Thomas Mann. Die frühen Jahre. Herbert Lehnert
geworden, denn er hatte sich in Paris der Anti-Dreyfus-Partei angeschlossen. 1901 wird Bourget zu seiner Kirche zurückkehren.
In einem Brief an Grautoff erwähnt Thomas Mann 1896 die Lektüre von Novellen von Maupassant im französischen Original (21, 66). Einige von diesen vermittelten dem jungen Thomas Mann die französische Perspektive des deutsch-französischen Krieges von 1870 /71. Maupassant stellt die Gefühle der Besiegten dar, zeigt die rücksichtslose Arroganz der Offiziere der Besatzungsarmee, erwähnt jedoch Grausamkeiten sachlich auch auf beiden Seiten. Der Krieg, von Maupassant dargestellt, erscheint als destruktiv und sinnlos. Diese Lektüre weckte Widerstand gegen den deutschen kriegerischen Nationalismus, wie er in Thomas Manns Schule gepflegt wurde. Maupassant lässt seine eignenen Meinungen aus der Beschreibung der Umstände hervortreten, worin Thomas Mann ihm oft folgte.[97] Zu Kirche und Religion wahrt Maupassant ironische Distanz. Seine Weltanschauung und sein Gesellschaftsbild sind ebenso pessimistisch wie die des jungen Thomas Mann.
Thomas Mann las viel, statt sich seinen Schulaufgaben zu widmen. Wenn er in seinem Aufsatz Heinrich Heine, der »Gute« in Der Frühlingssturm! Heines Bibel-Lektüre auf Helgoland erwähnt (14.I, 22), dann beweist das, dass er Heines Ludwig Börne / Eine Denkschrift (1840) kannte. Das zweite Buch der Börne-Denkschrift besteht aus Briefen, die Heine auf Helgoland schrieb. In diesem Buch spricht Heine als freigeistiger »Hellene« gegen Börnes engere Weltanschauung, die Heine dem Typus des »Nazareners« zuordnet.
Heines Die romantische Schule sei ein Buch gewesen, das er »von jeher besonders geliebt« habe, bekennt Thomas Mann viel später im amerikanischen Exil (Briefe II, 97). Heine kritisiert die quietistische Seite der deutschen Romantik: Deren Neigung zu Witz und Ironie sei »ein Zeichen unserer politischen Unfreiheit«, sie sei »der einzige Ausweg, welcher der Ehrlichkeit noch übrig geblieben« sei.[98] Heines politische Ansichten widersprachen denen, die Thomas Mann in der wilhelminischen Schule gelehrt wurden. Die Perspektive des Napoleon-Verehrers auf die »Befreiungskriege« von 1813 und 1814 muss den jungen Schüler amüsiert haben:
Als Gott, der Schnee und die Kosaken die besten Kräfte des Napoleon zerstört hatten, erhielten wir Deutsche den allerhöchsten Befehl, uns vom fremden Joche zu befreien und wir loderten auf in männlichem Zorn ob der allzulang ertragenen Knechtschaft und wir begeisterten uns durch die guten Melodien und schlechten Verse der Körnerschen Lieder und wir erkämpften die Freiheit; denn wir tun alles, was uns von unseren Fürsten befohlen wird.[99]
Im gleichen ironischen Sinn argumentiert Thomas Mann in einem Brief an Grautoff vom 27. Februar 1896, als dieser sich nationalistisch geäußert hatte:
Ich stehe den »Freiheitskriegen« [–] wie der »nationalen Bewegung« seit 1870 – nach wie vor wenig sympathisch gegenüber und schmeichle mir, darin viele nicht ganz unbeträchtliche Männer, wie Goethe, Hegel, Heine, Nietzsche etc. auf meiner Seite zu haben – auf ihrer Seite zu stehen vielmehr. Das waren eben alles gute Europäer und literarische Menschen, und: das literarische Empfinden – es ist nicht anders – war in Deutschland von jeher das Gegenteil vom nationalen Empfinden und wird es auch wohl immer bleiben. Wenn du dir jetzt das letztere angewöhnst, so tust du vielleicht sehr recht daran, denn es ist furchtbar modern. In dieser Beziehung bin ich leider noch etwas zurück.[100]
In Die Entstehung des Doktor Faustus heißt es: »Ich las viel Heine nach um diese Zeit, die Feuilletons über deutsche Philosophie und Literatur« (19.I, 489). »Diese Zeit« war das Frühjahr 1945, als das Ende des Nationalsozialismus nahte und Thomas Mann seine Rede Deutschland und die Deutschen zu schreiben begann, in der er die Romantik als Sünde des deutschen Bildungsbürgertums anklagt, seine eigene Neigung nicht ausschließend. Mit Heines »Feuilletons« meint Thomas Mann die Abhandlungen Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland und Die romantische Schule. Er las Heine »nach«, will sagen, er frischte seine Kenntnis auf, die er in seinem Selbststudium während der Schulzeit erworben hatte. Heines Freigeistigkeit, seine humorvolle oder ironische Weise, deutsche Religiosität, Philosophie und Literatur den Franzosen nahezubringen, nahm sein Schüler als eine sympathische Art von Bildung auf.
