Der Sarekmann. Lennart Hagerfors
Hier werde ich unsicher. Wie begann er seine Unterrichtsstunde? Nach meiner Erinnerung sagte er mit tiefer, warmer Stimme einige Worte in einer mir gänzlich unbekannten Sprache. Aber das kann völlig falsch sein. Vielleicht war es ein Traum – ich habe nach der ersten Stunde viel von Usk geträumt und bin oft verschwitzt und beklommen aufgewacht –, in dem er eine Sprache benutzte, die ich zuerst für Holländisch, dann für Isländisch hielt, um schließlich einzusehen, daß es etwas anderes war. Sämtliche Schüler meldeten sich auf altmodische Art mit erhobener Hand, eifrig wie Erstkläßler. Usk ließ sie warten. Er lächelte, und die schielenden Augen suchten die Schüler ab wie zwei voneinander unabhängige Scheinwerfer. Dann wurde er ernst, wandte sich einer Frau zu und nickte. Sie erhob sich und stieß einen räuspernden Laut aus, «hrsch» oder so ähnlich. Dann mußte jeder der Reihe nach dieses Geräusch hervorbringen. Auch ich wurde dazu aufgefordert. Trotz meines wachsenden Unmuts tat ich wie geheißen. «Hier pflegen wir aufzustehen, wenn wir sprechen», wies er mich zurecht. Ich erhob mich übertrieben langsam, sagte das Wort und setzte mich mit einem Ruck wieder hin. Vielleicht war es in diesem Moment, als ich den räuspernden Laut aus meiner Kehle fahrenließ, daß etwas in mir aufriß. Irgend etwas veränderte sich. Ich weiß bloß nicht, ob es in der Sankt-Eriks-Volkshochschule passierte oder im Traum.
Jedenfalls weiß ich, daß er in dieser Stunde den Unterschied zwischen Sunniten und Schiiten im Islam erläuterte. Er sprach über die Sehnsucht der arabischen Völker sowie der ihnen nahestehenden Kulturen nach einer Richtschnur, einem Weg fort von der egozentrischen Oberflächlichkeit des Abendlandes mit seiner Todesangst, die Atomwaffen entstehen ließ und für alle Zukunft Erde, Luft und Wasser zerstörte.
Er sprach mit monotoner, rhythmischer Stimme, weit entfernt vom Alltagston des privaten Gesprächs. Er hielt eine Rede, er predigte. Das wichtige war nicht, was er sagte, nicht das Wissen, das er uns vermitteln wollte, sondern Klang und Rhythmus der Sprache, der feste, materielle Charakter der Schlüsselworte: Gesetz, Schrift, Volk, Mann, Frau, Muttersprache, Vaterland. Es war schwierig, im Kopf zu behalten, daß er vom Islam sprach. Der Unterricht erzeugte das geradezu körperliche Gefühl einer Schwere in der Brust, einen Geschmack von Süße, ein Gefühl von Schuld.
Später im Traum – es ist indessen nicht ausgeschlossen, daß es wirklich in der Stunde geschah – wurde der Unterricht mit einem spielerischen Exerzitium in der rätselhaften Sprache beendet. Ich weiß noch, daß wir alle aufstehen mußten, um Worte zu skandieren wie «Sang», «Ham», «Mapa», «Blut», «Ort». Der Kopf wurde schwer, die Kiefer unbeholfen und träge.
Unversehens befiel mich Müdigkeit. Ich verspürte Langeweile, Ekel. Die Hosen klemmten im Schritt, die Achselhöhlen wurden feucht, und es war, als sei jede Hautfalte mit einem Streifen Schmutz bedeckt. Ich flüchtete hinaus auf die Straße. Dort fand ich mich von einer übersprudelnden Munterkeit überrascht, Beschwingt ging ich mit schnellen Schritten auf die nächstgelegene U-Bahn-Station zu.
Mit gewalt musste ich den rucksack ins Schlafwagenabteil bugsieren. Ich stellte ihn auf den Boden, ohne auch nur den Versuch zu machen, ihn mit ausgestreckten Armen auf die Gepäckablage zu stemmen.
Bis zur Abfahrt des Zuges war es fast noch eine halbe Stunde. Ich setzte mich auf das untere Bett, das für mich reserviert war, und brach in Gelächter aus. Der Schritt von der Schwermut zur Ausgelassenheit ist manchmal genauso klein wie der vom Pathetischen zum Lächerlichen.
Ich wusch mich im Waschbecken und betrachtete mein Gesicht im Spiegel. Ich erkannte mich kaum wieder. Das Gesicht sah kantiger und gröber aus, als habe es sich chamäleonartig meiner robusten Kleidung und der schweren Ausrüstung angepaßt.
Ich schob das Fenster herunter und ließ die kühle Luft ins Abteil strömen. Schritte auf dem Bahnsteig, Stimmen, kleine Elektroautos, die herbeigebraust kamen und mit ihren klappernden Wagen im Schlepptau in irgendeinem dunklen Winkel verschwanden. Allmählich trafen die Reisenden ein. Wie sie mit ihrem Gepäck in den Händen angewandert kamen, war es schwer, sich vorzustellen, daß sie gewöhnlich ein triviales Leben führten. Sie schienen allesamt aus einer Art öffentlicher Anonymität zu kommen: mit Hotels, Konferenzen, wichtigen Verabredungen, Geschäftsessen. Es fiel schwer, sich einen von ihnen unterm Weihnachtsbaum zu denken.
