Betsys Brief. Marianne Storberg
mit einem Mal besser zu gehen, immerhin heiterte sich seine Stimmung auf, was für sie beide alles viel einfacher machte.
Hans blickt auf den Fluss hinaus, der im grauen Regen vor dem Fenster dahinfließt. Er sieht Betsy vor sich, ihren schlanken Nacken, das kleine Silberkreuz, das sich in ihrem Halsgrübchen ständig verdreht. Ohne viel nachzudenken, nimmt er einen Bleistift und ein leeres Blatt aus der Schublade, zeichnet schnell eine Skizze, sein Herz pocht, als ihre Gestalt langsam Form annimmt. Das anmutige Gesicht mit den geröteten Wangen, der straffe Rücken. Tausend Mal hat er sie gezeichnet. Beim ersten Mal hatte er sie kaum zwei Tage gekannt, sie saß vor einem großen Weihnachtsbaum, hatte den Kopf ein wenig schräg gelegt und sah ihn an, ihre grünen Augen funkelten, und er hatte Angst, dass seine Hände zu zittern anfingen. Jetzt kann er sie blind zeichnen. Geliebte Betsy, wie könnte er nur die Zeit schneller vergehen lassen, bis sie sich endlich wiedersehen?
Der Regen strömt an den Scheiben herab. Die Wolken haben sich tief über die Hausdächer gelegt. Ein weiterer feuchtkalter Tag in Bonn, nur die kleinen Knospen an den Bäumen erinnern daran, dass es auf den Frühling zugeht.
Mitunter haben sich diese Räume fast wie ein Gefängnis angefühlt, das muss er zugeben. Oft hat er hier gesessen und hinausgeblickt, so wie jetzt, auf das Leben, das sich in der Stadt abspielt und von dem er abgeschnitten ist, die Menschen, die zu jeder Tageszeit vorbeilaufen, die früh morgens umhereilenden Dienstmädchen, das junge Paar, das immer Arm in Arm spaziert, die Jungen, die etwas weiter oben in der Straße einem Ball nachjagen. Er hat die Schiffe unten auf dem Fluss beobachtet und erkennt inzwischen einige wieder. An den Nachmittagen hat er hier gedankenverloren gesessen und die erstaunlichen Formationen beobachtet, die die Vogelschwärme am rosa Himmel bilden. Es ist ihm ein stiller Trost gewesen, das Leben auf diese Weise zu betrachten. Ja, abgesehen von dem einen Tag in der letzten Woche, als er einen Mann sah, der unten am Flussufer eine Staffelei aufbaute. Da hatte er ihn gespürt, einen fast körperlichen Schmerz, und langsam wurde ihm klar, worauf er alles verzichtete, was ihn dieser Winter gekostet hatte. Eine ganze Ewigkeit in völliger künstlerischer Isolation. Damit kam die Angst, denn die Frage lautete, wie viel Schaden schon angerichtet war. Ob er sich jemals davon erholen könnte? Er, der so große Ambitionen hegte, er, der nach einer Weile sogar so viel Selbstvertrauen entwickelt hatte, dass er tatsächlich glaubte, was über ihn gesagt wurde. Dass er einer der Wenigen sei, dass er eine echte Begabung habe. Der Vater würde noch stolzer auf ihn sein, falls das überhaupt möglich war. Und das Wichtigste: Er würde sich eine Existenzgrundlage schaffen, eine Basis für Ehe und Familienleben. Eine Zukunft mit Betsy, darum ging es. So hatte er seit dem letzten Sommer gedacht, aber jetzt ist er sich nicht mehr sicher. Wenn Halfdan recht behält, wenn er sich ein zu hohes Ziel gesteckt hat und niemals die Zustimmung von General Anker erhält, wird ihn das zerbrechen.
Das schlechte Gewissen trifft ihn wie ein Faustschlag. Dort drinnen liegt Hjalmar und weiß genau, dass er nie wieder einen Bleistift halten oder Farben auf einer Palette anmischen wird.
Aber eine Freundschaft verpflichtet doch? Schon vor dem Weihnachtsfest war Hjalmar völlig hilflos, und nur die Götter wissen, wie er solch einen Winter allein überstanden hätte. Wie oft hat Hans wohl Doktor Rittershausen geholt, wie oft war er in der Apotheke, hat Sachen in die Wäscherei gebracht, hat Hjalmar beim Essen oder Ankleiden geholfen, hat ihn gepflegt und zur Toilette begleitet? Niemals hätte er sich vorstellen können, einem anderen Menschen einmal so nahe zu kommen. Dabei hatte es ihm zu Beginn durchaus etwas ausgemacht, und auch Hjalmar schämte sich und wollte lange Zeit alles allein machen.
