Bedenken auch den Ring. Vielleicht war es notwendig, ihn zu besitzen, wenn es um die Identifizierung ging. Ich hatte nämlich einen Entschluß gefaßt. Ich wollte herausfinden, wer der Mörder war. Die Ergebnisse der polizeilichen Nachforschungen wurden sicher laufend veröffentlicht, und ich wußte ja etwas, wovon die Polizei nichts in Erfahrung bringen konnte, so daß ich imstande war, mir zwei und zwei zusammenzureimen.
Dann wollte ich – ich schäme mich nicht, es zu sagen – von dem Menschen so viel Geld erpressen, daß er auf die Knie gezwungen wurde. Eine schlimmere Strafe als zwölf Jahre Gefängnis. Das wollte ich nämlich tun, solange ich lebte. Wenn ich mich vorsah, konnte ich noch gut zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre hinter mich bringen. Der Mörder bekam seine gerechte Strafe, und für mich fiel etwas ab. Eine angenehme Entschädigung für die überstandene Aufregung.
Die Ruhe des Entschlossenen befiel mich, und ich führte automatisch die notwendigen Handgriffe aus, um jede Spur von den beiden Frauen zu vertilgen. Ich nahm das Mädchen aus dem Sarg, und nachdem ich die Ofentür geöffnet und die beiden Leichen ihrem barmherzigen, läuternden Schicksal überlassen hatte, wie der Pfarrer zu sagen pflegte, ließ ich den Katafalk wieder zu mir herunter. Ich schob den Sarg darauf und schickte den Katafalk abermals nach oben, während ich selbst die Treppe hinaufging und den Karren holte, auf dem wir die Särge immer beförderten, wenn sie zu schwer waren.
Der Karren hatte dieselbe Höhe wie der Katafalk, so daß es keine große Sache war, den Sarg darauf zu verladen. Schwieriger war es, den Karren durch den Mittelgang der Kapelle zur Tür zu ziehen. Ich ging flott hinaus. Es hatte keinen Zweck, verstohlen zu wirken. So kann man derartige Dinge nicht bei Tageslicht erledigen. Es war erst drei Uhr nachmittags, und die Sonne stand noch hoch, aber der Friedhof war wie gewöhnlich menschenleer. Ich holte das Auto von der anderen Seite der Kapelle und fuhr rückwärts zur Tür. Dann machte ich die Doppeltür weit auf und hakte sie fest, damit sie nicht zuschlug. Die Rampe des Leichenwagens hatte ich schon heruntergeklappt.
Es dauerte keine zwei Minuten, den Sarg in den Wagen zu schaffen, die Vorhänge zuzuziehen, zum Parkplatz zu fahren, die Kapellentür zu schließen und den Karren an seinen Platz zu bringen.
Ich kehrte in den Keller zurück und blickte in den Ofen. Alles verlief normal. In einer Stunde war alles überstanden. Ich legte die drei leeren Bierflaschen in meine alte Ledermappe und besorgte mir im Laden um die Ecke neue Stärkung. In fünf Minuten war man dort, aber ich ließ mir Zeit. Auch zu einem kleinen Schwatz mit dem Verkäufer. In einer kritischen Situation sollte er nicht aussagen können, ich wäre an dem Tage anders gewesen als sonst.
Als ich wieder im Keller war, sah ich abermals im Ofen nach. Dann setzte ich mich mit meinem Bier hin und versuchte, in Ruhe alles zu überlegen. Ja, ich versuchte es, denn das war gar nicht so leicht. Ich hatte unterwegs an den Händen geschwitzt, und im Laden hatten mir die Beine gezittert. Ich mußte tief durchatmen, damit mein Herz zu galoppieren aufhörte. Die verdammten Nerven. Was könnte man nicht alles ausrichten, wenn sie nicht wären!
