Der Sarekmann. Lennart Hagerfors
beiden Männer in meinem Abteil, vielleicht auch beide, mußten aus unerfindlichen Gründen in eins der waldreichsten Gebiete Europas eine Planke mitschleppen.
Er war schon bei seiner dritten Zigarette, als ich mich aufraffte und ihm erzählte, daß ich meine Stiefel zu Hause vergessen hätte, und ihn fragte, ob ich ihm seine abkaufen könne. Zuerst blickte er mich erstaunt an, dann strahlte er und sagte: «Aber klar. Da haben wir ja beide Glück.»
Er verschwand in sein Abteil und kam mit einem Paar nagelneuer Gummistiefel zurück. Für fünfzig Kronen waren sie mein.
Ich konnte nicht einschlafen. Es war schon nach zwölf, und im Abteil war es feucht und stickig. Ich muß dennoch eingenickt sein, denn ich erwachte davon, daß der Zug mit einem Ruck zum Stehen kam. Draußen war es absolut still, weswegen ich vermutete, daß wir nicht an einem Bahnhof hielten. Mackan und Gösta schnarchten und wälzten sich stöhnend herum. Aus einem anderen Abteil war jetzt deutlich ein trockener Husten zu vernehmen. Ich holte den Computer hervor und schrieb: «Es ist schwer zu schlafen. Jemand hustet.» Dann klappte ich den Deckel zu, legte mich auf den Rücken und lauschte mit offenem Mund. Es wurde ganz still. Das Husten hörte auf. Der Zug setzte sich wieder in Bewegung, und ich beschloß, das Gerät trotz allem mit auf die Fjällwanderung zu nehmen.
Gegen Morgen fiel ich in einen tiefen Schlaf. Als der Schaffner mich um sieben Uhr weckte, waren Mackan und Gösta mitsamt ihrem sperrigen Gepäck verschwunden. Das einzige, was sie vergessen hatten, war die Planke. Sie lag verlassen auf dem Boden des Abteils.
Warum bin ich der aufforderung gefolgt, mich in den Sarek zu begeben? Ich, der ständig versucht hat, die Grenzen des Daseins um mich her enger zu ziehen, der einen privaten Bereich abgesteckt hat, in dem alles überschaubar und kontrollierbar ist. Ich habe mich ohne große Umstände aus diesem abgesicherten Gelände herausführen lassen. Warum? Aus Dummheit? Habe ich aus Unvernunft meine Zirkel verlassen, um anderen die Regie zu übergeben? Wohl kaum. Es war mir glasklar, was ich tat. Woher nahm ich den Mut? Von nirgendwo. Es war keine Frage des Mutes. Nein, ich hatte weder Angst, noch fürchtete ich die Konsequenzen. Ich war bloß neugierig. Übte Usks Persönlichkeit oder seine Botschaft eine Anziehung auf mich aus? Seine physische Gestalt, so aufdringlich mit ihren unausgesprochenen Vertraulichkeiten, flößte mir vor allem Unbehagen ein, seine «Lehre» war grotesk, banal und abstoßend.
Das einzige Motiv, das ich mir selber vorstellen kann, war, daß ich mich angesprochen, aufgefordert fühlte. Es gab Menschen, die etwas von mir wollten, die mich bemerkt, mich gesehen, mich erwählt hatten. Aus welchen Gründen, war nebensächlich. Das wichtige war, daß ich in einen Plan einbezogen war, daß mein Leben einen Sinn hatte, der weiter reichte als das Überleben im Alltag.
Noch nie zuvor hatte sich jemand auf diese Weise an mich gewandt. Zwar empfand ich dunkel eine Trauer darüber, daß die, welche sich an mich wandten, kein Gesicht hatten. Oder war es vielleicht das, was mich am meisten anzog?
Ich fühlte mich in stockholm wohl, auch im Winter, wenn es dunkel war und ständig ein kalter Wind wehte und der Schnee sich in schmutzigen Hügeln türmte. Es gefiel mir, herumzustreifen und in Restaurants und Wohnungen zu spähen, die dezent gemütliche Einrichtung zu ahnen, das Auge in dem sanften Licht ausruhen zu lassen, in dem Menschen sich über Teller und Gläser beugten oder in tiefen Sesseln versunken waren oder sich von einem Zimmer zum anderen bewegten. Wenn ich aber selbst in eine Kneipe schlüpfte, war ich oft enttäuscht. Da überkam mich das Gefühl, als hätte jemand, mit dem ich unbedingt hätte sprechen müssen, soeben das Lokal verlassen. Oft befand ich mich am richtigen Platz, jedoch zum falschen Zeitpunkt. Vielleicht hätte Stockholm eine Heimat werden können, wenn ich zu einem anderen Zeitpunkt dort gelebt hätte, beispielsweise in den fünfziger Jahren.
