Rosa, die schöne Schutzmannsfrau. Salomo Friedländer
ein kleines Fläschchen aus seiner Westentasche und stieg die Altantreppe nach dem Garten hinunter. Bleiche Helle, der Mond hoch über ihm, der Sand fahl wie Gewitterwolken, eine gespannte Stille, die Gebüsche und Bäume starrten wie hypnotisiert; aber die Sterne blitzten, brannten verlangend.
Schmerz und Ohnmacht offenbar, sagte Ottokar, verhindern uns am Wollen. Bin ich ein Optimist, wenn ich Tod, Schmerz und Ohnmacht nur für Feuerproben des Willens und unsern Willen für gelähmt halte? Mir scheint, Optimisten sind genügsamer? Gleichviel. Mucius Scävola ließ nur seine Hand verbrennen. Halloh, ich denke, der Stoffwechsel hat sein ganzes Geheimnis noch nicht offenbart! Mir soll er’s! Dieser mein Leib soll seinen Stoff recht gründlich wechseln, indessen ich meinem Willen seine Form untertan mache. Mit diesen Worten trank Ottokar das Fläschchen aus (ach du liebe Zeit)!
Eine Zeitlang widerstand der Leib, dann wurde er von einem so höllischen Schmerzensfeuer durchrast, daß er vorzog, zu weichen. Ottokars Geistesgegenwart, enorm angespannt und erhöht, wohnte nur sehr kurze Zeit dieser Art Leib inne, dann verließ sie mit unmerklicher Plötzlichkeit ihren Körper, sah ihn, während ein neuer sie sacht umgab, außen vor sich liegen und fühlte sich eigen in diesem neuen; der alte lag wie eine abgeworfene Schlangenhaut auf dem gelben Gartensandweg im Mondlicht. Und Ottokar fühlte Flügelarme und -beine an seinem neuen Leib. Er erinnerte sich seines früheren Selbstes wie eines anderen. So hatte ich recht, argumentierte Ottokar, als ich den Menschen für ein gelähmtes Flügelwesen hielt. Es hat wehgetan, und eigentlich bin ich gestorben, da liegt mein Kadaver und meine erstarrte Patsche hält noch das Giftfläschchen. Das ist mir einmal ein amüsanter Selbstmord! «Stirb und werde!» pflegte Goethe zu sagen. Übrigens haben nicht bloß die Schmerzen des Sterbens etwas Betäubendes, zum Vergessen Verführendes – sondern, vor allem hat das unsagbar süße Einströmen des neuen Leibes etwas so unerhört Entzückendes, daß nur eine rasende Selbstsucht den Zusammenhang des Gedächtnisses wollen, erzwingen wird – sonst wird man vorziehen, «einen neuen Adam anziehend», den alten abrupt abzutun. Ja, ja, ja, die Selbstvergessenheit ist der wahre Tod! Und wie sagt immer wieder Goethe: «Die höchste Rettung – Gegenwart des Geists.»
Der Mond hatte sich gesenkt, die ersten schwachen Sonnenstrahlen brachten ihn zum Verblassen. Am Himmel haben wir die Allegorien, deutete Ottokar mit erhobenen Flügeln hinauf. Jenseits des Gartens erhob sich Geräusch, der Tag brach an, man hörte Wagengerassel, vereinzelte Schritte und Menschenstimmen. Im Hause wurde es lebendig. Es soll mich gelüsten, dachte Ottokar, jetzt meinen Triumph über Menschen auszukosten – hah!
Stimmengewirr, Schreckensrufe, von einigen Fenstern aus hatte man die Leiche bemerkt; man stürzte herbei: Polizei erschien: – Ottokar trat flügelbrausend dazwischen – aber man achtete garnicht auf ihn.
Da habe ich doch wohl vergessen, ärgerte sich Ottokar, daß diese Leute – Teufel auch! – mit ihrem lahmen Sinnesapparat mich garnicht wahrnehmen können – und Gedanken machen die sich keine! Wartet, meine Braven, ihr sollt einmal doch welche kriegen! Er schwebte mitten durch das ordinäre rohe Mitleidspack auf seine Leiche zu und richtete sie auf – seltsamerweise fiel es ihm sehr schwer, seine Leibesorgane hatten ein zu zartes Verhältnis zu den vorigen Zuständen. Aber die Leute schrien: er zappelt ja noch! Und ein Arzt, namens Mathesius Maier, den er gut kannte, flößte der Leiche etwas zwischen die Zähne. Im selben Augenblick fühlte der geflügelte Ottokar Todesangst und Schmerzen in seinem neuen Leibe, Bewußtlosigkeit wandelte ihn an, er sank neben seiner Leiche nieder; und ehe er sich’s recht versah, empfand er sich wieder in seiner alten Haut. Bravo, rief Mathesius. Verdammter Hund, ächzte Ottokar, griff in seine Hosentasche, holte den Revolver hervor – und ehe jemand ihn hindern konnte, hatte er sich durchschossen.
Aber dieses Mal durch das gänzliche Fehlen der experimentellen Bedachtsamkeit büßte er mit dem alten Leib auch seinen geistigen Zusammenhang ein; und er weiß nicht mehr, was aus ihm geworden ist.
