Falkenjagd - Roland Benito-Krimi 10. Inger Gammelgaard Madsen

Falkenjagd - Roland Benito-Krimi 10 - Inger Gammelgaard Madsen


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Behauptung suchte.

      „Zum Glück sind meine Eltern nicht solche Nazis“, meinte eines der Mädchen. „Sie wären gerne mitgekommen, konnten heute aber nicht. Meine Mutter hat eine Flüchtlingsfamilie nach Schweden gefahren, weil sie lieber dort als hier in Dänemark wohnen wollten.“

      „Kann ich total verstehen. Die DFD macht alles kaputt. Jetzt glaubt die ganze Welt, dass alle Dänen fucking fremdenfeindlich sind. Ich hoffe, die verstehen unsere Botschaft heute und sehen ein, dass wir nicht alle so sind.“

      „Ja, es ist traurig, dass die DFD so viel Macht bekommen hat“, seufzte ein anderes Mädchen, das auf seinem Handy ebenfalls die Facebook-Anmeldungen mitverfolgte. Ihre Jacke hatte sie um den Bauch gebunden. „Gut, dass das Fernsehen dabei ist!“

      „Wisst ihr, wofür DFD steht?“, fragte ein dicker Junge mit roten Wangen und Doppelkinn.

      „Das steht für Dänemark Für Dänen“, belehrte ihn das Mädchen mit der Jacke.

      „Nee, das steht für Die Fucking Dummen“, gab der Junge zurück und lachte selbst am lautesten über seinen Witz.

      Anne hatte sie bereits dazu interviewt, was ihre Begründung für die Fahrt nach Kopenhagen und die Teilnahme an der Demonstration war, daher kannte sie die Meinung der meisten. Einer revolutionärer als der andere. Sie wünschte, Flash wäre dabei und könnte sie filmen, wie sie dasaßen und die Welt unter die Lupe nahmen. Das hatte etwas Erhebendes. Vielleicht waren das hier die sozialistischen Politiker der Zukunft, die dann herausfinden würden, dass es letzten Endes darum ging, Kompromisse einzugehen, wenn sie an die Macht kamen. Es ging nicht nur um eine einzelne Kernfrage wie Flüchtlinge, sondern um das Wohlergehen des ganzen Landes. In einer Demokratie konnte niemand allein entscheiden und im Parlament würde kaum die gleiche Einigkeit herrschen wie hier an dem kleinen Klapptisch, der vor Süßigkeitentüten, Butterbrotpapier, Handys, Zeitschriften und leeren Cola-Bechern überquoll.

      Sie näherten sich der Endstation. Anne stand auf und half ihnen beim Tragen der Banner. Alle stöhnten ungehalten, als sie erfuhren, dass es angefangen hatte, heftig zu regnen. Bis nach Christiansborg war es eine Viertelstunde Fußweg und sie würden klitschnass sein.

      Anne hielt vor dem Bahnhof vergeblich nach Flash und dem TV2 Ostjütland-Auto Ausschau. Die Leute verkrochen sich unter die bunten Sonnenschirme vor dem Eingang zum Tivoli. Die Gruppe der Demonstranten drängte sich beim Ausgang des Hauptbahnhofs dicht zusammen. Einige hatten die Transparente entfaltet, sodass Botschaften wie Ein gastfreundliches Dänemark – Danke!, ALLE Flüchtlinge willkommen! und Schämt euch, DFD! signalisierten, weswegen sie gekommen waren.

      Es dauerte etwas, bis Anne die Stimme aus den Lautsprechern wahrnahm und viel Polizei im Gebäude und davor registrierte. Ein paar Beamte verscheuchten die Leute vor dem Tivoli und es entstand Panik. Sie sah sich wieder nach Flash um. Die Stimme bat in mehreren Sprachen, sich zum Ausgang zu begeben und das Gebäude ruhig zu verlassen. Der Hauptbahnhof wurde gerade evakuiert. Ein Beamter nahm Anne am Arm und wollte sie mit sich ziehen.

      „Folgen Sie mir!“, befahl er.

      „Nein! Ich warte auf meinen Kameramann. Ich bin Journalistin bei TV2 Ostjütland“, protestierte sie.

      „Sie müssen raus! Und zwar sofort“, beharrte der Beamte.

      „Warum? Was ist los?“

      „Es gibt eine Bombendrohung. Folgen Sie den anderen. Da stehen Busse, die Sie von hier wegbringen werden.“

      Anne entdeckte zwei Busse, in die die Demonstranten einstiegen. Die Transparente ließen sie auf dem Boden liegen. Eine Frau hatte ihres mitgenommen, doch ein Beamter nahm es ihr weg und trieb sie in den Bus zu den anderen eingeschüchterten Passagieren.

      „Aber ich muss meinen Kameramann finden!“, insistierte Anne und riss sich aus dem festen Griff des Beamten los. Sie funkelte ihn an. Dann entdeckte sie das TV2-Auto, das Flash gerade vor dem Bahnhof parkte. Er stieg aus und sah sich nach ihr um. Die Beamten bedeuteten ihm hektisch, wieder einzusteigen und wegzufahren. Andere Beamte sperrten im strömenden Regen das Gebiet ab. Anne rannte zu Flash und riss die Beifahrertür auf.

