Der Sarekmann. Lennart Hagerfors

Der Sarekmann - Lennart Hagerfors


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Gesellschaft sterben allmählich ab. Die Ausbreitung der technokratischen Großunternehmen, die Übernahme der individuellen Verantwortung durch den Staat, der Materialismus mit seiner Verachtung der geistigen Reife und fester moralischer Werte, all das hat jetzt seinen Höhepunkt erreicht und zerstört unser Leben. Nun bricht eine neue Zeit an. Wir tragen die Verantwortung. Noch ist nicht alles verloren. Die Welt verblutet, aber wir sind eine kleine Schar, die mit wahnsinniger Kraft für eine reinere Zukunft kämpft. Wir haben den Mut, die Moral, die Kraft, wir haben den Glauben an eine höhere Ordnung, wir haben Respekt vor der Erde, dem Vaterland…»

      So ging es noch eine ganze Weile weiter. Zuerst war es sehr unangenehm, aber man gewöhnte sich überraschend schnell an die hochtrabende Rhetorik. Die Worte und der Rhythmus, in dem sie vorgetragen wurden, besaßen eine innere Mechanik. Mir fiel auch ein, daß ich in Zeitungen und an Arbeitsplätzen auf ähnliche Vorstellungen gestoßen war. Ich kannte mindestens zwei seriöse Angestellte bei den Stockholmer Verkehrsbetrieben, die ähnliche Gedankengänge formuliert hatten, während die Kollegen über Automodelle, industrielle Luftverschmutzung, Dallas und Steuerhinterziehung diskutierten.

      Trotzdem empfand ich eine leichte Übelkeit, als ich mich rasch davonmachte. Usk holte mich ein. Ohne etwas zu sagen, begleitete er mich, wir gingen die Kungstensgatan entlang, auf Sveavägen zu, wo wir in die Kungsgatan einbogen. Sein Schweigen erschien mir wie ein Auftakt.

      Die Stelle, an der Olof Palme ermordet worden war, hatte man mit Gittern abgesperrt. Eine ständig wachsende Schar von Menschen stand davor, schweigend und beunruhigt. Einige weinten. Viele warfen Blumen über die Einzäunung.

      «Es ist gut, daß sie trauern», flüsterte Usk. «Das reinigt. Jemand mußte für die Zukunft geopfert werden.» In seinem Gesicht war keine Spur von Trauer.

      Kurz bevor wir uns auf dem Bahnsteig in der U-Bahn trennten, hatte ich eine Eingebung. «Jetzt bin ich bereit, Kelly zu treffen. Ich muß nur Zeit und Ort wissen.» Usk blickte weg. «Im Moment geht es nicht», antwortete er. «Kelly befindet sich vorübergehend im Ausland.»

      Ich erinnere mich, daß ich mich leer und traurig fühlte. Ich trauerte nicht um Palme. Er war ein allzu manipulierender Politiker gewesen, als daß ich ihn hätte bewundern können. Das einzige, was ich an ihm schätzte, war die bedeutende Erweiterung des politischen «Raums» seit seinem Amtsantritt als Ministerpräsident.

      Das Gefühl von Verlust hatte mit mir selbst zu tun. Der Abstand zwischen Politik, Ideologie, Mythologie einerseits und dem Alltagstrott, «meinem Leben» andererseits, wuchs mit jedem Tag.

      «Was hast du vor?» fragte ich kelly, als er vor mir stand, ohne Hosen, aber offensichtlich bereit, mich zu verlassen. «Ich gehe», antwortete er kurz. «Wohin?» – «Das geht dich einen Dreck an.»

      Erst da kam mir der Gedanke, daß Kelly vielleicht gar nicht mein Begleiter war, daß wir uns vielleicht zufällig – oder durch irgendwelche anderen Umstände – ausgerechnet an dem vereinbarten Treffpunkt begegnet waren. Aber was hatte er im Sarek zu suchen?

      Mit einigen langen Schritten durchwatete er den Bach. Als er sich am anderen Ufer die nassen Hosen anzog, fragte ich ihn, was er im Sarek mache. Er tat so, als habe er die Frage nicht gehört, und widmete sich gänzlich dem widerspenstigen Kleidungsstück. Mir kam der Gedanke, daß er die Hosen ebensogut beim Durchqueren der Furt hätte anbehalten können.

      Als er fertig angezogen war, richtete er sich auf, rückte den Rucksack zurecht und wandte sich mir zu. Vielleicht machte der zwischen uns dahinfließende Bach es ihm möglich, so persönlich zu mir zu sprechen. Der Abstand zwischen uns schien eine Garantie gegen eine allzu aufdringliche Intimität zu bilden. Seine Aussagen erhielten eine Allgemeingültigkeit, eine größere Reichweite, als durch meine Frage eigentlich motiviert gewesen wäre.

      «Ich hätte Chirurg werden sollen, die Aufgabe übernehmen sollen, krankes Fleisch wegzuschneiden, zu entfernen, was den Menschen schwächt. Ich bin hier im Sarek, um mir meine Lebenstauglichkeit zu bestätigen – und um ein Unrecht zu rächen. Jemand muß für einen Verrat bezahlen. Meine Aufgabe in diesem Leben ist unendlich viel größer, als jemand sich vorstellen kann. Für mich gibt es keine Begrenzungen. Ich bekämpfe alles, was den Menschen degeneriert, ihn schwächt und von künstlichen Mitteln abhängig macht. Im Geschäftsleben habe ich kein Mitleid gegenüber erfolglosen Konkurrenten. Der Mensch ist ein Säugetier. Der Starke überlebt, der Schwache stirbt.»