Von der Wollust über Brücken zu gehen
«’s ist Etwas faul...» (Hamlet)
Also Herr Doktor van der Krendelen, ein Mann von hoher Statur, mit mächtigen Augen von sanfter Schärfe, und einem hellblonden exakten Spitzbart – hatte das Mittel gefunden: Luft, Luft.
Ja es handelte sich um die Möglichkeit einer chemischen Reinigung der gesamten planetarischen Atmosphäre; und dadurch der Lungen; und dadurch des Blutes; und dadurch des Lebens.
Van der Krendelen ging mit federnden Schritten in sein Versuchslaboratorium, einen haushohen Saal aus nietenlosem Metall, der luftleer gepumpt werden konnte und Oberlicht hatte. Das Versuchstier war der Doktor in eigener Person. Diesen Saal hatte v. d. K. vom Erdklima sorgsamst isoliert; er konnte ihm von sich aus jedes beliebige verleihen, die Luft im Saal war geographisch regulierbar geworden. Herr van der Krendelen nahm die heutige Wetterkarte zur Hand, studierte sie mit träumerischer Konzentration und entschied sich für Nizza; d. h. er stellte künstlich in seinem Saale das Klima von Nizza her (durch ein paar äußerst einfache Manipulationen). Und sodann seufzte er in dieser wonnigen Witterung sehr tief auf. Denn er grämte sich über diese Künstlichkeit seiner Versuche. Und doch! Und doch!
Van der Krendelen konnte nicht anders. Wehe dem, dessen Gewissenhaftigkeit älter ist als sein Wissen! Hat nicht auch Darwin... aber lassen wir den Darwin. Das Bessere ist der Feind des Guten. Wenn Herr Dr. v. d. K. die Erde klimatisch revolutionierte – und wahrlich, das tat ihr not! –, so mußte er den bestehenden Zustand und mit ihm alle diesem angepaßten Lebewesen abschaffen: und das brachte er nicht über sein altmodisches Herz! Schon seine engere Familie, sein Papa, seine Mama, seine Amme Klelia, seine Schwester Margrith brauchten geradezu die schlechte und rechte Gesundheit; eine bessere würde Gift für sie werden. Daß nun so viele Leute – von anderen Organismen zu schweigen – auch nach oben, nach günstigeren Bedingungen hin so sehr begrenzt waren, das deprimierte Herrn v. d. K.s Gewissen derartig, daß er schon manchmal daran gedacht hatte, das Laboratorium luftleer zu machen, um sich der Mühe des Weiteratmens zu überheben. Du mein! wie wunderlich sind doch die Hemmungen gerade der erstaunlichsten Förderer des Menschengeschlechts! Und wie mancher Pythagoras ist vor seiner Wahrheit desertiert, bloß weil er zu viel Mitleid mit der Hekatombe Ochsen hatte, die dafür geopfert werden mußte...
Krendelen ging in seiner Laboratoriumsluft von Nizza, die linke Hand auf dem Rücken, die rechte um den Spitzbart gekrallt, auf und ab, auf und ab, und alles zitterte mit metallischem Klingen. Der Abend dämmerte herein. Und als es ganz dunkel geworden war, stand Krendelen still und hob den Kopf. Er hatte einen Entschluß gefaßt: und zwar G. m. b. H.
Jawohl, dies war der Ausweg. An sein Laboratorium als Zentrale sollten sich Freiwillige mit ihren Privatwohnungen oder Kasernen oder Fabrikräumen oder Ställen usw. usw. anschließen. Und so ließ er sich denn das Patent sichern und verkaufte es einer Gesellschaft Aktionäre, die ihn als wissenschaftlichen Leiter des Unternehmens anstellten und besoldeten. Je nun, mindestens waren seine Skrupel jetzt schwächer geworden; besonders zumal durch die Zuversicht, wie sehr bald die Menschheit mit ihrem robusteren Gewissen rücksichtslos von selber die Folgerungen von der Künstlichkeit auf die Natur ziehen würde! Gewiß, eine solche Verantwortung lastet zu schwer auf der einzelnen Person – hinaus, hinaus damit in alle, alle Menschenseelen!
So wurde es nun ruchbar, daß man, wenn man nur wollte, das Paradies der Lungen etablieren konnte – und Monarchen, Bankiers, Poeten und viele andere Existenzen suchten vorsichtig, indem sie die Ärzte zu Rate zogen, um Anschluß an die Kr.’sche Zentrale nach.
Die Wirkung dieser Hygiene läßt sich gar nicht beschreiben. Tatsächlich sind wir ja «ein Spiel von jedem Druck der Luft». Wer daher die Luft wenigstens ihrer Reinheit nach in willkürliche Gewalt bekam wie v. d. K., der konnte schließlich den Menschen zu einem Freudensprung der Natur machen. Schlechte Luft ist nämlich das ganze Unglück der Menschen; ja es ist am Ende der Mensch selber. Luftverbesserung bedeutet die gewisseste Menschenveredelung, mehr als alle philosophische Moralisterei!
Nun muß man sich aber diese Luftreinigung recht radikal vorstellen! Und hierin lag eben die ganze Gefahr: wer etwas auf dieser kranken Erde ganz und gar gesund macht, der steckt von diesem Punkte aus alles und jedes mit solcher Gesundheit an. Zuletzt konnte sich keiner der künstlich Gesundeten mehr nach außen begeben, ohne tot umzufallen. Es war eine