Die zweite Leiche. Frits Remar

Die zweite Leiche - Frits Remar


Скачать книгу
nicht körperlich. Auch ein Krematoriumsangestellter darf sich in seiner Freizeit einmal vollaufen lassen. Ich meine, ich konnte es mir nicht leisten, den geringsten Zweifel an meiner seelischen Verfassung aufkommen zu lassen.

      Die Montagnacht hatte ich richtig durchsumpft. Ich aß in einer kleinen Wirtschaft an der Svärtegade und blieb an einem Stammtisch hängen. Später machte ich mit Johansen die Runde, der zufällig Geld hatte, was mir gut paßte, da ich ebenfalls bei Kasse war.

      An sich mache ich mir nicht viel aus Johansen. Er ist Vertreter irgendeiner Firma, die der Industrie Farben und Lacke liefert. Seine Einkünfte sind unregelmäßig, so daß es für mich ein Glück war, daß er gerade einen seiner guten Tage hatte. Er könnte ein flotter Bursche sein, wenn seine zwanzigjährige ungezügelte Lebensweise nicht ihre Spuren in seinem Gesicht hinterlassen und seinen Ehrgeiz nicht untergraben hätte. Er kleidet sich elegant, und die ausholenden Bewegungen sind ihm angeboren. Er wäre gern eine große Kanone geworden, hat es aber nur zu einer kleinen Büchse gebracht.

      Als wir gegen elf Uhr abends in einem Restaurant an der Vesterbrogade saßen, sagte Johansen unvermittelt, er müsse im Hauptbahnhof seinen Koffer holen. Da ich nichts anderes zu tun hatte, ging ich mit. Es war kein besonders großer Koffer, denn er war in einem der Schließfächer aufbewahrt, in die man eine Krone steckt, die für 24 Stunden gültig ist. Johansen holte sich seinen Koffer, und wir zogen weiter.

      Mit Mühe und Not gelang es mir, die Vereinbarung am Dienstag um zehn einzuhalten. Aber ich war sogar vor dem Polizeibeamten bei der Kapelle.

      Er untersuchte die Tür.

      »Sie ist mit einem Stemmeisen oder etwas Ähnlichem aufgebrochen worden«, stellte er fest.

      Um das zu erkennen, hätte man die Polizei nicht zu bemühen brauchen. Hierauf machte er sich Notizen und zeichnete die Merkmale ab.

      »Sie können das Schloß nun instand setzen lassen«, erklärte er. »Irgendwelche Spuren von dem Dieb? Fußabdrücke oder so etwas? Hat er etwas verloren? Einen Zigarettenstummel? Ein Streichholz?«

      »Nein«, erwiderte ich. »In der Kapelle war alles sauber and ordentlich, als ich gestern herkam. Jedenfalls ist mir nichts aufgefallen.«

      »Ist seitdem reingemacht worden?«

      »Ja, die Putzfrau kommt immer morgens, fegt und wäscht den Boden auf.«

      »Hm«, machte er.

      Wir gingen hinein.

      »Fehlt noch etwas außer den beiden Kerzenhaltern?« fragte er, während wir durch den Mittelgang schritten.

      »Nein. Der Küster und ich sahen gestern alles nach. Hier gibt es ja gar nichts Wertvolles.«

      »Scheint mir auch so«, gab er gleichgültig zurück.

      Als wir zu dem Altar gelangten, zeigte er auf die Leuchter.

      »Ähnlich wie diese?«

      »Genau gleich«, antwortete ich. »Alle dänischen Krematoriumskapellen sind damit ausgestattet.«

      »Soso.« Das notierte er. »Was sind sie wert?«

      »Das Stück kostet 235 Kronen. Ein Trödler zahlt sicher nicht mehr als 50 Kronen dafür, vielleicht noch weniger, wenn er es für heiße Ware hält.«

      »Sie scheinen ja etwas davon zu verstehen«, bemerkte er und sah mich mißtrauisch an.

      Ich fluchte im stillen.

      Er ließ sich nicht weiter darüber aus, sondern ging um den Altar herum und schaute sich die Leuchter von allen Seiten an. »Wir werden sie in die Liste der gestohlenen Sachen eintragen, die versandt wird. Viel nützen wird das zwar nicht. Sie stehen sicher schon auf irgendeiner Anrichte und schmücken ein Zimmer. Derartige kleine Diebstähle sind fast nie aufzudecken. Wir können ja wegen zwei Kerzenhaltern nicht den ganzen Polizeiapparat in Bewegung setzen, was?«

      Er blickte mich scharf an, als ob ich in meiner wildesten Fantasie daran denken könnte, ihm zu widersprechen. Das kam mir gar nicht in den Sinn. Ich dankte ihm herzlich für seine Bemühungen, und wir waren gerade im Begriff, uns als die besten Freunde von der Welt zu trennen, als er plötzlich noch eine Frage stellte.

