Der Sarekmann. Lennart Hagerfors

Der Sarekmann - Lennart Hagerfors


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und es war angenehm kühl. Trotzdem war ich aufgrund der Steigung bald naßgeschwitzt. Durch das enorme Gewicht des Rucksacks fühlte ich mich klobig und unbeweglich. Gleichzeitig merkte ich, daß es durchaus möglich war, auch steile Passagen zu bewältigen, wenn man sich behutsam und mit Bedacht bewegte.

      Als ich zum Verschnaufen stehenblieb, war nur mein keuchender Atem zu hören. Die Sonne brach hinter einer Wolke hervor, und jedes Blatt, jeder Grashalm und jede nackte Wurzel traten mit einer Art übersinnlicher Schärfe hervor. Alles war so frisch, daß es aussah, als sei es eßbar. Aber das Fremde war da. Überall. Im Rentierfleisch, in den Pflanzen. Der Gedanke daran war so, als würde man sich selbst entfremdet. Etwas Unbekanntes rieb sich an jeder Sinneswahrnehmung. Es war, als befände man sich in einer einzigen großen Betrügerei.

      Ein Stück weiter aufwärts, kurz über der Grenze der Zwergbirken, begegnete ich einem jungen Paar. Sie berichteten, sie seien acht Tage unterwegs gewesen und sehnten sich jetzt nach frischem Gemüse, einem ordentlichen Essen und der Sauna in Saltoluokta.

      Gerade als ich den Paß zwischen Lulep Kikau und dem kleinen Gipfel Tjäpurisvaratj erreichte, kam Wind auf. Von der anderen Seite des Sees Pietsaure her zogen dunkle Wolken auf. Ich konnte gerade noch meinen Regenschutz überstreifen, als der Regen schon über mich kam. Bis hinunter zum See waren es knapp zwei Kilometer, und es regnete fast den ganzen Weg. Kurz bevor ich am See ankam, hörte es dann auf. Mitten in der Wolkendecke tat sich ein rundes Loch auf, in dem ich ein Stück hellblauen Himmel entdeckte. Genau dort, wo der Gebirgsbach in den See mündete, bildete sich ein sonnenbeschienener Fleck. Es sah aus wie ein Altarbild. Am Boden dieser schrägen Lichtsäule, einige hundert Meter entfernt, sah ich einen Mann, der sich in dem glitzernden Wasser die Hände wusch. Es war genau die Stelle, wo ich meine Begleiter treffen sollte.

      Schlichte neugier ist eine viel stärkere lebenserhaltende Kraft, als man meinen könnte. Der Winter 1986 in Stockholm ist mir als eine einzige dumpfe Geistesabwesenheit in Erinnerung. Doch mitten in alledem brannte eine kleine Neugier, an der ich mich freute. Ich war zu Opfern und Demütigungen bereit, um diese Begierde am Leben zu erhalten. Die Neugier zu befriedigen war nicht mein Anliegen. Ich begnügte mich damit, daß sie vorhanden war.

      Ich weiß nicht mehr, an wie vielen Unterrichtsstunden ich teilnahm. Ich bin sicher, daß es mindestens vier, höchstens etwa zehn waren. Nach einer davon, es war nicht die letzte, denn die war etwas ganz Besonderes, bat Usk mich, noch eine Weile dazubleiben. Er stellte sich mit dem Rücken zu mir ans Fenster und fragte, ob ich mit dem Kurs und den Kursteilnehmern zufrieden sei. Ich weiß nicht mehr, was ich geantwortet habe. Vermutlich irgend etwas Triviales. Dann sagte er, ich werde einen Mann kennenlernen, der draußen in einem Wagen wartete. «Er heißt Kelly. Wir dürfen ihn nicht warten lassen.»

      Auf der Treppe fragte ich, wer dieser Kelly sei. Usk blieb stehen, legte mir eine Hand auf die Schulter und sagte: «Ein Bekannter von mir. Er gehört zur Peripherie unseres Kreises, wir haben gewisse Berührungspunkte und gemeinsame Interessen. Du brauchst nichts zu sagen. Wichtig ist, daß ihr euch kennenlernt. Mit der Zeit wirst du es verstehen. Beunruhige dich nicht.»

      Ich habe eine vage Erinnerung an einen weißen BMW, ein kleines, aber luxuriöses Büro in der Nähe des Humlegården-Parks (vielleicht in der Linnégatan), und einen jungen, kräftigen Mann hinter einem Schreibtisch: blonde, kurzgeschnittene Haare, breites Gesicht, wuchtiger Kiefer, eine Spur von Unterbiß, hellblaue Augen. Er war groß und breitschultrig und strahlte eine Mischung von Jungenhaftigkeit und Brutalität aus.

      Usk und Kelly unterhielten sich über etwas, das sie «das Projekt» nannten. Es ging um die Finanzierung, und ich hatte den Eindruck, daß Kelly hinsichtlich der Finanzierung grünes Licht gab.

      Im nachhinein wundere ich mich darüber, wie wenig ich von dem Gespräch verstand. Entweder war ich unkonzentriert, oder sie drückten sich in Andeutungen und Gemeinplätzen aus, so daß es schwierig für mich war, den Zusammenhang zu erraten.

