Schlüssel der Zeit - Band 5: Antoniusfeuer. Tanja Bruske
vielleicht, stimmt …“, stotterte Keyra.
Hinter Bens Rücken verdrehte Lou die Augen. Wie immer hatte Keyra in Bens Gegenwart Mühe, einen halbwegs vernünftigen Satz zu formulieren. Während sie zusammen an der Mensa vorbei über den Schulhof gingen, überlegte Keyra, ob sie das Training bei Leopold vielleicht schwänzen könnte, um doch mit an die Steinheimer Seen zu fahren. Eine Abkühlung täte ihr bestimmt gut. Schwimmen war in dem Naherholungsgebiet natürlich streng untersagt, aber man konnte auch lässig die Füße ins Wasser baumeln lassen.
„Was ist denn da los?“ Lou deutete auf eine kleine Menschenmenge, die sich vor dem Schulgelände gebildet hatte. Vor den Toren standen direkt neben der Fußgängerampel häufig nach der sechsten Stunde „Mama-Taxis“, die auf die jüngeren Schüler warteten – was im Übrigen genauso verboten war wie Schwimmen in den Steinheimer Seen. Aber jetzt war die achte Stunde herum und normalerweise weniger los. Außerdem ballte sich die Gruppe, die aus Schülern ihres Jahrganges bestand, an einer Stelle, sodass es höchstens um ein einziges Auto gehen konnte.
Neugierig gingen Keyra, Ben und Lou näher heran. Es war tatsächlich ein Auto, das die Aufmerksamkeit auf sich zog – aber was für eines. Ein knallrotes Cabrio, noch dazu ein Oldtimer.
„Wow, ein Alfa Romeo Giulietta Spider!“, sagte Ben bewundernd. „Was für ein Schmuckstück!“
„Du kennst dich mit Autos aus?“, fragte Keyra.
„Nur ein bisschen. Mein Vater hatte früher so ein Teil, aber er hat ihn gegen einen Tesla getauscht. Ist ja umweltfreundlicher.“
An den Umweltschutz dachte wahrscheinlich keiner der Schüler, die mit glänzenden Augen das Cabrio bewunderten.
Wem mag der wohl gehören?, dachte Keyra, während sie näher herangingen. Dann fiel ihr Blick auf den Fahrer und ihr Mund klappte auf.
„Leo!“, entfuhr es ihr überrascht. Ihr Mentor Leopold von Wachtberg, wie immer korrekt mit schwarzer Hose und weißem Hemd gekleidet, stieg aus und umrundete das Fahrzeug. Keyra konnte nicht ignorieren, dass die anderen Mädchen aus ihrem Jahrgang Leo bewundernde Blicke zuwarfen. Besonders Greta klimperte mit den Wimpern und warf auffordernd ihre Haare zurück.
„DAS ist Leo?“, fragte Lou neben ihr flüsternd. „Der sieht wirklich gut aus.“ Keyra musste ihr zustimmen: Wenn sie übersah, dass Leo sich kleidete, als sei er 65, war er durchaus attraktiv mit seinen schwarzen Locken und hellblauen Augen.
„Da bist du ja endlich, Keyra“, sagte er, was ein verwundertes Raunen rundum auslöste. Keyra war in ihrem Jahrgang nicht gerade als Vamp verschrien. Das Schönste in diesem Moment war Greta Strobl, die aussah, als hätte sie eine Kröte verschluckt. „Ich war mir nicht ganz sicher, wann dein Unterricht heute endet und ob der Geschichtskurs wegen der Hitze nicht vielleicht ausfällt. Deswegen warte ich hier bereits eine Weile.“
„Ach ja?“ Keyra war völlig perplex. Eigentlich hätte sie nicht überrascht sein sollen – der geheimnisvolle Orden war sehr gut über sie und ihre Familie informiert, sodass es wahrscheinlich ein Leichtes war, sich ihren Stundenplan zu beschaffen. Aber irgendwie gruselig war es trotzdem. „Ähm, warum?“
„Weil ich dich abholen will.“ Leo zog die Augenbrauen hoch. „Ich hab dir etwas versprochen, weißt du noch?“
Antworten! Er hat mir Antworten versprochen – wir fahren zu jemandem, der sie mir geben kann. Keyra nickte erfreut. „Ach so! Ja, dann lass uns gleich losfahren.“ Sie zögerte und wandte sich zu Lou und Ben um. „Sorry, das wird heute leider nichts …“
„Alles klar!“ Lou grinste vergnügt und schob Keyra zum Wagen, dessen Tür Leo galant aufhielt. „Viel Spaß, ihr zwei!“
Ben machte große Augen. Es kam wohl nicht oft vor, dass ihm ein Mädchen einen Korb gab. „Okay. Dann sehen wir uns wohl morgen auf Gretas Party?“, rief er. Leo warf ihm einen kritischen Seitenblick zu, den Ben offenbar nicht bemerkte.