Es blieb mir nur ein Weg. Vorwärts. Ich hatte die Brücke hinter mir verbrannt ... nein, abgerissen, und jetzt blieben mir bloß zwei Möglichkeiten – entweder alles gut sein lassen oder den Mörder finden, um ihn auf klassische Weise zu erpressen. Ich hatte noch nie einen Menschen erpreßt, aber das konnte ja nicht viel schwieriger sein als alle die kleineren oder größeren Spitzbübereien, an denen ich mich früher versucht hatte. Bisher war mir das Glück immer hold gewesen. Ich war nie ertappt worden und hatte nie gesessen. Meine Papiere waren fleckenfrei. Sonst hätte ich ja meine Stellung hier nicht bekommen. Immerhin fand ich mein Vorhaben gefährlich. Ich bekam es ja mit einem Mann zu tun, der einen Mord begangen hatte. Man sagt doch, es sei leichter, zum zweitenmal zu morden ...
Ich mußte ihm weismachen, wenn ich in 24 Stunden nichts von ihm hörte, hätte mein Anwalt den Auftrag, einen versiegelten Umschlag mit gewissen Papieren und Gegenständen der Polizei auszuliefern. Er solle sich also lieber zur Bezahlung bequemen und mich ungeschoren gehen lassen.
Ob ich diese Drohungen wohl so vorbringen konnte, daß sie echt klangen? Nein, ein solches Vorgehen war zu gefährlich. Ich mußte mich damit begnügen, mit ihm schriftlich in Verbindung zu treten. Komisch, die ganze Zeit schwebte mir ein Mann vor. Es konnte aber nur ein Mann sein. Eine Frau hätte für derartige Machenschaften sicher nicht die erforderlichen Kräfte und Nerven gehabt. Übrigens auch die meisten Männer nicht. Außerdem beruhte meine Vermutung auf dem Bild in dem Medaillon. Nun, zuerst mußte ja der Abgebildete ermittelt werden. Bis dahin würde mir wohl ein wasserdichtes Vorgehen einfallen.
Abends halb sieben war die Verbrennung beendet, und ich ließ den Eisenschlitten aus dem Ofen ausfahren. Nun kam die unangenehmste Arbeit. Ich schaufelte die Asche heraus. Es war eine ziemliche Menge. Gewöhnlich betrug das Gewicht drei bis vier Kilo; diesmal waren es mindestens sechs Kilo. Ich mußte sie zweimal durch den Aschebehandlungsapparat gehen lassen. Ich ließ sie ein Weilchen zur Abkühlung stehen, bevor ich sie einschüttete. Die Kontrollnummer, die aus gebranntem Ton besteht, legte ich zuunterst in die Auffangurne; dann stellte ich den Motor und den Staubsauger an. Gleichzeitig gingen die beiden elektrischen Birnen in dem Apparat an, so daß ich durch die Glasscheibe beobachten konnte, ob der Apparat richtig arbeitete. Die Asche lief durch zwei rotierende Walzen, die sie zerrieben, bevor sie auf das Förderband fiel, das sie über eine Magnettrommel führte.
Durch den Magnet werden alle Eisenteile aus der Asche entfernt, Sargnägel und -schrauben, Griffe, Scharniere und dergleichen. Den Staub, der beim Niederfallen der Asche in der Urne aufgewirbelt wird, fängt die Staubsauganlage auf.
Das Ganze dauerte eine halbe Stunde; dann stand die verschlossene Urne an ihrem Platz, bis die Beisetzung stattfinden würde. Irgendwann in der nächsten Woche. Inzwischen hatte sich der Ofen so weit abgekühlt, daß ich ihn ausräumen und reinigen konnte. Ich stellte die Geräte weg, zog mich um und ging zum wer weiß wievielten Male an diesem Tage die Treppe hinauf.
Schnell und ohne viel Worte wickelte sich das Geschäft beim Leichenbestatter ab. Ich erhielt meine hundert Kronen und auch Larsens Anteil. Seine hundert Kronen verstaute ich in dem verschließbaren Fach meiner Brieftasche, um nicht in Versuchung zu geraten; denn ich wußte nicht, wie lang diese Nacht werden würde.
2
Dienstag, den 6. Juni, bis Donnerstag, den 22. Juni 1967
Die folgenden zehn Tage vergingen, ohne daß sich etwas ereignete. Besonders der Dienstag war höllisch zu durchstehen. Ich war erst um vier Uhr morgens nach Hause gekommen und