Der Sarekmann. Lennart Hagerfors

Der Sarekmann - Lennart Hagerfors


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gibt es einen Augenblick der Aufmerksamkeit.

      Ich bin nicht eins mit dieser Sprache. Ihre Schwere, ihre Lustlosigkeit und ihr Widerwille sind mir fremd. Ich bin undicht, durchscheinend, vom Wind durchweht. Es zischt, pfeift und seufzt. Ich bin so porös, daß ich fürchte, ein Arm könnte sich plötzlich vom übrigen Körper lösen und selbständig davontreiben. Ein Gefühl oder ein Gedanke kann nur selten in mir Fuß fassen. Ich verstehe mich nicht aufs Kompakte. Die Seltsamkeiten, die sich hinter dem Panzer des Schwedischen verbergen, erschrecken und – faszinieren mich. 1986 ist dies offenbar geworden. Einiges lerne ich jedoch mit der Zeit. Bett, Tisch, Stuhl.

      Dies ist nicht der Bericht von meinem Leben im Frühjahr 1986. Das ist eine ganz andere Geschichte. Sie handelt von Wechselgeld und der Sitzhöhe im Bus, von Leffe, dem Mitschüler aus dem Gymnasium, der gerade sein zweites Kind bekommen hatte, von Micke, dem Kumpel vom Militärdienst, der das Kneipenleben liebt und Fotograf ist, von Ann, die 79 meine Freundin war und mit der ich hin und wieder schlafe, von Ulla, die ich 73 in Griechenland kennengelernt habe und mit der ich nicht schlafe, weil sie Familie und Kinder hat. Dieses, «das Leben», wie Micke es in dem Versuch nannte, dem Schlendrian einen Sinn zu geben, spulte sich ab, als gehöre es zu einer von politischen, sozialen und biologischen Veränderungen unabhängigen Sphäre. Die Trivialitäten der Gemütlichkeit: ein geborgtes Sommerhäuschen, ein paar Freunde, gutes Essen, Wein, Sauna, kalte Bäder, Kartenspiele, alles glitt in mich hinein und wieder heraus wie ein Beischlaf in einem Militärpuff. Kino, Oper, Musik, Theater, Bücher, Friedenszeiten. Es gab so viel, für das man dankbar sein konnte. Hätte nur die Idylle nicht die niederschmetternde Eigenschaft, sich «nebenbei» abzuspielen. Trauer und Demütigung zeigen stets ihr Gesicht, das Glück wendet seines ab. Und die Klischees recken ihre grinsenden Gesichter vor, wenn man glaubt, etwas Authentisches gefunden zu haben. Ihre Hartnäckigkeit muß einen Sinn haben. Vielleicht wollen sie uns daran erinnern, wie schwierig es ist, die Schablonen des Lebens anzunehmen, solange wir manisch damit beschäftigt sind, die Schablonen der Sprache zu bekämpfen.

      Der mann, der genau dort stand, wo ich meinen Begleiter treffen sollte, starrte in das dunkle Wasser des Gebirgsbachs. Die Säule aus Licht, die aus dem hellblauen Loch in der Wolkendecke auf ihn herabstürzte, war ein Zeichen: Hier ist der Ort, hier ist der Mann!

      Sobald ich ihn entdeckt hatte, verließ ich instinktiv den Pfad und schlich mich vorsichtig durch Heidekraut und steiniges Gelände. Ich bewegte mich an einem Lagerplatz der Lappen entlang, der verlassen schien.

      Der Mann hatte mich nicht entdeckt, er begann sich auszuziehen, als befände er sich daheim im Schlafzimmer. Während er sich auszog, näherte ich mich ihm vorsichtig, und als er sich aufrichtete und zu dem Hang emporspähte, den ich heruntergekommen war, blieb ich stehen. Er entdeckte mich nicht, sondern stürzte sich nackt in den eiskalten Bach. Das Wasser sah tief und dunkel aus, aber hier, kurz vor der Mündung in den Pietsaure, floß es langsam.

      Er stellte sich aufrecht hin und watete prustend an Land. Das Wasser reichte ihm nur bis an die Knie. Die Sonne glitzerte in den Tropfen auf seinem braunen, muskulösen Körper.

      Während er sich abtrocknete, ging ich die letzten Meter auf ihn zu. «Kalt, wie?» brüllte ich, als er gerade versuchte, die Beine in die Hosen zu zwängen. Er zuckte zusammen und verlor das Gleichgewicht. Mit ein paar ungelenken Schritten versuchte er sich wieder aufzurichten, doch es gelang ihm nicht, und er fiel wieder ins Wasser. Ich stieß einen Schrei aus und hob zu einer Entschuldigung an, brach aber mittendrin ab. Ich erkannte den Mann, der mit starrem, erschrockenem Blick im Wasser saß und nach Luft schnappte. Es war Kelly.

      Mühsam hangelte er sich auf die kleine Uferwiese, fluchend und stammelnd. Schließlich stieß er hervor: «Du bist hier?» Auf meine Frage «Hast du lange gewartet?» antwortete er nicht, sondern starrte mich mit seinen hellen Fischaugen an. Er war irritiert. Das war deutlich zu merken, als er sich wieder anzog. Ich nahm den Rucksack ab, setzte mich auf einen Stein und verfolgte interessiert seine Bewegungen. Trotz seines Unwillens, der so stark war, daß man ihn fast riechen konnte, war es bemerkenswert, mit welcher Kraft und Koordination er sich bewegte. Der Rucksack und die Ausstattung schienen wie maßgeschneidert, seine Bewegungen wirkten eingeübt, jedes Fach, das sich in dem Rucksack öffnete, jedes Kleidungsstück, das er anzog, alles erinnerte an einen Elitesportler, der kurz vor dem Start seine Ausrüstung überprüft.