Stockholm war eher ein Arbeitsplatz als eine Heimat. Seit zwei Jahren jobbte ich dort als Busfahrer. Vor gut drei Jahren habe ich meinen Beruf als Sozialarbeiter aufgegeben. Einige Jahre lang hatte ich freigebig Geldanweisungen für die bedürftigen Männer und Frauen der Stadt ausgestellt. Diese Arbeit tat ich gewissenhaft wie eine Postbeamtin. Alle meine redlichen Bemühungen, mir ein ordentliches Verantwortungsbewußtsein zuzulegen, scheiterten jedoch. Versuchte ich, mich hin und wieder für einen Einzelfall einzusetzen, wurde ich von dem Betreffenden mit unangemessenen Forderungen überschüttet: mehr Geld, mehr Mitgefühl, Verfügung über meine Wohnung, mein Telefon, meine Freizeit. Ich glaube nicht, daß ich einen einzigen von ihnen zu einem würdigeren Leben emporgezogen habe. Hingegen bin ich selbst bei mehreren Gelegenheiten gedemütigt und bedroht worden. Am schlimmsten war es, wenn sie meine Liebe forderten.
Als Busfahrer ist der Kontakt mit den Mitmenschen flüchtig und provisorisch genug, daß ich ihn ertragen kann.
Ich wohnte – mein Mietvertrag besteht immer noch – in einem kleinen Einzimmerappartement in der Högalidsgatan. Deine Wohnung verrät mehr über dich als dein geheimstes Tagebuch. Meine Eltern bewohnen eine große Dreizimmerwohnung in der St. Eriksgatan, und meine jüngere Schwester hat eine hübsche Zweizimmerwohnung in Östermalm. So verschieden sind wir.
Es war meine Schwester, die mich für den Kurs in Religionswissenschaft anmeldete. Die Initiative kam so überraschend, daß ich sie für ein Omen nahm, eine leichte Berührung durch die Hand des Schicksals.
Meine Schwester heißt Angelica, ist ausgebildete Juristin und arbeitet in einem Anwaltsbüro. Sie ist voller Arbeitseifer und leidet deswegen oft an Schlafmangel. Jeden zweiten Abend macht sie Überstunden. An den freien Abenden treibt sie Sport. Im Winter fährt sie Slalom, im Sommer macht sie Sporttauchen, Sie liebt Sportarten mit viel Ausrüstung. Oft kämpfen widerstreitende Kräfte in ihrem Inneren. Ich habe beobachtet, wie sie zwei Stunden lang schluchzend Tennis spielte.
Angelica und Papa, der gerade von seinem Amt als Seelsorger pensioniert worden ist, sind sich sehr nahe. Es gefällt ihm, wenn sie die «altmodische Intoleranz» der Kirche kritisiert und angriffslustig dafür plädiert, man müsse sich den «heutigen Verhältnissen» anpassen. Sonntag nachmittags besuchen sie zusammen Ausstellungen und machen Waldspaziergänge.
Papa hat das, was man eine optimistische Lebenseinstellung nennen könnte. Er ist ein moderner Christ, interessiert sich für die Sportschau, Familienautos und Angelsport. Hin und wieder zieht er sich mit einem Roman zurück, und manchmal blättert er zerstreut in theologischen Zeitschriften. An der Fußgängerampel wartet er stets das grüne Licht ab, und im Restaurant senkt er zwei Minuten lang den Kopf zum Tischgebet. Mich hat er immer in allem unterstützt, was ich mir vorgenommen habe. Das Wesentliche sei, wie er ständig betont, daß ich die «humanistische Grundeinstellung» behalte, die unser Zuhause geprägt hat.
Mama ist «nervenleidend», wie meine Tanten es nennen. Ein Jahr nach meiner Geburt wurde sie in die Psychiatrische Klinik von Beckomberga eingewiesen. In dieser Zeit wurde sie auf vorbildliche Weise von Papa, seinen Schwestern und den Gemeindemitgliedern unterstützt. Schließlich blieb ihr keine andere Wahl, als die Krankenhauskleidung und die Neurose abzulegen und wieder zu Hause einzuziehen. Von sich selbst pflegt sie zu sagen, sie habe sich «im Leben nicht ganz zurechtgefunden». Mama ist die einzige Person, deren Nähe mich quält. Es gab Momente, in denen ich sie geliebt habe.
Letztes Weihnachten haben wir wie üblich bei meinen Eltern gefeiert. Ich half Mama, das Essen vorzubereiten. Schweigend und mit behutsamen Bewegungen legten wir die Heringshappen in Glasschälchen, schnitten den Schinken auf und rührten ängstlich die Soße für den Stockfisch an. Mama vergaß sich oft bei dieser Tätigkeit, stand nur da und betrachtete mich mit einem melancholischen Lächeln. Angelica und Papa diskutierten im Wohnzimmer die Wirtschaftslage. Papa begrüßte die Zusammenarbeit zwischen Volvo und Refaat El-Sayeds Biotechnikunternehmen Fermenta. Das würde die Beziehungen zwischen Einwanderern und Urschweden stärken und verbessern, wie er es ausdrückte.
Angelica fiel das Stillsitzen schwer. Sie kam in die Küche und beobachtete unsere stillen Vorbereitungen. Ich dachte, ich würde einen Schlag bekommen, wenn ich sie berührte. Sie verschwand wieder ins Wohnzimmer und rückte den Baum an einen unauffälligen Platz. Dann räumte sie den Tisch ab und deckte mit einem funktionelleren Geschirr, packte alten Christbaumschmuck weg, den Mama bereitgelegt hatte, und lief hinaus, um exotische Speisen einzukaufen, die auf den Weihnachtstisch fremder Länder gehören.
Beim