Betsys Brief. Marianne Storberg
erkennt er es.
Er versucht zu rufen, natürlich hört sie ihn nicht. Auch kein anderer. Er kämpft sich vorwärts, hinein in das groteske Inferno aus dampfenden Körpern und gellendem Lachen, er ruft abermals, verliert sie nicht aus den Augen, hält sie mit dem Blick gefangen, so lange es nur geht, tritt jemandem auf den Fuß. Stößt an einen Ellbogen, sodass der Wein aus dem Glas schwappt. Aber darauf kann er keine Rücksicht nehmen.
»Entschuldigung, tut mir leid, ich muss vorbei. Ich bitte um Verzeihung.«
Und dann fasst er ihren Arm und brüllt ihren Namen, während er sie gleichzeitig mit aller Macht zu sich herumreißt, ja, da erregt er einige Aufmerksamkeit, jedenfalls bei denen, die in unmittelbarer Nähe stehen.
Die Musik hört abrupt auf, aber das ist vielleicht nur ein Zufall. Es wird gemurmelt und geflüstert. Was hat er da gesagt? Ida? Wer ist er überhaupt? Er registriert das alles, ist aber völlig verwirrt. Natürlich ist das nicht Ida. Sie kann es ja nicht sein.
Ida ist tot.
Ein Skandal wird wohl nicht daraus werden. Dazu ist der Abend zu weit fortgeschritten. Viele Anwesende kennen ihn und wissen, was die Familie in letzter Zeit durchgemacht hat.
Er ist nüchtern genug, um die Blicke zu bemerken, während er eilig hinauszukommen versucht. Nachdem der Portier seinen Mantel herausgesucht hat, stolpert er nach draußen. Fast rutscht er auf der obersten Stufe aus, kann sich jedoch am schmiedeeisernen Geländer festhalten, während er die glatten, unpraktischen Ledersohlen verflucht.
Als er an der nächsten Ecke abbiegt, verflüchtigt sich der Lärm aus dem Hause Richards, er hört nur noch seine eiligen Schritte und die keuchenden Atemzüge.
Die Nacht ist sternenklar. Noch immer ist er durcheinander, ihm ist heiß, er eilt die Straße hinunter, läuft schneller, gerät ins Rutschen, kann das Gleichgewicht aber halten.
Auf dem Stortorg sind die Laternen angezündet, die übrige Stadt ist dunkel, alle Fenster sind schwarze leere Flächen. Er begegnet keinem Menschen, nicht einmal einem Nachtwächter. In Christiania sind alle Kerzen ausgeblasen, alle Petroleumlampen gelöscht, und in den Öfen ist das Feuer schon längst ausgegangen. Wie sollte es auch anders sein, wer wäre jetzt gern unterwegs, so spät, in dieser Kälte? Jeder Mensch mit ein wenig Verstand, ob groß oder klein, liegt jetzt schon längst unter Decken und Pelzen, die Nachtmützen über die Ohren gezogen und, wenn möglich, dicht aneinander geschmiegt.
Er läuft auf die Kirche zu. Die Kälte beißt in seine Wangen, seine Augen tränen. Warum hat er auch keine Mütze mitgenommen?
Die kleine Mauer um den Kirchhof liegt unter Schnee begraben, niemand hat ihn weggefegt. Weder der Weg noch das Tor sind zu sehen. Soll er einfach über die Mauer springen? Die hohen Schneewälle dahinter sehen nicht eben einladend aus. Doch dann erhellt der Mond den ganzen Friedhof, und dort, ein Stückchen weiter, ist das Eingangstor. Er stapft die letzten Meter durch den Schnee.
Das Tor ist mit einer Kette verschlossen, die um einen der Pfosten gelegt ist, und als er sie anfasst, merkt er, wie kalt seine Hände sind. Er muss heftig an der Kette rütteln, sie ist beinahe festgefroren.
Die Gräber liegen teilweise unter dem Schnee verborgen. Bis zu den Waden versinkt er und kämpft sich an den Grabreihen vorbei. Er muss hinüber auf die andere Friedhofsseite, und der schnellste Weg dorthin führt an dem kleinen Hain entlang. Er kommt vom Weg ab, stolpert beinahe, als er den Fuß auf etwas Hartes setzt, Teufel, was war das, es muss ein kleiner, unauffälliger Grabstein gewesen sein, der anscheinend gänzlich vom Schnee verdeckt wurde. Man stelle sich vor, hier zu liegen, tot und begraben, dann verschwindet sogar der Stein, und als ob das nicht genug wäre, kommt auch noch so ein gefühlloser Idiot angelaufen und stolpert darüber.
Als er an dem kleinen Hain vorbeikommt, verschwindet der Mond hinter einer Wolke, mit einem Mal ist alles dunkler.
Er zuckt zusammen. Hat er etwas gehört? Eine plötzliche Bewegung am Rande des Sichtfelds lässt ihn erschrocken zur Seite springen.
Erleichtert atmet er auf und schämt sich für seine Dummheit. Es war doch nur Schnee, der von einem Ast herabfiel.
Schließlich steht er vor Idas Grab.
Da bemerkt er die Fußspuren im Schnee. Von jemandem mit größeren Füßen als seinen. Von jemandem, der auch der Kälte getrotzt hat. Von jemandem, der heute Abend ebenfalls hier herkommen musste, so wie er selbst. Und Hjalmar weiß, wer das ist. Welhaven muss hier gewesen sein.
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