      Er verbreitete sich ziemlich lange über dieses Thema und flocht hier und da Sprichwörter und Gemeinplätze ein: «Keine Kette ist stärker als ihr schwächstes Glied», «Einsam ist stark», «Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm», «Keine kranke Saat in den Boden der Zukunft».

      «Keine Art kann überhandnehmen. Vermehren sich die Elche im Sarek übermäßig, wird das Futter knapp, in Lemmingjahren liegen die Lemminge erfroren auf den Gletschern oder ertrinken in Seen und Flüssen. Auch die Stärke hat ihre Grenzen. Diese Grenze hat der Mensch erreicht. Wir werden jetzt immer mehr geschwächt. Daher gilt es mehr denn je, stark zu sein, zu überleben. Ich bin zwar bereit zu sterben, aber ich will nicht derjenige sein, den das Rudel zurückläßt. Der Schwache hat sein Recht zu leben verwirkt. Deshalb bin ich im Sarek unterwegs.»

      Die Abendsonne beleuchtete ihn von der Seite. Hinter ihm, vor den dunklen Flanken des Bergs Rasek, kreiste ein Vogel. Irgend etwas stimmte nicht. Seine Worte hielten lange ihrem eigenen Gewicht stand, und ich war bereit, ihm recht zu geben. Aber er hatte es zu sehr in die Länge gezogen. Es klang mehr und mehr so, als überrede er sich selbst, als müsse er sich etwas erkämpfen. Als er bei «ich bin bereit zu sterben» ankam, war das Ganze peinlich geworden. Die Worte trugen ihr eigenes Gewicht nicht mehr und fielen zu Boden. Ich wandte mich ab und fürchtete, er würde bemerken, daß ich mich für ihn schämte.

      Dann stand ich da und sah ihm lange nach, während er zügig den Hang zwischen dem Rasek und dem Rumok erkletterte und auf der Hochebene verschwand. Die Art, wie er sich bewegte, war imponierend. Es war, als gäbe die Fähigkeit, sich geschmeidig im Fjällgebiet bewegen zu können, seinen Worten ihren harten Klang zurück. Er hatte nichts Komisches oder Bemitleidenswertes mehr. Im Gegenteil, auf mich wirkte er beängstigend.

      Erlaubt mir, ein wenig abzuschweifen. Ich möchte etwas sagen über die – Oper. Der Exkurs handelt von meiner Stimme (was ist persönlicher als die eigene Stimme?) und von der Oper als Kunstform (was ist künstlicher als eine Operninszenierung?).

      Als ich achtzehn war, trat ich einem der weniger bekannten Kirchenchöre Stockholms bei. Papa freute sich sehr darüber. Ich hatte ein «Interesse» entwickelt. Mein etwas heiserer, gewöhnlicher Tenor paßte sich treu dem traditionellen und frommen Repertoire an. Bestimmt hätte ich diesen Zeitvertreib weiter gepflegt, hätte ich nicht ein Jahr darauf die Stockholmer Oper besucht, wo man La Traviata gab. Dabei erkannte ich, daß die menschliche Stimme in der Lage war, sich auf etwas sehr viel Gefährlicheres und Prätentiöseres einzulassen. Ich lernte, daß die Verkünstelung, die bis zum Äußersten vorangetriebene Technik, überwältigende Schönheit zu erzeugen vermag. Ich lernte ganz einfach, daß es möglich war, eine Vorstellung zu genießen. Ich entdeckte einen Schalter in meinem Bewußtsein, mit dessen Hilfe ich zwischen den Stimmungslagen schwülstig/tragisch, banal/genuin, Gefühlsduselei/Gefühlsstärke wechseln konnte. Genau im Moment des Umkippens jagten mir Schauer den Rücken hinunter. Die verschiedenen Stimmungslagen bedingten einander.

      Diese Entdeckung wurde mir vermutlich durch das Verhalten des Publikums an jenem Abend möglich. Zunächst erregte ein arroganter junger Mann, vermutlich ein Geschäftsmann, meine Aufmerksamkeit, der kurz vor Beginn der Vorstellung seine Begleiterin – eine zwitschernde Blondine mit vollen, feuchten Lippen – über die Mitwirkenden informierte. In theatralischem Flüsterton berichtete er, der Bariton, Vater Germont, sei der beste Sänger der Aufführung, doch er sei ein Trinker und kaum imstande, Noten zu lesen. Die Sopranistin verachte den Tenor wegen dessen Mangel an Musikalität und Bühnenpräsenz. Der Dirigent, im übrigen ein fähiger Maestro, leide an einer Phobie: er fürchte, es werde ihm nicht gelingen, dem Orchester den richtigen Einsatz zu geben. Der kleine Ansatz beim Heben des Taktstocks mache ihm angst.

      Ich begriff plötzlich, daß es «Stimmen» waren, denen ich lauschen würde,


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