Thomas Mann. Die frühen Jahre. Herbert Lehnert

Thomas Mann. Die frühen Jahre - Herbert Lehnert


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versteht Haushofer als staatliches Eingreifen.[160] Er beklagt die Wirkung von Maschinen in der modernen Produktion. Neben der Gefährdung von Leben und Gesundheit bewirkten sie die »Herabwürdigung des Menschen zum Sklaven der Maschine«, der Mensch werde »abgestumpft«. Das kommentiert Thomas Mann mit: »Sehr gut!«[161]

      Haushofer hatte eine liberale Partei im Bayerischen Abgeordnetenhaus vertreten, war aber kein Verteidiger des Kapitalismus. Er wird 1896 ein Buch veröffentlichen, Der moderne Sozialismus,[162] mit dem Ziel, sachlich über den Sozialismus und die damals streng marxistische Sozialdemokratie aufzuklären. Er kritisiert die utopischen Ziele der damaligen Sozialdemokratischen Partei und beklagt deren Agitation gegen das Bürgertum. Haushofer opponiert gegen das damalige Hauptziel der Sozialdemokratie, der Vergesellschaftung der Produktionsmittel, aber er lobt, dass die Partei die Arbeiter-Bildung fördere. Er hält es für richtig, dass die Sozialdemokratie die anderen Parteien, Staat und Gesellschaft zwinge, dem sozialen Fortschritt, der Sozialversicherung und dem Arbeiterschutz zuzustimmen.[163] Das Buch enthält erstaunlich richtige Voraussagen über praktische Konsequenzen sozialistischer Herrschaft. Sie werde ein kolossales Zuchthaus schaffen.[164] Die Gesellschaft werde verarmen, während des langwierigen Übergangs des Privatkapitals in Gemeinbesitz.[165]

      Sieht man davon ab, dass Haushofer sich Währung nur an Gold oder Silber gebunden vorstellen kann, weist manches, was er vorträgt, auf die tatsächliche Entwicklung der Wirtschaft voraus, entspricht nicht dem Bild, das wir uns von dem bürgerlichen Bewusstsein in der wilhelminischen Gesellschaft und Politik machen. Haushofer und die damals so genannten »Kathedersozialisten« verstanden sich politisch als rechts stehend, weil sie gegen die Geld-Interessen der Liberalen opponierten. Ihre Sympathien für soziale Entwicklungen sind im Sinne eines wohlwollend-autoritären Staates zu verstehen, den Beamten-Bildungsbürger lenken, wie Max Haushofer selbst einer war. Er sah den Verwaltungsstaat Deutschland als entwicklungsfähiges modernes Gemeinwesen. Wie Haushofer trat zur gleichen Zeit Maximilian Harden in der Zeitschrift Die Zukunft für gemäßigte soziale Reformen und gegen Gesetz-Entwürfe zur Unterdrückung der Sozialdemokratie auf. Der sozialbewusste Konservativismus hat in Thomas Mann lebenslang nachgewirkt, ohne seinen Modernismus zu verdrängen. Der Konservativismus der Katheder-Sozialisten darf nicht mit der konservativen Ideologie verwechselt werden, wie sie sich nach dem Weltkrieg entwickelte.

      Professor Wilhelm Hertz las über deutsche mittelalterliche Epik. Thomas Mann notierte sich, was Hertz über soziale Konventionen im Mittelalter, über die Stellung der Frau, über Liebe und Ehe lehrte. In seinen Vorlesungen erzählte Hertz den Inhalt der Dichtungen und muss auf den Zuhörer lebendiger gewirkt haben als die trockene Wissenschaft von Franz Muncker, dem Germanisten der Münchener Universität, von dem Thomas Mann nur eine Vorlesung hörte. Der Gasthörer notierte Hertz’ ausführliche Nacherzählungen von Hartmann von Aues Gregorius, einem Text, den Thomas Mann viel später als Der Erwählte neu gestalten wird, ohne die Hilfe der Vorlesungs-Nachschriften, weil diese lange Zeit im Hause Mann verloren waren. Eine »aristokratische Anschauung im Mittelalter« vermerkt Thomas Mann, als er aus Hertz’ Nacherzählung erfährt, dass gewöhnliche Leute in einem Fischerdorf in einem Findling den Fürstensohn erkennen, denn: »nie sei eines Fischers Sohn so begabt gewesen«.[166] Als es in der Vorlesung zur Sünde des Inzests kommt, denkt der Zuhörer an Wagners Die Walküre: »Gegensatz zum Zeitgeist –: Siegmund und Sieglinde« notiert er.[167] Die vielen märchenhaften Züge in Hertz’ Nacherzählungen von Hartmanns Der arme Heinrich und Iwein gewinnen Thomas Manns Interesse.[168] Wenn Hertz berichtet, Goethe habe sich angesteckt gefühlt, als er Hartmanns Geschichte des Aussätzigen, Der arme Heinrich, in die Hand nahm, und das für übertriebene Sensibilität erklärte, verteidigte der Zuhörer den Dichter.[169] Thomas Manns Erzählen strebt oft nach Vergegenwärtigung.