      »Wie lange war die Tür unverschlossen?«

      »Was?« ich verstand nicht, was er meinte.

      »Wann waren Sie das letztemal hier, bevor Sie gestern um 14 Uhr herkamen?«

      »Ach so.« Ich antwortete bereitwillig: »Wir hatten am Samstag zwei Bestattungen, eine um 13 und eine um 15 Uhr. Larsen und ich waren um 19 Uhr 30 mit unserer Arbeit im Keller fertig, und seitdem war niemand mehr hier.«

      »Wer ist Larsen?«

      »Mein Kollege. Gestern hatte er sich krank gemeldet. Magenbeschwerden.«

      »Soso.« Er schrieb das auf. »Wann kam die Leiche, die Sie gestern zur Ruhe betteten?«

      Er hatte eine sonderbare Ausdrucksweise. »Der Leichenwagen mit dem Sarg kam am Samstag gleich nach der letzten Trauerfeier. Das heißt, so um vier Uhr nachmittags.«

      »Und nach Ihrem Weggang war niemand mehr hier?«

      »Niemand. Das heißt ...« Ich stockte.

      »Das heißt?« half er mir weiter.

      Ich schwieg. Wieso hatte der Gärtner nicht gemerkt, daß die Tür aufgebrochen worden war, als er mit dem Blumenschmuck kam?

      Ich riß mich zusammen. »Ich wollte sagen, der Gärtner Svendsen muß gestern vormittag irgendwann hier gewesen sein, um die Blumen zu bringen.«

      »Da müßte ihm doch die aufgebrochene Tür aufgefallen sein, oder nicht?«

      »Eigentlich ja«, antwortete ich gedehnt.

      »Hat er Ihnen etwas davon gesagt?«

      »Ich habe ihn seit mehreren Worhen nicht gesehen.«

      »Gibt es hier ein Telefon?« fragte er.

      Ich führte ihn in die kleine Nebenkammer, und er rief Svendsen an, nachdem er die Nummer nachgeschlagen hatte.

      Ich hörte nur seine kurzen Fragen, doch er teilte mir hernach mit, was Svendsen gesagt hatte. Svendsen hatte nichts von einem Einbruch bemerkt, weil er die Blumen und Kränze schon am Sonntagnachmittag in die Kapelle gebracht hatte. Er hatte hoch und heilig versprochen, sie persönlich abzuliefern, aber am Montag keine Zeit dafür gehabt. Er war am Sonntagnachmittag zwischen vier und halb sechs in der Kapelle gewesen und hatte die Tür mit seinem eigenen Schlüssel abgeschlossen.

      Nun wußte ich es. Die Leiche – die zweite Leiche – war zwischen 17 Uhr 30 am Sonntag und 14 Uhr am Montag in den Sarg gelegt worden. Darum waren auch die Blumen nicht mehr so frisch gewesen.

      Der Polizist notierte, daß der Einbruch in diesem Zeitraum stattgefunden haben mußte. Er klappte sein Notizbuch zu und sagte, wir würden Bescheid bekommen, wenn die Leuchter gefunden würden, aber wir sollten nicht damit rechnen.

      Das war alles.

      Ich atmete erleichtert auf, als er gegangen war. Der Katzenjammer machte mir immer noch zu schaffen. Zum Glück fand an diesem Tage keine Bestattung statt, so daß ich nur Papierkram erledigen mußte, bevor ich nach Hause gehen und meinen Rausch richtig ausschlafen konnte.

      Das hört sich vielleicht an, als ob wir ein Faulenzerleben führten, aber das stimmt nicht. Die Arbeitszeit ist zwar unregelmäßig, doch alles in allem nicht kürzer als in anderen Berufen. Wir unterstehen einem strengen Reglement. Da wäre zum Beispiel Paragraph 6: »Muß die Asche versandt werden, so ist die Urne in eine feste Umhüllung aus Holz oder Pappe zu verpacken. Das Paket ist eingeschrieben zu versenden.«

      Larsen und ich sind auch für die Beisetzung der Urnen zuständig, und wir müssen dafür sorgen, daß alle Apparaturen im Krematorium in Ordnung sind. Auch für die Urnengräber und -nischen tragen wir die Verantwortung und für die Ordnung auf dem Friedhof.

      Wir teilen uns in die Arbeit. Ich


Скачать книгу