Die zweite Leiche. Frits Remar
heimlich, still und leise in meinen Umsatz gleiten lassen. Das ergab fünfhundert Wochen, wenn ich 50000 Kronen aus ihm herausholte. Fast zehn Jahre. Ich konnte es mir gestatten, einiges davon zusammenzusparen, so daß es mir vergönnt war, einmal etwas Großes zu kaufen oder Ferien zu machen. Auf Mallorca, in Italien, in Griechenland, ja in der ganzen Welt – alles stand mir offen, wenn ich jede Woche einen steuerfreien Hunderter unter die Matratze steckte. Bis jetzt hatte ich jede Woche durchschnittlich zweihundert Kronen mit den Särgen und dem Schmuck dazuverdient, aber das ging immer für Zigaretten und Bier drauf. Die neuen Hundertkronenscheine bedeuteten eine fast fünfzigprozentige Erhöhung meines wöchentlichen Taschengeldes.
Ich verdiene wöchentlich 450 Kronen als Ofenwart, aber wenn ich Miete, Steuern, das Essen und andere feste Ausgaben bezahlt habe, bleiben mir nur 75 Kronen für Kleidung, Ferien und Taschengeld, so daß es wohl nicht verwunderlich ist, wenn ich vom einwandfreien Lebenswandel abgekommen bin. Ich lebe gern und gut, bin nicht aus Holz, und ein bißchen sogenannten Sex muß der Mensch ja auch haben; aber dazu reicht mein Gehalt leider nicht.
Am folgenden Tag fuhr ich abermals zum Hauptbahnhof, aber eine Stunde später, so daß meine vierundzwanzigstündige Aufbewahrungsfrist abgelaufen war. Laut Reglement würde mein Fach leer oder gesperrt sein. Es war denn auch leer.
Ich begab mich zum Handgepäckschalter und sagte: »Entschuldigen Sie, daß ich mich verspätet habe. Ich hätte gern meinen Koffer zurück. Schließfach Nummer 91. Hier die zwei Kronen Gebühr.«
Ich hatte es mit einem älteren Mann in überlangem blauem Kittel zu tun. Er musterte mich sauertöpfisch und brummte: »Den Schlüssel bitte.«
Ich kramte vergeblich in meinen Taschen und murmelte: »Das verstehe ich nicht ...«
Er sah mit der gleichen mürrischen Miene zu, während ich nochmals überall suchte.
»Ich kann Ihnen Ihren Koffer nicht herausgeben, wenn Sie den Schlüssel nicht abliefern. Woher soll ich wissen, daß er wirklich Ihnen gehört?«
»Ich kann ihn beschreiben«, erwiderte ich. »Ich kann Ihnen genau sagen, was darin ist.«
»Macht fünf Kronen«, sagte er.
»Was?« rief ich. Er konnte nicht ahnen, daß ich das Reglement gründlich durchgelesen hatte.
»Sie müssen den Schlüssel ersetzen, und das kostet fünf Kronen«, erklärte er und sah mich abwartend an.
Ich kramte einen Fünfer hervor und gab ihm das Geld. Er sagte nichts, sah mich aber immer noch erwartungsvoll an.
Ich sagte ebenfalls nichts.
Ich gewann, denn nun machte er den Mund auf.
»Wie sieht er aus?«
»Ach so, der Koffer.« Ich lächelte. »Er ist aus dunkelbraunem glattem Leder und hat an den Ecken Metallbeschläge. Er ist alt und abgenutzt. Besondere Kennzeichen hat er nicht.«
»Hm«, brummte er und schlurfte weg. Kurz darauf kehrte er mit meinem Koffer zurück.
»Ist er abgeschlossen?« fragte er und fingerte an dem einen Schloß.
»Nein«, antwortete ich.
»Was ist also darin?« Er war nicht mehr ganz so mißtrauisch.
Ich beschrieb ihm den Inhalt, worauf er den Koffer aufmachte und gleichgültig hineinschaute.
»Stimmt«, sagte er, klappte den Deckel zu und schob mir den Koffer hin. »Haben Sie einen Ausweis bei sich?« fragte er, wobei er den Koffergriff noch festhielt.
»Ja«, antwortete ich, holte bereitwillig meinen Fahrausweis hervor und reichte ihn ihm. Er verglich teilnahmslos die Fotografie mit meinem Gesicht und ließ den Koffer los.
»Sie müssen den Schlüssel zurückbringen, wenn Sie ihn finden«, sagte er, kehrte mir den Rücken und entfernte sich.
»Ja, mache ich«, gelobte ich dem Rücken, seufzte erleichtert auf und zog mit meinem Koffer ab.
