Der Sarekmann. Lennart Hagerfors
eingeübt hatte, saß jetzt möglicherweise auf dem Klo, völlig außer sich, die Hosen heruntergelassen.
Natürlich gab er dem Orchester den richtigen Einsatz. Aber ich meinte eine deutliche Unsicherheit in den ersten spröden Tönen der Geigen zu vernehmen. Der Tenor schrie eher, als daß er sang. Die Stimme des Baritons kam aus dem Bauch, und die Sopranistin warf sich in der Schlußszene mutig auf den Boden und starb. Neben mir saß ein Mann in den mittleren Jahren, im dunklen Anzug und mit südeuropäischem Aussehen, und summte fast während der ganzen Vorstellung eine eintönige Melodie. Sie klang folkloristisch und ließ an den Nahen Osten, Griechenland oder die Türkei denken. Schräg hinter mir saß ein dicker Onkel und verzehrte geräuschvoll Äpfel und Nüsse, und bei den Liebesduetten stöhnte der arrogante Nachbar an meiner anderen Seite in halb liegender Stellung auf seinem Stuhl. Zuerst dachte ich, er leide unter dem Gesang, bis ich entdeckte, daß die Hand der Blondine sich unter seinem Hemd bewegte. Es sah aus, als krieche ihm ein kleines Haustier auf dem Bauch herum.
Meine gesamte Aufmerksamkeit wurde geschärft. Eine unbändige Munterkeit überkam mich. Alles erhielt eine gesteigerte Intensität. Ich selbst pendelte zwischen Abscheu und Ergriffenheit. Es war, als steuere die Aufführung auf einen Zusammenbruch zu und als sei eine große Freiheit möglich. Mich überkam eine große Lust, selbst zu singen.
Die Oper ist eine schändlich prätentiöse Kunstform mit einem Publikum, das oft aus enthusiastischen Tanten und mäkeligen Onkels besteht. Schamlos beschlagnahmen sie Musik, Dramatik, Poesie, Epik und Tanz, alles im Kolossalformat. Das Bühnenbild besteht meist aus grotesken Ablegern der bildenden Kunst. Kurz gesagt, es ist eine schmutzige Kunstart.
Ich begann, Gesangsunterricht zu nehmen. Mein Lehrer behauptete, in mir stecke eine große Stimme. Er klopfte an meine Brust, legte seinen Kopf daran und hörte sich einige Tonleitern an. Er boxte mich in die Bauchmuskulatur, maß meine Schädelform und spähte in meinen Rachen. «Dort unten sehe ich den großen Klang», sagte er, packte mich an den Schultern und schüttelte mich, so daß seine eigene mächtige Haarmähne wogte. «Honig und Tränen! Vertrauen Sie mir!»
Aber ich vertraute ihm nicht. Und das tat auch kein anderer. Als ich bei ihm aufhörte, war ich sein letzter Schüler. Seine Worte über den großen Klang kann ich jedoch nicht vergessen.
Dies alles hat Bedeutung. Der Traum, einmal in eine Oper eintreten, mich der Verstellung und Lüge anheimgeben zu dürfen, hat mich niemals verlassen.
Ein essen im familienkreis, vermutlich Ende März. Papa, im nagelneuen Lambswoolpullover, spricht von dem Gefühl der Zusammengehörigkeit, das auf den Tod von Ministerpräsident Palme folgte. Angelica, die gerade ihren korrekten Aufzug in Rock und Bluse mit einer weichen Kombination aus Baumwollsamt vertauscht hat, kritisiert Mama, weil diese sich nicht getraut hat, den Fleischtopf kräftig zu würzen. «Schwierigkeiten bringen die Menschen oft zusammen», sagt Papa und rülpst diskret hinter vorgehaltener Hand. «Schließlich gibt es doch so viele tolle Gewürze aus Indien», sagt Angelica und läßt das Besteck auf den Teller fallen.
Ein Wolkenschatten zieht über Mamas Gesicht.
Draußen ist strahlendes Wetter, und die Sonne fällt schräg durchs Küchenfenster. Ich bin erkältet. Aus dem linken Nasenloch kommt ein rosa, mit Blut gesprenkelter Popel, aus dem rechten ein gelber, etwas festerer. In der Küche, wo wir essen, ist das Licht quälend hell. Die Fensterscheiben wirken schmutzig, Mamas Falten messerscharf, und jede Bewegung der schlaffen Haut unter Papas Kinn läßt mich an Truthähne denken. Angelicas Make-up sieht aus wie eine braune Soßenschicht. Ich selbst fühle mich bleich, durchsichtig. Es ist fast schon Frühling.
Nach dem Essen machte ich den Abwasch, Mama trocknete ab. Im Wohnzimmer erzählte Angelica Papa von einem Prozeß mit dem Finanzamt, an dem sie beteiligt gewesen war. Nach einer Weile kam sie in die Küche und fragte, warum wir nicht miteinander redeten. «Doch, wir reden ein bißchen», sagte Mama. «Aber warum so leise? Habt ihr Geheimnisse?» Mama erklärte, sie habe mich gerade gefragt, ob ich irgendwelche Sachen hätte, die geändert werden müßten. Angelica: «Du sollst nicht seine Sachen ändern! Entweder muß er das selbst tun, oder er macht es wie ich und bringt sie zu einem Schneider!»