Ach ja richtig, die Party von der Schnobl … Der ganze Jahrgang war eingeladen, da hatte Greta Keyra wohl oder übel auch auf die Gästeliste setzen müssen, vor allem weil Ben sich eingemischt hatte. Große Lust hatte Keyra nicht, zumal am Sonntag auch noch ein Schulfest war. Aber Ben würde auf der Party sein. Sie lächelte ihm zu und winkte. „Klar, bis dann!“
Als Leo sich ans Steuer setzte und den Motor aufheulen ließ – ein bisschen provokant, wie Keyra meinte – wichen die Schüler zurück.
„So ein Auto hätte ich dir gar nicht zugetraut“, sagte Keyra, während Leo den Wagen auf der Kastanienallee wendete und zurück Richtung Autobahn fuhr.
„Ein Erbstück meines Vaters. Manchmal denke ich, dass ich mir einen praktischeren Wagen zulegen sollte.“
„Mann, Leo – jetzt dachte ich, ich hätte deine geheime, wilde Seite entdeckt, und dann war es doch wieder nix.“ Keyra lachte. „Wo fahren wir denn hin?“
„Nach Frankfurt, in die Innenstadt.“
„Oh, puh. Das dauert eine Weile.“ Keyra machte es sich bequem. „Dann können wir uns ja schon ein bisschen unterhalten.“
Leo seufzte. „Wenn es sein muss. Aber eigentlich solltest du deine Antworten erst an unserem Ziel bekommen.“
„Komm, ein paar Sachen kannst du mir doch schon mal sagen. Zum Beispiel mein Wächterbuch.“ Keyra holte das ledergebundene Tagebuch hervor, das sie seit Wochen immer bei sich trug. Wenn ihre geheimnisvolle Aufgabe sie in die Vergangenheit verschlug, konnte es eine wertvolle Hilfe sein.
„Was weißt du bis jetzt darüber?“
Keyra verdrehte die Augen. „Also echt, ich habe bei dir immer das Gefühl, in einer Schulstunde zu sitzen. Na schön: Ich habe das Tagebuch von meiner Großmutter bekommen und ich vermute, dass es vorher meiner Mutter gehört hat.“
„Falsch.“ Leo schüttelte den Kopf. „Es gehörte deiner Großmutter. Das Wächterbuch deiner Mutter …“ Er zögerte ein paar Sekunden. „Ist nicht mehr da.“
Keyras Herz wurde schwer. „Ist es mit ihr verschwunden?“
„Ja, ich fürchte, so ist es.“
„Warum war es leer? Hat meine Großmutter es nie benutzt?“
„Doch, sogar sehr häufig, Aber die Seiten können gelöscht werden und sind dann wieder blank. Was weißt du außerdem?“
„Ich kann das Schloss daran mit meinem Schlüssel öffnen. Die Seiten leuchten wie ein E-Book-Reader, was in der Vergangenheit einerseits praktisch ist, wenn man keine Kerze zur Hand hat; andererseits, habe ich mir überlegt, könnte es mich auch ziemlich in die Bredouille bringen, wenn mich jemand dabei erwischt“, zählte Keyra auf. „Wenn ich ein rufendes Schloss ignoriere, das mich in die Vergangenheit bringen will, dann zieht mich das Wächterbuch durch die Zeit – ziemlich fies, finde ich übrigens.“
„Dieser Effekt war uns ebenfalls neu. Bislang hat aber kein Wächter einen Ruf ignoriert – du warst die Erste.“ Der Tadel in Leos Stimme war nicht zu überhören.
Keyra zog ungläubig die Augenbrauen nach oben. „Ist nicht wahr – das hat echt noch keiner gemacht? Alle springen brav los, sobald ein Schloss sie ruft?“
„Das ist nun mal die Bestimmung eines Zeitwächters.“
Das Cabrio bog auf die Autobahnauffahrt Richtung Frankfurt ein, und eine Weile wurde eine Unterhaltung ziemlich anstrengend, denn Keyra hätte gegen den Fahrtwind anschreien müssen. Also versuchte sie es gar nicht erst, sondern lehnte sich zurück und genoss die Fahrt. Erst als sie in Bergen-Enkheim wieder in den Stadtverkehr eintauchten, ergriff Leo wieder das Wort. „Also, was weißt du noch?“
„Sonst nicht mehr viel. Im Buch tauchen immer zwei Schriften auf, wenn ich etwas eintrage: meine eigene und eine andere, die, wie ich jetzt weiß, von dir stammt. Deine Einträge sind meistens Infos, die nach einer Weile wieder verschwinden. Warum ist das so?“
„Nun, ich schreibe nicht