Meine Reisegefährten waren jedoch anders. Es waren große Männer in den mittleren Jahren, mit blonden Bärten und schütterem Haar. Der eine trug eine riesige, knallrote Damentasche, die an einer Ecke aufgeplatzt war, und einen kleineren, aber sehr viel älteren Koffer, der von einer Schnur zusammengehalten wurde. Ihr weiteres Gepäck bestand aus Plastiktüten und einer dicken Holzplanke, die sie auf den Boden legten. Sobald sie eingestiegen waren, wurde das Gedränge im Abteil geradezu komisch. Sie kamen und gingen, verstauten das Gepäck und verteilten es wieder um, lachten mit dröhnenden Bässen, rissen Bierdosen auf und aßen ihre mitgebrachten Kebabs. Ihre Kinder und Frauen, die ihnen zum Abschied winken wollten, drängten sich ins Abteil, um es zu begutachten. «Da liegt einer», sagte eine der Ehefrauen, als sie mich zusammengekauert in einer Ecke meines Bettes entdeckte. Die Kinder probierten die Wasserhähne aus, bewarfen sich lachend und kreischend mit den Kissen und wurden schließlich von ihren Vätern umarmt und hinausgeschoben, die dann mit ihren breiten Hintern die Fenster blockierten, bis der Zug mit einem Ruck anfuhr. Die beiden Männer sprachen sich mit Mackan und Gösta an, und sie aßen und tranken in einem fort, bis sie schnarchend einschliefen.
Ich holte meinen Computer aus dem Rucksack. Das war nicht einfach, denn einer der Männer hatte den Rucksack auf eine Ablage gehoben. Meine gute Laune trübte sich ein wenig, als ich das Gerät aufs Bett stellte und mich auf den Bauch legte, um mich ein bißchen zu zerstreuen. Er wog an die drei Kilo. Wozu diese überflüssige Last herumschleppen? Die Ausrüstung war doch schon schwer genug. Neben mir, im Schein der Leselampe, gewahrte ich ein Paar Turnschuhe und ein Paar Stiefel, die die beiden Männer auf die Planke gestellt hatten. Da fiel mir siedendheiß ein: Meine Stiefel standen noch zu Hause in der Diele! Ich hatte die Turnschuhe angezogen und vergessen, die Stiefel einzupacken. Den verflixten Computer hingegen hatte ich nicht vergessen.
«Stiefel vergessen» tippte ich ein, um meinen Schnitzer zu bestätigen und festzuschreiben. Ich wollte noch etwas hinzufügen, beispielsweise, daß ich in Gällivare oder sonstwo ein neues Paar kaufen könnte, aber ich verlor die Lust.
Ich ging aufs Klo, um zu pinkeln. Im Spiegel sah mein Gesicht nur noch käsig aus. Es war, als hätten die beiden Männer im Abteil jegliche Energie und Lebenslust beschlagnahmt und mit in den Schlaf genommen. Ich fühlte mich einsam und traurig.
Im Gang stellte ich mich ans Fenster und schaute hinaus in die Sommernacht. Aber es war weder Tag noch Nacht. Eher sah es aus wie Abenddämmerung oder Morgengrauen. In den Talmulden, etwa einen Meter über dem Boden, hingen dünne Nebelschwaden. In einer Gruppe von Gehöften leuchtete eine Lampe in einem Fenster, eine Reihenhaussiedlung war mit Straßenbeleuchtung ausgestattet, und an den Bahnübergängen bimmelten altmodisch die Signale.
Ein Mann trat aus einem Abteil und steckte sich eine Zigarette an. Er nickte mir zu und schaute zum Fenster hinaus. Nach einer Weile fragte er mich, ob ich eine Fjällwanderung vorhätte. Er selbst war unterwegs zum Tierpark von Padjelanta und begann, über die Ausrüstung zu reden. Lachend erzählte er, welche Schwierigkeiten ihm die Wahl des Schuhwerks bereitet habe. Es hieß, sich zwischen Wanderschuhen und Gummistiefeln zu entscheiden.
In ersteren würden die Füße von außen naß, in letzteren von innen. Da er sich nicht habe entscheiden können, habe er beide mitgenommen, doch auf dem Weg zum Zug sei ihm klargeworden, daß es zu schwer würde, ein zusätzliches Paar zu tragen. Daher habe er wählen müssen und sich für die Wanderschuhe entschieden. Nun müsse er die Gummistiefel loswerden.
Er verstummte, steckte sich die nächste Zigarette an und setzte sich auf einen der Klappsitze. Hemd und Hose war anzusehen, daß er eine richtige Fjällwanderung vorhatte. Die Haare waren dunkel und kurz geschnitten, und der Ansatz einer Glatze war zu sehen. Sein Aussehen war so alltäglich, daß es schwerfällt, sich daran zu erinnern.
Nach minutenlangem Schweigen, während dessen nichts anderes zu hören war als das Rattern des Zuges auf den Schienen und ein Husten im Nachbarabteil, fragte ich ihn nach der Größe der Stiefel. «Dreiundvierzig», antwortete er zerstreut.