Der Sarekmann. Lennart Hagerfors

Der Sarekmann - Lennart Hagerfors


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vor Zorn, nannte ihn einen Egoisten und behauptete, die meisten Leute würden sich aus egoistischen Gründen Kinder zulegen. Sie würden Gefühle und enttäuschte Hoffnungen auf ein wehrloses Geschöpf projizieren. «Solche Leute sollten sich besser einen Hund zulegen», sagte sie und ging aufs Klo.

      Als sie wiederkam, hatte sie rotgeweinte Augen. Sie sagte, sie sei überanstrengt, und legte sich in Papas Bett. Ich half Mama beim Abdecken, während Papa sich die Fernsehnachrichten anschaute. Dann nahm ich meinen Anorak und ging nach Hause.

      Was macht berge für menschen so verlockend? Was läßt manche Menschen unglücklich werden, wenn sie sich im Schatten des Berges aufhalten? Trotz meiner Neigung zu Schwindel – oder vielleicht gerade deswegen – haben Höhen mich stets angezogen. Ich könnte jedoch kaum ständig in Gebirgsgegenden leben. Das würde zu große Anforderungen an mich stellen.

      Die Ebene und der Wald sind die Landschaft der Routine. Das heißt Arbeit, Dörfer, Städte. Das heißt Menschen, die sich versammeln, Feste veranstalten, sich quer über eine Dorfstraße hinweg streiten, sonntags Gottesdienste abhalten. In Kriegszeiten ziehen gewaltige Armeen gegeneinander auf, und kaum einer weiß, worum gekämpft wird.

      In den Bergen leben die Menschen abgesondert, und sie sprechen ungern miteinander. Die Männer sind oft bewaffnet und kämpfen aus persönlichen Gründen. Keiner hält Gottesdienste ab, hier spricht der einzelne mit seinem Gott. Hierher kommt man nicht, um die Mühen der Arbeit mit anderen zu teilen, sondern um einen Ausblick zu haben, um jemand anderem eine Landschaft zu zeigen, zu sagen: «Ab diesem Augenblick, an diesem hohen Aussichtspunkt, wird sich alles verändern.» Ein Vater spricht mit seinem Sohn über die Berufung, nicht über die Einteilung der Arbeit oder die Aufteilung des Erbes. Er spricht nicht vom Wachstum der Pflanzen, sondern von Leben und Tod.

      In der Ebene treten sich Erzfeinde in Zwisten und Prozessen gegenüber. Auf dem Berg treten sie sich mit der Waffe in der Hand gegenüber, und nur einer von beiden kommt wieder herunter. In der Ebene sinniert der Mensch darüber, was aus seinem Leben werden soll. Auf dem Berg sinniert er darüber, was das Leben ist. Die Ebene kann im besten Fall Menschen hervorbringen, die Mitgefühl haben, die Verständnis zeigen für den, der anders ist, die imstande sind, so etwas wie Demokratie aufzubauen, im schlechtesten Fall Menschen, die von der Tyrannei der Diktatur gelähmt sind. Solche Menschen sind in den Bergen selten. Dorthin flüchtet einer, der sich der Ordnung der Ebene versagt.

      Je älter ich werde, um so mehr habe ich den Segen der Wiederholung schätzen gelernt: sich abends ins Bett legen und die Gedanken um den Joghurt und den Kaffee kreisen lassen, die ich zum Frühstück zu mir nehmen werde, und um die wohlbekannten Haltestellen der Linie 54 und die fast gleich aussehenden Busse. Die Besonderheiten der einzelnen Fahrzeuge verstärkten auf paradoxe Art ihre Gleichartigkeit, genau wie die wechselnden Arbeitsschichten das Gefühl von Routine vertieften. Bestimmte freie Vormittage in der Woche formten sich deutlicher zur Routine als die mechanische Wiederholung der festen Arbeitszeit.

      Ich erinnere mich an die Unterrichtsstunde, in der mir Usks spezielle Art zu husten auffiel. Er schien wie mit trockenem Staub gefüllt. Irgend etwas in seiner Kehle konnte sich nicht den in seiner Brust herumwirbelnden Partikelchen anpassen.

      Es hat lang gedauert, bis ich anfing, auf seine Worte zu achten. Der Husten nahm meine gesamte Aufmerksamkeit in Anspruch. Erst gegen Mitte der Stunde begann ich seine eschatologischen Phantasien zu verstehen. Der Mensch nähert sich dem Punkt in der Geschichte, an dem der endgültige Kampf, sowohl der äußere wie der innere, auszufechten ist. Die materialistische Revolution steht vor ihrem Zusammenbruch, die Wissenschaft ist steril und hochmütig, die Politik ein Sumpf von Kompromissen und Korruption, die Kunst nihilistisch und arrogant, die Menschen sind gehetzt, oberflächlich. Wie die Schweine leben sie in Angst vor physischen Unannehmlichkeiten und stehen ebenso fremd vor den rätselhaften Tiefen der Seele wie das Vieh. Es fehlt nicht an Zeichen: höhere Mächte haben uns durch den Fortpflanzungstrieb eine Warnung erteilt: Aids. Gott hat recht in seinem Hohn: statt Leben zeugt der Mensch Krankheit und Tod. Säuglinge werden aus dem Erdenleben abberufen, kaum daß sie es begonnen haben. Völlig gesund wurden sie von der Aufforderung erreicht: kehre zurück – und in aller Stille haben sie aufgehört zu atmen. Halbwüchsige Mädchen, die Gebärenden der Zukunft, hungern sich selber zu Tode. Die Zeit von Wasser, Luft und Erde ist vorbei. Wir befinden uns im Zeitalter des Feuers. Alles wird verbraucht, ausgebeutet, vergiftet. Die beiden gesellschaftlichen Erscheinungsformen des Materialismus, der Kapitalismus und der Kommunismus, sind stahlglänzende, verheerende Bestien.

