Betsys Brief. Marianne Storberg
dieser Aussicht gefertigt, hat versucht, die Perspektive herauszuarbeiten, die Ansicht der Häuser unter ihm, die grünen Hügel, die Inseln, den Fjord. Von Bakkehus aus hat er ein großartiges Panorama vor sich, und niemals wird er es leid, am Fenster zu stehen und hinauszublicken. Farben, Lichter und Schatten.
Oben im Arbeitszimmer liegen seine Skizzen über den Tisch verstreut. Es ist das Eckzimmer am Ende des Nordflügels, das ist perfekt für ihn, das einzige Problem ist die Kälte dort.
Er hätte vielleicht Beate rufen sollen, sieht dann aber vor sich, wie sie den Holzkorb über die Hintertreppe schleppt, und bringt es nicht übers Herz. Normalerweise hätte er Johanne gebeten, den Ofen anzuheizen, aber die ist nach Hurum zu ihrer Mutter gefahren, die schwer krank ist und Weihnachten wohl kaum überleben wird.
Das Anmachholz liegt im Korb, er entzündet ein Feuer, rasch wird es größer, und er spürt die Hitze auf die Hände strahlen.
Es ist ein bescheidenes Zimmer, ursprünglich als Gästezimmer gedacht, doch niemals dazu verwendet. Die Mutter meint, die Aussicht auf den Wald und den Holmenkollen sei so düster, und stets hat sie eine andere Lösung gefunden, wenn Gäste über Nacht blieben. Platz ist kein Problem.
Nachdenklich blättert Hjalmar durch die Skizzen, die er in den letzten Monaten angefertigt hat. Ein paar alltägliche Szenen aus dem Haus. Eine Zeichnung von Ida im Gespräch mit den Eltern unten im Wohnzimmer. Da ging es Ida noch verhältnismäßig gut. Es muss irgendwann im Mai gewesen sein, an einem lichten Nachmittag. Wie so oft wurde über ihre Zukunft gesprochen, dieses Thema, das so lange vor sich hingegärt hatte und manchmal zur Sprache kam und eine drückende Stimmung erzeugte.
Er hatte etwas sagen, sich einmischen wollen. Mit jeder verstreichenden Sekunde kochte es in ihm hoch, zerrte an ihm. Dass Ida und Johan Sebastian Welhaven einander liebten, hatten alle verstanden, aber für die Eltern war die Liebe zweitrangig. Welhaven war nicht gut genug, er war ein indiskutabler Bohemien, bekannt für seine scharfe Zunge und sein schwieriges Wesen. Und seine Ökonomie war höchst unsicher. Ihm fehlte das nötige Etwas, er war Ida nicht würdig. Das war der Punkt. Hjalmar konnte nicht verstehen, wieso die Eltern so hartherzig waren, sie mussten doch sehen, wie sehr Ida litt.
In der nachmittäglichen Sonne stand sie am Fenster. Er selbst hatte sich auf einen Stuhl neben den Kachelofen gesetzt und betrachtete sie verstohlen. Die Verzweiflung stand ihr ins Gesicht geschrieben, es war kaum auszuhalten. Er hätte sie alle überraschen können, ein unerwarteter Angriff von der Seite, der alle schachmatt gesetzt hätte, er hätte schreien, den Stuhl umwerfen und die chinesische Porzellanvase herunterfegen können, er hätte vortreten und ihnen zurufen können, dass sie Ida damit zerschmetterten, dass man auf die Liebe hören müsse, er hätte den Vater schlagen, die Faust auf seine glänzende Nase rammen können, bis das Blut auf den weißen Hemdkragen gespritzt wäre. Und dann hätte er der Mutter eine saftige Ohrfeige verpassen können von eben jener Art, die sie selbst austeilte, wenn sie die Besinnung verlor.
Aber Hjalmar unternahm nichts dergleichen und blieb stumm. Stand nur voller Anspannung da, hörte zu und schämte sich für seine eigene Feigheit, obwohl er doch Idas Alliierter war, der auserwählte Bote, der in aller Heimlichkeit Zettel und Briefe überbrachte, die die Liebenden einander schrieben. Wie üblich schrumpfte er in der Anwesenheit des Vaters zusammen. Immer wieder schaffte es der Vater, dass er sich wie ein kleines Kind vorkam. Trotz Idas flehenden Blicken hatte er ihr schließlich den Rücken zugekehrt, war hinausgegangen und hatte die Tür hinter sich geschlossen, um dem Geräusch ihrer Stimmen zu entkommen. Dann hatte er sich oben in sein Zimmer gesetzt und gezeichnet.
Eine verblichene Bleistiftzeichnung in seinen Händen, mehr ist nicht übrig geblieben.
Er blättert durch die Skizzen aus dem Garten. Im Sommer hat er unzählige Stunden dort draußen verbracht, mit Landschaft und Perspektive gearbeitet, aber auch kleine Detailstudien angefertigt von Blumen, dem Springbrunnen, dem Lusthäuschen und der alles umgebenden Hecke. Halfdan war zu jener Zeit in Paris, aber Hjalmar hatte die Skizzen Ida gezeigt, die im Schatten auf der Veranda saß, in dem Korbstuhl, der dicht an eine der Säulen herangerückt war.