      Vorlesungen über antike Kunstgeschichte von Franz von Reber, der auch Direktor der Bayerischen Gemäldegalerien war, hörte Thomas Mann unregelmäßig. Die Ästhetik, über die von Reber auch las, traf auf seinen Widerstand. Der »Wissenschaft« vom Schönen setzt der Zuhörer Stendhals Definition entgegen: »Le Beau c’est une promesse de bonheur«.[170] Thomas Mann übernahm das Wort von Nietzsche, der es in Zur Genealogie der Moral gegen Kant und Schopenhauer anführt (KSA 5, 347). In die Nachschriften fügt der Gasthörer eigene protestierende Bemerkungen ein: Die Ästhetik sei unabhängig von der Ethik, »denn das Erhabene darf böse sein, ohne seine ästhetische Erhabenheit einzubüßen«. Die Ästhetik sei »Gefühlssache«, die sich in der »Psyche des Einzelnen abspiele« und die man nicht »in Dogmen und Regeln verknöchern« dürfe.[171] Die Lehre der Ästhetik sei »das Banale ins System gebracht«. Mit »T. M.« bekräftigt der Student seine Weisheit: »Die Professoren beachten vor allem niemals den Unterschied zwischen klassischer Ästhetik und Décadence-Ästhetik und sie bedenken nicht, dass unserer Zeit die klassische Ästhetik, die sie lehren, völlig fremd sein muss.«[172] Den Begriff Dekadenz-Ästhetik versteht Thomas Mann hier im Sinn von Modernismus, da Nietzsche seine Gegenwart nach der Renaissance für dekadent erklärte. Nach der letzten Ästhetik-Vorlesung fällt der Zuhörer ein vernichtendes Urteil: Mehrere »faux pas« des Professors seien ihm entfallen, schreibt er, »daran ist wohl in der Hauptsache meine lächelnde Souveränität als Künstler Schuld, die mit freundlicher Herablassung aber dennoch achselzuckend zuhört, wenn ein alter Herr unter fortwährenden Blamagen sich müht, die Kunst in das hässliche Foltersystem einer Eisernen Jungfrau zu zwängen.«[173]

      Ausführlicher sind Thomas Manns Mitschriften der Vorlesung über deutsche Geschichte seit 1813 von Felix Stieve, die ihm Denkanstöße für die widersprüchliche Problematik des deutschen Nationalgefühls lieferte. Als Einleitung zu der eigentlichen Vorlesung, die mit Napoleons Russlandfeldzug 1812 beginnen sollte, präsentierte Stieve einen Überblick über die deutsche Geschichte seit Karl dem Großen. Durch die römische Kirche sei die »Krankheit der Weltflucht« entstanden, die für die idealistischen Deutschen großen Reiz gehabt habe. Diese übernationalen Tendenzen seien schuld daran gewesen, dass Deutschland die Bildung einer Nation so lange versäumte. Der Dreißigjährige Krieg habe Deutschland als politisch tot hinterlassen. Wenn Stieve die »Weltflucht« zur deutschen »Krankheit« erklärte, lehrte er die verengende Sichtweise des deutschen Nationalismus.

      Stieve las über die »Befreiungskriege« 1813 /14, im nationalistischen Sinn. Napoleons Sturz interessierte Thomas Mann ebenso wie die Siege, die Napoleon auch 1813 /14 noch gelangen. Der Nietzsche-Leser Thomas Mann verstand Napoleon als Symbol für Größe und Erfolg. An Grautoff schrieb er einmal, er habe »den Sieger Napoléon« schon seit seinen Schülertagen auf seinem Schreibtisch stehen als Symbol für »Hoffnung und Stolz und Ehrgeiz« (21, 106). Er wird Stieve mit kritischem Widerstand zugehört haben. Wenn Stieve zum Wiener Kongress gelangt, werden die Nachschriften spärlicher. Die literaturgeschichtliche Vorlesungen von Wilhelm Hertz befassten sich mit nordischen Sagen. In einer wird ein Wälsung im Inzest gezeugt,[174] und das erregte schon damals Thomas Manns Interesse.

      Das Semester dauerte bis August 1895; Thomas Mann brach die Vorlesungen wohl schon im Juni ab. Am 12. Juli 1895 reiste er zu Heinrich nach Rom, wo dieser als Herausgeber einer Zeitschrift arbeitete.

      Maximilian Hardens Zeitschrift Die Zukunft

      Die Wochenzeitschrift Die Zukunft spiegelte die Interessen des deutschen Bildungsbürgertums seit den 90er-Jahren bis zum Ausbruch des Weltkrieges 1914 und noch einige Zeit danach. Das war auch die Zeit der Regierung Kaiser Wilhelms II., nach der Entlassung Bismarcks 1890, für die sich die Bezeichnung »wilhelminische Zeit« eingebürgert hat. Maximilian Harden gründete seine Zeitschrift 1892 als Gegenstimme zu den liberalen deutschen Zeitungen. Harden wollte eine von den liberalen Geldinteressen freie Presse in der konstitutionellen Monarchie des deutschen Reiches. Nach der Bismarck-Verfassung berief der Monarch den Reichskanzler und die Minister als Staatsbeamte. Der Regierungschef war nicht von einer Mehrheit von parteiischen Stimmen abhängig, wie in einer Demokratie. Harden hielt die Aussichten, dass ein bedeutender Mann an die Regierung kam, in der konstitutionellen Monarchie für größer als in der parlamentarischen Demokratie. Nur hätte der Monarch, Wilhelm II., seine Aufgabe darin sehen müssen, der Politik eines starken und klugen Staatsmanns Hoheit und Würde zu verleihen. Da Wilhelm II. jedoch immer wieder versuchte,


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