      „Was zum Teufel ist denn hier los?“, rief er.

      „Es gibt wohl eine Bombendrohung. Die evakuieren den Bahnhof.“ Sie schaffte es nicht, sich anzuschnallen, bevor Flash einen scharfen U-Turn machte und den wegfahrenden Bussen nachfuhr.

      „Sind alle Demonstranten mit dem Bus gekommen?“

      „Weiß ich nicht. Einige sind trotz des Regens sicher auch zu Fuß gegangen.“

      Einige Polizeiautos kamen ihnen mit Blaulicht und Sirene entgegen, dahinter ein paar Krankenwagen.

      „Die ergreifen offenbar echt alle Maßnahmen“, murmelte Flash und folgte ihnen mit dem Blick im Rückspiegel. Er war nur vom kurzen Aussteigen aus dem Auto völlig durchnässt und seine Haare hingen ihm feucht in die Stirn. Anne zitterte vor Kälte in ihren durchweichten Klamotten. Sie erahnte das Gebäude der Kopenhagener Polizei hinter Flash, bevor sie in hohem Tempo auf die Kalvebod Brücke abbogen. Ein Speedboot sauste auf dem Wasser vorbei ins Meer, sodass es hinter ihm spritzte.

      „Wo sind die Busse hin?“, fragte sie und wunderte sich über die Ruhe des Kameramanns. Dann erinnerte sie sich, dass Flash mal für Information gearbeitet hatte und an einigen der Brennpunkte der Welt gewesen war. Für ihn war eine Bombendrohung in einem Bahnhof sicher nichts allzu Ernstes. Konnte auch falscher Alarm sein. Das war schon vorgekommen.

      „Irgendwo vor uns“, sagte er und schaltete.

      Anne begriff nicht, was passierte. Urplötzlich gab es draußen einen unnatürlich lauten, klirrenden und grollenden Knall, gefolgt von einem riesigen Blitz. Vielleicht geschah das gleichzeitig. So einen, wie man ihn sonst nur in Katastrophenfilmen im Kino sieht. Sie wurde im Gurt nach vorn geschleudert, als Flash scharf bremste, um nicht in das Auto vor ihnen zu krachen, das auch bremste, genau wie der Rest der Schlange vor ihnen. Mit offenem Mund verfolgte Anne einen PKW mit den Augen. Er drehte sich einmal in der Luft ein Stück vor ihrem Auto und landete nicht weit davon. Dann ging ein Regen aus Glas und Metallteilen über dem Auto nieder. Sie duckte sich ganz unwillkürlich und hielt sich die Ohren zu, obwohl nach dem Knall alle Geräusche verschwunden waren. Vor ihren Augen spielte sich alles in unwirklicher, lautloser Zeitlupe ab.

      Eine schwarze Rauchwolke rollte auf das Auto zu und hüllte es ein, sodass sie nicht aus dem Fenster schauen konnte. Sie hörte Leute hysterisch schreien.

      Kapitel 3

      In dem Raum war es still. Nur die Lüftungsanlage summte leise. Oder vielleicht war es auch eine der Thermoskannen mit Kaffee auf einem der Tische, die nicht ganz zu war. Es war dunkel, weil die Gardinen vor den Fenstern zugezogen waren. Die anderen an den Tischen um ihn herum wirkten wie dunkle Silhouetten. Nur die Lampe des Beamers leuchtete auf.

      Roland Benito hob seine Tasse und nahm einen kleinen Schluck des seiner Meinung nach viel zu dünnen Kaffees. Neues Personal in der Kantine des Polizeipräsidiums? Oder waren das Sparmaßnahmen?

      Er sah hoch zu der weißen Leinwand, wo Jørgen Lindt vom PET, dem dänischen Inlandsnachrichten- und Sicherheitsdienst, gerade mit der Fernbedienung zum nächsten Bild weitersprang.

      „Diese Grafik zeigt, wie das Zentrum für Terroranalyse, CTA, die Terrorgefahr in Dänemark im Verhältnis zu verschiedenen Gruppierungen einschätzt“, erklärte Jørgen Lindt und ließ den kleinen, roten Lichtpunkt der Fernbedienung um die höchste Säule kreisen, unter der Militanter Islamismus stand. Sein ohnehin schon markantes, mageres Gesicht mit der hohen Stirn und den hervorstehenden Wangenknochen wurde durch das grelle Seitenlicht des Beamers, das auch in den Brillengläsern aufblitzte, noch schärfer.

      „Wie daraus hervorgeht, schätzt man, dass die Terrorgefahr typischerweise von Personen und kleineren Gruppen mit einem militant islamistischen Hintergrund ausgeht. Nach deren Überzeugung steht der Islam unter starkem Angriff des Westens. Die Mohammed-Karikaturen, die Außen- und Sicherheitspolitik Dänemarks und das dänische Engagement in der internationalen Koalition gegen die militant islamistische


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