Nach dem Abwasch bedankte ich mich für das Essen und holte meine Jacke. Angelica versperrte mir in der Halle den Weg. Warum ich jetzt abhauen müßte? Warum nicht ausnahmsweise mal die ganze Familie versammelt sein könnte? Wir müßten einander besser kennenlernen.
«Kennst du Kelly?» fragte ich sie. Das brachte sie aus dem Konzept, und sie musterte mich besorgt. Mir fiel ein, wie sie als kleines Mädchen auf dem Schulhof ausgesehen hatte: traurig und bekümmert darüber, daß die Mitschüler ihr nicht gehorchen wollten. Mit gedämpfter Stimme erklärte sie, Kelly und sie (Kelly sei natürlich nur ein Spitzname) seien sich mehrmals im Café Opera begegnet, als sie mit Kollegen unterwegs war. Bei einer Gelegenheit habe er neben ihr gesessen, und sie hätten «über alles» gesprochen. «Er ist einer der begabtesten Männer, die ich getroffen habe. Er interessiert sich nicht nur für Geschäfte, Aktien, Immobilien, sondern ist einer der wenigen Menschen, die ich in der Geschäftswelt kenne, die sich auch für soziale Fragen interessieren.»
Ich versuchte an ihr vorbeizukommen, doch sie stellte sich mir brutal in den Weg. «Woher kennst du ihn?» Ihre Betonung des «woher» und «du» verrieten sowohl echtes Erstaunen als auch Abscheu. «Ich kenne ihn überhaupt nicht», antwortete ich, drängte mich an ihr vorbei und rannte die Treppen hinunter.
Manchmal frage ich mich, ob ich ihr unrecht tue.
Nachdem kelly mich verlassen hatte, überfiel mich mit ohrenbetäubender Stärke die Einsamkeit. Ich bekam Angst, ich fühlte mich ausgeliefert. Als ich den Blick über die Gipfel im Norden und Süden schweifen ließ, dann über den See Pietsaure im Westen und über das sumpfige, von Gestrüpp überwucherte Gelände weiter oben, entlang dem Gletscherfluß im Osten, überkam mich eine Unruhe, die das Atmen schwermachte. Zwar war es unangenehm gewesen, Kelly zur Gesellschaft zu haben, aber paradoxerweise schien es sicherer, eine konkrete Bedrohung vor sich zu haben, als sie nicht zu sehen, nicht einmal zu wissen, ob es etwas zu fürchten gab. Mir fehlte ganz einfach die Angst vor Kelly.
Etwas bewegte sich schräg hinter mir. Ich drehte mich rasch um, konnte aber nicht sehen, was es war. Nach einer Weile begann es wieder, und ich entdeckte einige Rentiere, die nach unten zum See unterwegs waren. Mir fiel ein, daß es im Sarek auch einen lebenskräftigen Bärenstamm gab.
Plötzlich hatte ich nichts zu tun. Geistesabwesend machte ich einen Abstecher zum See, kehrte aber bald um, da es zu feucht war, um dort in Turnschuhen herumzulaufen. (Nach dem Bad hatte ich den Füßen eine Erholung von der klebrigen Feuchtigkeit der Gummistiefel gegönnt.) Kaum war ich am Zelt angelangt, meinte ich wieder eine Bewegung wahrzunehmen, diesmal in dem Sumpfgelände weiter oben am Gletscherfluß. Bald entdeckte ich auch etwas, das sich im Weidengestrüpp bewegte. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich erkannte, was es war. Es war ein Mann, der auf dem Weg zu mir war.
Als er so nah war, daß ich seine Kleidung und Gesichtszüge erkennen konnte, kam mir in den Sinn, was für erstaunlich grobe Konturen der Mensch hat. Die Nuancen von Verhalten, Kleidung und Wortwahl scheinen ihre soziale Bedeutung verloren zu haben. Entweder sind sich die Individuen zum Verwechseln ähnlich, oder sie signalisieren ihre Abweichung mit so starken Mitteln, daß man versucht ist, bereits nach dem ersten Blick die Schablone eines Lebensschicksals zu entwerfen: eine dickliche Familie auf Urlaub, in identischen Trainingsanzügen vor ihrem Wohnwagen Kaffee trinkend; zwei ausgemergelte, schwarz gekleidete Punker in ausgelatschten Nagelstiefeln durch eine U-Bahn-Station marschierend; Direktoren in uniformen Anzügen auf einer Direktionskonferenz. Warum werden soziale Rollen und Antirollen so überdeutlich? Die meisten Menschen schämen sich offenbar dafür, daß sie tatsächlich einzigartig sind. Es ist nur allzu einfach, sich hinter einer Karikatur zu verstecken. In diesem Punkt weiß ich wirklich, wovon ich rede.
Der Mensch jedoch, der auf mich zukam, war jenseits aller Kategorien, überdeutlich auch er, aber auf eine ganz eigene Weise. Er war fett und klobig, stolperte vorgebeugt dahin, die Schritte verteilten sich ziemlich beliebig unter ihm. Sein Körper war schwammig, am Hals war zuviel loses Fleisch, das über den Kragen hing. Auf der unförmigen Nase balancierte eine verschmutzte