Betsys Brief. Marianne Storberg
scheint den Wert des Tiers nur zu erhöhen.
Ein schwacher Zigarrenduft dringt aus der Bibliothek. Offenbar ein gutes Zeichen. Der Vater ist wohl nicht krank genug, um auf den Virginiatabak zu verzichten.
Im letzten Augenblick erscheint er bei den Richards. Den ganzen Nachmittag hindurch hat es geschneit, und Lasse hatte alle Hände voll zu tun, um den Hofplatz vom Schnee zu befreien und den Schlitten aus dem Wagenschuppen zu holen.
Alle Fenster sind erleuchtet. Lautes Lachen und Musik ertönen bis auf die Straße hinaus. Mit vorsichtigen Schritten erklimmt er die von brennenden Fackeln flankierte Treppe.
Zu Hause war es nicht auszuhalten. Er musste hinaus. Jetzt überkommen ihn plötzlich Zweifel. Vielleicht war es nicht richtig von ihm. Er nimmt den Lärm, die Wärme und die lebhafte Stimmung im Innern des Hauses wahr.
Sollte er vielleicht umkehren? Aber nein, schon hat Lasse die nördliche Ecke des Palais umrundet und verschwindet im angrenzenden Häuserviertel, noch kann Hjalmar die Schellen des Pferds hören, sie werden leiser und leiser. Er könnte nach Hause laufen. Auch wenn Minusgrade herrschen und er dünn angezogen ist, würde er nicht mehr als zwanzig Minuten benötigen, um nach Bakkehus zu kommen. Aber das steht jetzt nicht mehr zur Debatte, denn die Tür wird geöffnet, der Portier verbeugt sich und wünscht einen guten Abend.
»Ja, guten Abend.«
Er legt seinen Mantel über den steifen Arm, der ihm wie mechanisch entgegengestreckt wird.
In der Eingangshalle ist die Luft erfüllt von Rauch, Alkohol und warmen Körpern. Er blickt umher, sogleich bekommt er ein Tablett mit hohen, schwankenden Gläsern vors Gesicht gehalten, er nimmt sich eines und versucht, sich hinein in den Festsaal zu bewegen.
Es ist eng. Er drängt sich an weichen Kleidern mit großen Ausschnitten vorbei, an einem unförmigen Männerbauch, der ein wenig missslungen in eine etwas zu enge Militäruniform gezwängt ist, an strengen Atemgerüchen, schwerem Parfum und lautem Gelächter, das wie Gewehrsalven auf seine Ohren abgefeurt wird.
Jemand fasst nach seinem Arm. Eine feste kleine Hand hält ihn an der Jacke fest.
»Aber nein, Hjalmar, du bist hier?«
Es ist die Tochter der Richards, Anne Charlotte, die letztes Jahr auf dem Fest mit ihm getanzt hat. Jemand drängt sich an ihr vorbei und stößt ihre zarte Gestalt zu ihm hin, doch Anne Charlotte lächelt bloß und unternimmt nicht den geringsten Versuch, sich wieder zurückzuziehen, als sie die Möglichkeit dazu hat. Hjalmar lehnt sich ein winziges Stückchen zurück.
»Wie schön, dich zu sehen, Hjalmar! Das muss ja eine schreckliche Zeit für dich gewesen sein.«
Mit schräg gelegtem Kopf sieht sie ihn an, ihre Augen sind groß und blau und laufen geradezu über vor Mitgefühl. Er leert sein Weinglas zur Hälfte. Allerdings muss er gegenüber Anne Charlotte weder bestätigen noch vertiefen, wie die letzte Zeit gewesen ist, denn plötzlich zupft jemand an seinem linken Jackenärmel, und es ist niemand Geringerer als der alte Oberst Heinrich Dunker, der furchtbare Prahlhans mit den buschigen Augenbrauen.
Im Spätherbst war er zu Besuch in Bakkehus gewesen, es war eine Abendgesellschaft im Oktober. Hjalmar war die zweifelhafte Ehre widerfahren, neben dem Oberst sitzen zu dürfen, so musste es ja kommen. Der Vater ließ sich immer neue Methoden einfallen, um wenigstens den Hauch eines Interesses am Militär in ihm zu wecken. Ein ziemlich durchschaubarer Schachzug.
An jenem Herbstabend hörte er Oberst Dunker unter anderem erzählen, dass er 1769 geboren worden sei, im selben Jahr wie Napoleon, ja, ganze drei Mal wurde das voller Stolz wiederholt, in halbstündigen Abständen, und als Hjalmar dann ein weiteres Mal Halfdans Blick über den Tisch hinweg erhaschte, hatte er sich wirklich auf den Schinken auf seinem Teller konzentrieren müssen, um nicht in Lachen auszubrechen.
Jetzt steht Heinrich Dunker neben ihm und klopft ihm begeistert auf die Schulter. An die Augenbrauen kann Hjalmar sich gut erinnern. Und an die langen Nasenhaare, die zu kürzen sicherlich nicht schaden würde.