      «Und kommt bloß nicht an und sagt», fuhr Usk fort und starrte mich mit einem Auge an, «es habe immer schon Untergangspropheten gegeben und das Leben sei trotzdem weitergegangen. Die Entwicklung unseres Planeten in den letzten hundert Jahren ist einmalig. Nichts hat mehr Bestand. Nicht einmal das Universum. Die dem Leben innewohnenden Heilkräfte sind außer Kraft gesetzt. In kindischem Übermut hat der Mensch eine Verantwortung übernommen, der er niemals gewachsen sein wird. Jetzt brauchen wir Einen Großen Plan, Eine Aggressive Demut, Eine Innere und Äußere Revolution, bei der jeder gezwungen ist, aufzustehen und sich selbst, seine Angehörigen und seinen Besitz zu opfern, um die Initiative an Den Großen Beweger zurückzugeben, in dessen Handfläche alles ruht.»

      Gegen Ende der Rede wurden seine dünnen Lippen feucht, und die Nasenflügel bewegten sich wie ein Vogel in langsamem Flug.

      Es lag eine Drohung in der Art, wie Usk die Worte hervorsang, in seinen trockenen Hustenanfällen und dem asymmetrischen Suchen seiner Augen nach einem Ziel. Trotzdem hätten mich seine schwülstigen Wortkaskaden wohl ziemlich kalt gelassen, hätte sich meiner nicht ein schleichender Verdacht bemächtigt. Die Worte hatten fraglos einen Adressaten. Sie waren nicht an die übrigen Schüler gerichtet – an die, die schon Gläubige waren. Ich war der Humus, in den Usk sorgfältig seine Worte pflanzte. Ich war es, der eingeführt, vorbereitet werden sollte. Mit seiner Rede verfolgte er ein konkretes Ziel. Etwas erwartete mich.

      Aus der ferne erinnerte die fjälllandschaft an eine Postkarte. Alles war dekorativ.

      Als der Bus aus Gällivare sich Kebnats näherte und die Berge uns zu beiden Seiten umgaben, veränderte sich das Bild. Ich war überrascht von einer ungewöhnlichen Tiefenschärfe, die anderen Gesetzen zu folgen schien. Jeder Ausblick barg ein optisches Phänomen. Es erstaunte mich, wie deutlich ich aus sehr großer Entfernung die Konturen wahrnehmen konnte. Trotzdem war es unmöglich, Abstand, Größe und Form einzuschätzen. Zwei Hügel, die dicht beieinanderzuliegen schienen, waren in Wirklichkeit durch einen großen See getrennt. Der eine war eine kleine Erhebung neben der Straße, der andere ein Gebirgsmassiv zehn Kilometer weiter weg.

      Die Berge verwandelten sich, wenn man sich ihnen näherte. Ein gleichmäßiger hellgrüner Hang entpuppte sich mal als undurchdringliches Weidendickicht, mal als steiniger, unwegsamer Abhang oder als Wiese mit Heidekraut und anderen Kriechpflanzen in Schattierungen von Grün, Rostbraun, Gelb, bis hin zu Rot.

      Es war bemerkenswert, wie greifbar man das Hineinfahren in die Fjällandschaft erlebte. Ich wurde von einer Welt umschlossen, deren Proportionen mir völlig fremd waren.

      Erst bei der Überfahrt nach Saltoluokta auf einem soliden Schiff, das schlecht in die wilde Umgebung paßte und dessen Passagiere eine Handvoll Wanderer und ein paar junge Lappen mit Hunden und Handgepäck waren, fiel mir flüchtig mein «Auftrag» ein. Allein der Gedanke erfüllte mich mit Widerwillen und einem so übermächtigen Gefühl von Unwirklichkeit, daß mir schwindelte und ich meinen Kopf mit beiden Händen umfaßte. Ich verdrängte den Gedanken, so gut es ging.

      Die Fjällstation von Saltoluokta war ein rustikales Holzgebäude inmitten von Dickicht und Zwergbirken. Auf der Treppe vor dem Haupteingang, von wo aus man eine schöne Aussicht über den See hatte, stand ein älterer Wanderer und sprach mit einem Lappen über die Niederschläge von Tschernobyl. Ich kam auf dem Weg zum Duschraum im Keller an ihnen vorbei – es würde für lange Zeit die letzte Dusche sein, soweit ich verstanden hatte. Der Lappe sagte, jetzt werde er aufgeben. Man könne gegen Behörden, gegen Kraftwerkunternehmen, gegen Wind und Wetter kämpfen. Aber nicht gegen etwas, das sich Tausende von Kilometern weit entfernt bildete, unsichtbar war und vom Himmel fiel.

      Ich verließ Saltoluokta und folgte


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