Besonders die Blumenbilder hatten sie bezaubert, und er schenkte ihr eines davon. Sie hatte es einrahmen lassen und über ihrem Bett aufgehängt, neben dem Bild mit dem Engel und den kleinen Kindern.
Idas helle, klare Stimme. Er schließt die Augen und hört sie. So unverdrossen hat sie versucht, ihn aufzumuntern. Als hätte sie gewusst, dass ihre Zeit bald vorüber sein würde, und wollte sich vergewissern, dass er, der jüngere Bruder, nicht den Glauben an sich selbst verlor. Sie und Halfdan, immer waren sie für ihn dagewesen. Sie drei hatten immer versucht, einander zu beflügeln. Hinauf ins Licht, fort von Schwermut und Niedergeschlagenheit, heraus aus dem Dunkeln, heraus aus der Düsternis in Bakkehus.
Er blättert weiter durch die Arbeitsskizzen, aus denen das Gemälde des Vaters entstanden ist, das Bild, das nun unten in der Bibliothek hängt und mit einem exklusiven, vergoldeten Rahmen in den Adelsstand erhoben wurde.
Die Idee zu dem Bild war vor zwei Jahren entstanden, als er, Halfdan und Regnald anlässlich einer Feier, bei der der König anwesend war, in die Stadt mitkommen durften. Onkel Peder hatte sie begleitet. Es war ein warmer Junitag, die Straßen waren mit Laubwerk und Blumen geschmückt, und es waren so viele Menschen auf den Straßen, dass es kaum möglich war, sich vorwärts zu bewegen. Er hatte sich auf die Zehenspitzen gestellt, um gut sehen zu können, dicht neben Halfdan, der immer noch einen halben Kopf größer war als er. Dann erklangen die Fanfaren, und schließlich kam die Prozession über den Platz geschritten, angeführt von einer Gruppe, zu der sein Vater gehörte, Reichsherold Kjerulf zu Pferde, mit ernster, feierlicher Miene unter dem prunkvollen Hut. Und selbstverständlich trug er eine äußerst schmuckvolle Uniform mit einem Dutzend Schnüren, Quasten und Orden. Halfdan hatte ihn angestupst, ganz diskret natürlich, Onkel Peder bekam nichts mit. Sie wechselten einen Blick, und er sah, dass Halfdan kurz davor war, in Lachen auszubrechen. Worte waren überflüssig.
Die Skizzen, die er aus der Erinnerung angefertigt hatte, wurden dann zu einem Gemälde: ein stolzer Ritter auf einem kräftigen Streitross in wichtiger Mission. Ein Außenstehender hätte den Ausdruck des Bildes als leicht karikiert auffassen können. Doch Halfdan und er wussten, dass es mit der Wirklichkeit übereinstimmte. Der Vater war völlig begeistert und sagte, das Gemälde sei meisterhaft ausgeführt.
Dass der Tag vergeht, ist geradezu ein Wunder. Dann schließlich ist er vorbei, die Hügel vor dem Fenster werden im rosa Licht des Winterabends gebadet. Im Innern des Hauses senkt sich die Dunkelheit herab.
In der Küche hört er die Uhr läuten. Er kleidet sich zu einem frühen Abendessen um. Vom Fenster aus blickt er auf den Hofplatz hinunter. Das Licht ist schummrig, die blaue Stunde. Am Ende der Allee kommt eine dunkel gekleidete Gestalt zum Vorschein. Es ist Halfdan, der den Kragen bis zu den Ohren hochgezogen hat und mit schweren Schritten weitergeht, als wäre seinen Füßen danach zumute, auf der Stelle umzukehren und einen anderen Weg einzuschlagen. Gut, dass er kommt. So muss Hjalmar den Abend nicht allein mit den Eltern verbringen.
Unten in der Halle treffen sie aufeinander. Halfdan begrüßt ihn kurz und wirkt nicht sehr redselig, er klopft den Schnee von den Schuhen und hängt seinen Mantel auf.
Die Uhr schlägt ein letztes Mal, es ist an der Zeit, zu Tisch zu gehen. Die Eltern sitzen schon im Esszimmer, jeder an seinem Tischende. So weit voneinander entfernt, wie es eben geht.
Heute bleiben viele Stühle leer. Doch auf diese Weise schreit ihm Idas leerer Platz nicht so unverhohlen entgegen. Er nimmt gegenüber von Halfdan Platz.
Entgegen der Sitten in Bakkehus ist der Tisch bescheiden gedeckt. Aus der Suppenterrine steigt Dampf auf. Die Mutter hat angeordnet, eine einfache Bouillon und Fladenbrot zu servieren, niemand hat besonderen Appetit. Und keinen Alkohol.
»Greift zu.«
Es ist seltsam, wie beengt ein herrschaftliches Esszimmer solcher Größe wirken kann. Es scheint, als senke sich der Kronleuchter herab, als rückten die Wände näher heran. Halfdans Bisse in das knusprige Fladenbrot und das Schlürfen des Vaters übertönen alle Geräusche. Er sieht zu seiner Mutter, die zusammengesunken dasitzt und gedankenverloren in der Suppe rührt.