Erwähnt er Ida überhaupt? Nur ein paar kurze Bemerkungen wie ach und jaja.
Dann wechselt er das Thema. Denn von Hjalmars Vater weiß er von den Plänen, die Hjalmars Zukunft betreffen. »Faszinierend, Hjalmar. Faszinierend.« Hjalmar wird mit einem kameradschaftlichen Rippenstoß bedacht, denn bald ist er ja einer von ihnen.
Er leert sein Weinglas, während er dem Monolog des Obersten lauscht. Erneut spielt die Musik auf, jemand lacht laut, es klingt fast wie ein Schrei. Aber es ist nur eine der Frauen, die den Kopf kokett in den Nacken wirft und anscheinend versucht, die Aufmerksamkeit des großen Dunkelhaarigen zu wecken, der ein paar Meter weiter in der Mitte des Raums steht.
Die Lippen des Obersten bewegen sich, aber Hjalmar hört nicht, was er sagt. Hoffentlich ist es nichts über einen gewissen französischen General.
Er hält ein neues Glas in der Hand. Bestimmt wird gleich getanzt. Die Musik ist laut und rhythmisch.
Jemand streicht ihm über den Rücken, er dreht sich zu einer rothaarigen Frau um, die er zunächst nicht erkennt. Stampfende Tanzschritte erklingen, und sie beugt sich zu ihm, damit er sie verstehen kann.
»Du bist doch einer der Kjerulf-Brüder, nicht wahr? Hjalmar?«
Jetzt weiß er, wo er sie einordnen soll. Die tiefe Stimme kommt ihm bekannt vor. Sie war eine der Sängerinnen in dem Singspiel, das die Mutter im Sommer arrangiert hatte. Doch ja, es war im Sommer, gleich nachdem Halfdan nach Paris abgereist war. Er war ihr begegnet, als sie ihre Gesangsproben in Bakkehus abgehalten hatten. Ja, es stimmt, eine rothaarige Altistin, das muss sie sein.
»Du erinnerst dich doch an mich, oder?«, sagt sie lächelnd.
»Selbstverständlich.«
Er lacht. Wie gut sich das anfühlt. Während ihm der Wein langsam zu Kopf steigt, rasen die Gedanken durch sein Hirn, war sie nicht eine junge Witwe, Henrikke, Frederikke? Aber das ist wohl nicht so wichtig. Sein Glas ist leer, aber sie beugt sich zu ihm und reicht ihm ihres. Sie flüstert etwas, das er nicht ganz versteht, immerhin bekommt er die Gelegenheit, eine Sekunde lang ihre winterblassen, mit Sommersprossen übersäten Brüste zu betrachten.
Plötzlich werden sie von den Tanzenden mitgerissen, voller Schwung hinein in den Wirbel aus Gelächter, Schweiß und langen Blicken. Ihm wird schwindelig, doch er hält sich auf den Beinen und lässt sich einfach treiben.
Ihre Taille wirkt schmal unter dem grünen Stoff. Weshalb sieht sie ihn so an? Die Herren auf die eine, die Damen auf die andere Seite, in der Mitte trifft man sich wieder, schelmisch kneift sie ihn, bevor sie von ihm wegtanzt. Was will sie bloß?
Er fängt sie wieder ein, umfasst sie, vielleicht ein wenig zu roh, und dreht sie herum und herum. Ihm wird heiß, sie glüht geradezu.
Die Musik hört auf, sie lachen und ringen nach Atem. Sie entschuldigt sich für einen Moment, »aber geh nicht weg, Hjalmar«.
Warum sieht sie ihn auf diese Weise an? Mit zur Brust geneigtem Kopf blickt sie zu ihm auf, blinzelt und lächelt, versucht gar nicht erst zu verstecken, dass das hier eine Aufforderung ist. Soviel Erfahrung hat er seit dem letzten Jahr dazugewonnen. Er ist kein kleiner Junge mehr. Auf dem Weg hinaus dreht sie sich an der Tür noch einmal zu ihm um. Henrikke, oder war es Frederikke?
Er könnte ihr hinaus in die Vorhalle folgen, in einen der kalten Korridore, sich jäh auf sie stürzen und sie gegen eine Wand drücken, dunkle Ecken gibt es zur Genüge. Denn das wollte sie doch wohl? Ihre Schenkel würden sich unter seinen Händen ganz heiß anfühlen, und wenn sie protestierte, würde er es ignorieren, denn ein Nein könnte ebenso gut Zustimmung signalisieren, Frauen sagen oft das genaue Gegenteil von dem, was sie meinen.
Aber er hat Durst, und der Fußboden scheint zu schwanken. Er wischt sich mit dem Taschentuch über die Stirn und blickt ihr nach, während sie im Gang nach draußen verschwindet. Plötzlich wird alles so unscharf.
Im Festsaal herrscht wieder dichtes Gedränge. Warum öffnet denn niemand ein Fenster? Er streckt sich, um einen besseren Überblick zu bekommen.
In