Aber es ging nicht, das begriffen beide. Und schon bald musste er Hjalmar bei den alltäglichsten Verrichtungen zur Hand gehen. Auch den Kontakt mit den Lieben in der Heimat konnte Hjalmar nicht aufrechterhalten, in den vergangenen Monaten schaffte er es nicht einmal mehr, einen Brief zu schreiben. Dabei bereitete ihm das Briefeschreiben als solches eigentlich kaum Probleme. Mit ein wenig Hilfe konnte er aufrecht sitzen, auf die Kissen des Diwans gestützt, mit einem Tablett als Unterlage für das Briefpapier. Aber gefühlsmäßig war es zu schwierig, jedes Mal, wenn er zu schreiben versuchte, wurde er von solch einem Heimweh übermannt, dass er kaum mehr als ein paar Zeilen formulieren konnte, beim letzten Versuch gingen die Tränen in einen gewaltigen Hustenanfall über, sodass Hans gezwungen war, den Doktor zu holen, obwohl draußen ein schreckliches Schneegestöber herrschte und er kaum die Hand vor Augen sah, als er durch die Stadt eilte.
Hans blickt im Zimmer umher. Die Leinwände stehen zusammengerollt und eingestaubt in der Ecke. Er kann sich kaum erinnern, woran er gearbeitet hat, als alles plötzlich anders wurde. Alle Vorarbeiten und Skizzen liegen in der Mappe und warten auf ihn, er hatte geglaubt, mit den meisten Arbeiten zu dieser Zeit schon längst fertig zu sein, aber er hat sie nicht einmal angesehen, seit er sie vor einem halben Jahr in Christiania zusammenpackte.
Halfdans Nachtmütze liegt auf dem Diwan. Ein grauweißer Baumwollstoff, ursprünglich wohl ein Kleidungsstück von bester Qualität, ganz bestimmt, doch mittlerweile hat sich an der Seite der Saum gelöst, ein ausgefranster Faden steht hervor. Die Filzpantoffel hat Halfan ordentlich unter den Diwan gestellt.
Unten auf der Straße sind schnelle Schritte zu hören. Er lehnt sich ans Fenster, blickt auf einen schwarzen Regenschirm hinunter und erkennt die Schuhe wieder.
Halfdan bleibt stehen und schließt den Schirm, der von einem Windstoß fortgerissen zu werden droht. Er zieht den Schlüssel hervor und betritt das Haus.
Hjalmar möchte also, dass er fährt und alles Halfdan überlässt.
Erleichterung. Ist es das, was er verspürt? Hat Hjalmar ihm eine Fahrkarte überreicht, die den Weg aus dem Elend weist?
Vielleicht ist es ja ohnehin richtig, dass die beiden Brüder diese Zeit allein miteinander verbringen. Vielleicht wünscht sich Halfdan das auch. Doch das lässt sich so einfach nicht sagen. Bis vor Kurzem war Halfdan jemand, dem er vertraute, ein enger Freund. Jetzt weiß er schlichweg nicht mehr, was er von ihm halten soll.
Halfdans Schritte sind auf der Treppe zu hören, Hans beeilt sich, die Zeichnung von Betsy in die Schublade zu legen, und noch bevor die Türklinke langsam heruntergedrückt wird, ist die Entscheidung zur Abreise getroffen.
Hjalmar
Christiania, Dezember 1840
Das Haus ist niemals so still gewesen. In den Fluren ist es dunkel. Alle Türen sind geschlossen, doch dahinter ist niemand mehr, der weint oder jammert. Das laustarke Gezänk der beiden Jüngsten ist verklungen. Nicht einmal Halfdans leises Geklimper auf dem Klavier ist zu hören.
Es ist Mitte Dezember. Ganz Christiania ist mit einer weißen Decke überzogen. Oben in Bakkehus reicht der Schnee bis zu den Fenstern. Die Vorweihnachtszeit ist nicht mehr so wie früher. Die Girlanden, die im Vorjahr das Treppenhaus schmückten, liegen in Kisten verstaut, Weihnachtsdekorationen und Kränze wurden ebenfalls nicht aufgehängt. Der Kronleuchter ist voller Spinnweben, und das Silber ist matt und schwarzfleckig, ohne dass sich jemand darum kümmert. Kein Duft nach Nelken, Zimt und dampfendem heißen Punsch.
Stattdessen haben sich alle im Haus in ihre Zimmer zurückgezogen, und Platz gibt es genug. Noch immer ist die Familie groß, aber das hat nicht viel zu bedeuten, jeder ist für sich allein.
Denn jetzt ist es geschehen. Jetzt steht Idas Zimmer leer, es ist ausgeräumt. Bettzeug, Blumen, Bücher, alles ist verschwunden, das Licht ist gelöscht, und zurück bleiben nur die Dunkelheit und der kalte Zug von den Fenstern, die zum Garten hinaus gehen.
Hjalmar steht auf der Türschwelle. Seine Füße sind kalt. Das blauweiße Licht vom Schnee dort draußen wirft einen schwachen Schein auf den Fußboden unterhalb der Fenster. Das Laken auf dem Bett ist glatt und gestärkt. Er streicht mit der Hand über die kalte Fläche. Nicht ein einziges dunkles Haar ist von ihr übrig geblieben, nachdem sie hier den ganzen Herbst hindurch gelegen hat.
Er ist neunzehn Jahre alt. Ida war vier Jahre älter.
Der Garten ist unter dem Schnee verborgen. Dort unten war es, wo sie herumsprangen, kletterten, stritten. Lachten. Eine Blindschleiche fanden. Wilde Erdbeeren. Mit den Katzenjungen spielten. Die Tupfen auf einem Marienkäfer zählten.
Sie war das