Ich hatte meinen Schlüssel und mußte nun nur abwarten. Ich beschloß, sechs Wochen verstreichen zu lassen, bevor ich mich an mein Opfer heranmachte. Bis dahin war der kleine Zwischenfall mit dem Schließfach Nr. 91 bestimmt vergessen.
Nur etwas mußte ich kontrollieren, ehe ich ans Werk ging. Also fuhr ich drei Wochen später wieder zum Hauptbahnhof, um nachzusehen, ob mein Schlüssel immer noch zum Fach Nr. 91 paßte. Ja, er paßte. Es war ja auch nicht zu erwarten, daß man ein ganz neues Schloß einsetzte, wenn der Ersatz nur fünf Kronen kostete.
Weitere drei Wochen später machte ich meinen kurzen Telefonanruf. Ich hielt ein Taschentuch über die Muschel, um meine Stimme zu verstellen, und hängte den Hörer ein, ehe er sich sammeln und etwas sagen konnte. Gespannt wartete ich zwei Tage, aber es bestand keine Gefahr. Er gehorchte. Natürlich konnte ich nicht wissen, ob er die Polizei benachrichtigt hatte; aber er unterließ es. Ich war gut geschützt.
Nun kam die zweite Phase.
Ich hatte vor, ihn abermals anzurufen, doch da das Gespräch diesmal länger dauern sollte als das erstemal, war das Wagnis für mich größer, wenn ich nicht den richtigen Mann erwischte, oder wenn er sein Telefon von der Polizei hatte anzapfen lassen, so daß sie ermitteln konnte, von wo aus ich telefonierte. Deshalb traf ich auf jeden Fall Vorsorge und rief ihn von einer Telefonkabine in der Stadtbahnstation Herlev aus an. Er meldete sich sofort selbst.
»Es handelt sich um Marie Louise«, sagte ich, und ich konnte geradezu hören, wie er erstarrte.
»Ja«, sagte er heiser. »Wer sind Sie, und was wollen Sie?«
»Wer ich bin, ist unwichtig, aber ich bin im Besitz ihres Ringes«, erklärte ich, »und ich weiß, was aus ihr geworden ist.«
Er schwieg, aber ich hörte ihn schwer atmen.
»Ich verkaufe Ihnen den Ring für 10000 Kronen«, sagte ich. Da gerade ein Zug in den Bahnhof einfuhr, sprach ich rasch weiter, bevor er antworten konnte: »Ich rufe Sie in zehn Minuten wieder an. Bleiben Sie in der Nähe des Apparats.« Ich warf den Hörer auf die Gabel und stürzte zu dem Zug.
In Husum stieg ich aus, wartete ein paar Minuten, bis sich die Leute verlaufen hatten, und rief abermals an.
»Ich bin’s. Interessieren Sie sich für den Kauf?«
»Ja«, antwortete er. Er hatte jetzt seine Stimme in der Gewalt und klang ganz geschäftsmäßig. »Wie?«
»Seien Sie morgen nachmittag um fünf im Hauptbahnhof, und mieten Sie das Schließfach Nr. 91. Haben Sie verstanden?«
»Ja«, sagte er rasch, fast eifrig. »Schließfach Nr. 91. Morgen um siebzehn Uhr im Hauptbahnhof.«
»Wenn es besetzt ist, warten Sie zwei Stunden, ob es frei wird. Wenn es dann immer noch besetzt ist, verschieben wir die Sache auf übermorgen und so fort, bis das Fach einmal unbesetzt ist.«
»Und weiter?«
»Vorläufig nichts weiter. Ich melde mich in zehn Minuten wieder.«
Ich lief zum Schalter und kaufte mir eine Fahrkarte zur nächsten Station, nach Islev. Er wartete getreulich. Ich setzte meine Anweisungen fort.
»Wenn Sie das Fach Nr. 91 bekommen haben, legen Sie einen Umschlag mit zehntausend Kronen hinein. Keine neuen Fünfhundertkronenscheine. Gemischte Banknoten, keine Serien. Und Sie können es sich gern ersparen, die Banknoten zu numerieren – so dumm bin ich nicht.«
»Nein, nein«, erwiderte er. »Wenn ich nur den Ring bekomme. Welche Garantie habe ich, daß ich den Ring bekomme?«
»Keine.« Ich grinste vor mich hin. Ich sah ihn im Geist schwitzen. »Dann schicken Sie mir den Schlüssel sorgfältig verpackt. Haben Sie etwas zum Schreiben da?«
»Ja.«
»Gut. Also schreiben Sie: An E. Albertsen, Dyremosen 44, Charlottenlund. Geben Sie die Absenderadresse deutlich an. Verstanden?«
»Ich hab’s notiert.«
»Die