      Jetzt beleuchtete uns eine sanfte Nachmittagssonne. Schräg hinter Kelly, etwa fünfzig Meter entfernt, sprangen ein paar Rentiere über den Bach. Die Luft war nach dem Regen frisch und klar. Die Wolken glitten als zarte Schleier über uns hinweg und verschwanden Richtung Osten. Es war beinahe windstill. Ich bückte mich und pflückte ein paar Blaubeeren, die ganz in der Nähe wuchsen, warf sie aber weg, nachdem ich sie betrachtet hatte. Dies war die bizarrste Idylle, die ich je erlebt hatte.

      «Wollen wir essen?» fragte ich. Kelly stand in Gedanken versunken da und starrte auf den Berg Rasek südlich von uns. Ich wiederholte die Frage, und er nickte zerstreut. Ich holte den Kocher heraus, füllte ihn mit Brennspiritus, zündete ihn an und rührte Wasser aus dem Fluß in eine Packung gefriergetrocknetes Curryhuhn mit Reis. Der Curryduft stieg aus dem Topf auf wie der Geist aus der Flasche: ein bunter exotischer Fremdling, der schlecht in die nordische Fjälluft paßte.

      Wir aßen schweigend. Es schmeckte erstaunlich gut. Dann fragte ich ihn, warum er mich gesucht habe. Er stritt es ab. Mit harter Stimme sagte er, seine Zusammenarbeit mit Usk sei «ein abgeschlossenes Kapitel».

      Ich lachte, nahm es als einen Scherz, als eine der vielen Mystifikationen dieser Wanderung.

      Dann hatte Kelly offenbar beschlossen, nett zu sein. Er sah mich an und lächelte. «Das ist die Freiheit», sagte er und deutete hinaus auf die Fjällwelt. «Hier gibt es keine Verpflichtungen, hier haben Zeit und Geld keine Bedeutung, hier ist man sein eigener Herr, hier kann man sich auf seine eigene Kraft, sein eigenes Urteil verlassen.» Er forderte mich auf, ein Bad zu nehmen, damit ich nicht später am Abend fröre und schlechte Laune bekäme.

      Das Wasser sah so verlockend aus, daß ich seiner Aufforderung tatsächlich folgte. Kaum daß ich hineingestiegen war, bereute ich es. Ich hatte mir nicht vorgestellt, daß es so entsetzlich kalt sein würde. Während ich zögernd dastand, begannen die Beine zu schmerzen. Ich spritzte Wasser auf den Oberkörper, hüpfte auf und nieder und warf mich schließlich schreiend hinein.

      Hinterher war es herrlich. Kelly scherzte und lachte über mich, er reichte mir das Handtuch und gab mir Ratschläge, wie ich mich anziehen sollte. Er kochte Kaffee und spendierte ein Stück Schokolade. Seine Züge bekamen etwas Jungenhaftes: ein Pfadfinder, der irgendeinen Schabernack ausheckt.

      Mit seiner Hilfe baute ich in wenigen Minuten das Zelt auf. Ich kroch hinein, rollte die Unterlage und den Schlafsack aus und bereitete mich auf die Nacht vor. Ich nahm an, er würde das gleiche tun, aber als ich aus dem Zelt trat, hatte er seinen Rucksack gepackt und war gerade dabei, ihn auf den Rücken zu wuchten. Sein Gesicht war wieder ernst. Er sah jedoch etwas komisch aus, da er keine Hosen anhatte. Die waren ja immer noch naß.

      Ich weiss wirklich nicht, warum ich noch einmal an Usks Unterricht teilnahm. Ich habe jedoch eine vage Erinnerung, daß die Stunde außerhalb der planmäßigen Veranstaltungen stattfand, daß es sich um eine besondere Zusammenkunft handelte.

      Alle waren da, außer Eva. Usk war aufgeregt, und seine Unruhe steckte uns alle an. Diesmal verzichtete er auf einleitende Rituale, er sagte, er wolle direkt zur Sache kommen und mit einer praktischen Illustration beginnen. Er legte ein Hackbrett und ein Messer vor sich auf den Tisch, während er amüsiert unsere Reaktionen beobachtete. «Dies ist die Bühne», sagte er und ließ die überraschenden Requisiten eine Weile auf uns wirken, Dann bückte er sich und nahm etwas aus seiner Aktenmappe. Es war unmöglich auszumachen, was es war. Ein kleines braunes Büschel lugte zwischen Daumen und Zeigefinger hervor. Ohne weiteren Kommentar hob er das Messer und trennte mit einem raschen Schnitt den herausragenden Teil ab. Danach wischte er sich die Hände ab und ließ uns zusehen, wie sich unter den haarigen Teilen auf dem Hackbrett ein dunkler Fleck ausbreitete. Ein Mädchen schrie «Nein!» – dann sahen wir alle, was geschehen war: Usk hatte einer Maus den Kopf abgeschnitten.

      «Ich habe eine Maus getötet», sagte er und fuhr


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