      Als wir gegen neun Uhr abends Kellys Büro verließen, war meine Neugierde gestillt. Ich hatte gehofft, tiefer in das Mysterium einzudringen, fühlte mich aber lediglich von kindischen Mystifikationen umgeben. Ich war verärgert und wollte nach Hause.

      Im Humlegården-Park herrschte tiefster Winter. Die Laternen, die die Wege säumten, beleuchteten eine schöne Parklandschaft, verziert mit einem halben Meter Schnee. Mit kurzen, schlurfenden Schritten bewegten wir uns auf den freigepflügten Wegen, die stellenweise gestreut waren. Die Schneewälle und der Schnee auf den Ästen dämpften Usks trockenes Husten. Rauchwolken quollen aus seinem Mund und zerstreuten sich genauso schnell, wie sie sich gebildet hatten. Er war guter Dinge. Unter einer Laterne blieb er stehen und packte mich am Kragen. «Er macht mit! Jetzt kann uns nichts mehr aufhalten!» Seine Züge waren starr vor Kälte, und das Lächeln wurde zur Grimasse. Im kalten Schein der Laterne war er häßlicher denn je.

      Ich schob ihn weg, angeekelt von seinem Enthusiasmus und seiner grotesken Grimasse. Ich erklärte, ich würde mich auf gar nichts einlassen, wenn er nicht sofort enthüllte, wer Kelly war, welcher Organisation er selbst angehörte und worauf das alles hinauslief. Ich drohte damit, nie wieder in seinem Unterricht zu erscheinen.

      Er wandte sich ab, leckte sich die Lippen wie ein nervöser Hund und begann in seinen Manteltaschen zu wühlen, als sei dort die Antwort zu finden. Er entfernte sich einige Schritte und betrachtete die Rückseite der Königlichen Bibliothek. Er wußte nicht, wie er mit der Situation umgehen sollte. Zum erstenmal hatte ich deutlich die Oberhand. Doch das währte nicht lange. Mit einem häßlichen Grinsen auf den starren Lippen wandte er sich mir wieder zu und sagte: «Dann geh doch!» In seinem einen Auge war ein gefährliches Glitzern: Zuneigung und Vertrauen.

      Als ich mich umdrehte, um davonzugehen, rutschte ich so unglücklich aus, daß ich mir einen Rückenmuskel zerrte. Auf steifen Beinen humpelte ich vorsichtig Richtung Stureplan. Usks eines Auge brannte in meinem Nacken. Das andere irrte, wie ich wußte, zwischen den schneebeladenen Ästen der Bäume umher.

      Kurz bevor ich die Würstchenbude an der Kreuzung von Sturegatan und Humlegårdsgatan erreichte, drehte ich mich um. Alles war sehr schön: die winterliche Parklandschaft, beleuchtet von den Reihen der Laternen, und unter einer davon die gebeugte Gestalt in einem zu großen Parka, die Hand zu einem zögernden Gruß erhoben.

      Diese Szene aus dem Humlegården-Park ist eines der wenigen richtig deutlichen Bilder, die ich von meinem Kontakt mit Usk im Winter und Frühjahr 1986 in Erinnerung habe.

      Nach dem Besuch bei Kelly war ich fest entschlossen, nie wieder in den Kurs zurückzukehren.

      Schon am ersten tag meiner wanderung in der Fjällwelt lernte ich das sonderbare Gefühl kennen, ein sehr kleines Objekt zu sein, ein mit sich selbst beschäftigtes Objekt, wie der Affe im Zoo, der ungeachtet aller neugierigen Blicke in sein Fell kneift, an seinem Geschlecht zupft, irgend etwas in den Mund steckt. Ich wurde beobachtet. Vielleicht auch von Menschen, doch das war nicht das Wesentliche. Die Natur rings um mich her war sich meiner Anwesenheit auf gleichgültige Weise bewußt. Die Fjällgipfel, die Seen, die leichten Wolken und der harte, kalte Regen, all das war ein riesiges Subjekt, in ständiger Tätigkeit begriffen, auf meine Haut und meine Sinne einwirkend. Ich schwitzte, fror, pinkelte und schiß auf offener Bühne. Meine Gedanken kreisten immer mehr um Geräusche und Regungen des Bauchs, meine schmerzenden Zehen, kalten Finger und steifen Muskeln.

      Ich war einem launischen Subjekt unterworfen, das jenseits von Gefühlsduselei und Berechnung seine Strafen und Belohnungen austeilte. Es blieb nichts anderes übrig, als sich anzupassen, auszuhalten und zu genießen, in der sicheren Gewißheit, daß ich mich jenseits von menschlichen Kategorien wie Liebe oder Böswilligkeit befand – vorausgesetzt, ich traf nicht auf ein Individuum meiner eigenen Art.

      Eines abends, es war noch immer tiefster Winter, saß ich zu Hause vor dem Fernseher und sah, wie die Challenger-Raumfähre explodierte. Instinktiv schaltete ich den Videorecorder ein und nahm die Katastrophe auf. Nach den Meldungen und all den Kommentaren zu dem Unglück beschäftigte ich mich nur noch mit dem Unglück selbst und mit seinen unmittelbaren Folgen. Zuerst der Start, dann die Explosion, dann alles noch einmal in Zeitlupe. Als die ersten Flammen herausschlugen, hielt man das Bild an, deutete und erklärte.


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