Wie Heine betrachtete Thomas Mann die deutsche literarische Landschaft als protestantisch geprägt. Heine pries Kant als den »große[n] Zerstörer im Reich des Gedankens«,[101] der aus Güte für seinen Diener Lampe die Existenz Gottes durch die praktische Vernunft verbürgen lässt.[102] Diese Ironie Heines führt Thomas Mann in den Betrachtungen eines Unpolitischen an (13.I, 632).[103] Obwohl Heine die romantische Lyrik schätzt – produzierte er doch selber Lyrik in romantischem Stil –, kritisiert er ihre reaktionären Tendenzen. Heine denkt in Widersprüchen – wie Thomas Mann.
Heinrichs Aneignung Goethes, Heines, Fontanes, Storms und Brandes’ ist in seinen Briefen an Ewers dokumentiert. Thomas orientierte sich lange an dem großen Bruder. Er war ebenso wie Heinrich von den Gedichten Heines und Storms angetan. Die Gedichte August von Platens liebte er »von jung auf« (GW X, 887; 1926) wohl mehr als Heinrich, der die Homoerotik verachtete. Er besaß eine zweibändige Ausgabe von Platens Werken von 1895 (Essays III, 446).
Schon in Thomas Manns erster überlieferter Erzählung Gefallen sind die Szenen der Gespräche des Ich-Erzählers mit seinem Kollegen Rölling in der Art von Fontanes leichtem Konversations-Stil geschrieben. Effi Briest hat Thomas Mann 1895 im Jahr des Erscheinens der Buchausgabe gelesen (21, 73).[104] Er blieb lebenslang ein Verehrer Fontanes, über den er einige Essays schrieb.[105]
Erst aus dem Vorwort zu Conrad Ferdinand Meyers Der Heilige von 1930 erfahren wir, dass Liebe und Bewunderung für den Schweizer Dichter in Thomas Manns früher Jugend (GW XIII, 425) begonnen hat. Meyers Prosa vereinigt greifbare Vergegenwärtigung mit Eindringen in die Psyche seiner Figuren, ein Schreibstil auch Thomas Manns. In Meyers Lyrik gibt es Stellen, von denen man vermuten kann, dass sie den jungen Thomas Mann angesprochen haben: die Michelangelo-Gedichte, darunter In der Sistina, oder die Todessymbolik in Im Spätboot. Auf Gottfried Keller wurde er erst später aufmerksam (21, 403).
Thomas Mann hat in der Jugend viel Lyrik gelesen. In der Zeit seines autodidaktischen Studiums in den 90er-Jahren wird er sich mit der deutschen Lyrik der Moderne bekannt gemacht haben. Stefan George erwähnt er in seinen Essays aus Distanz. Von Aufmerksamkeit schon für die frühe Dichtung Rilkes zeugt ein Brief vom 10. April 1905 an Richard Schaukal. Der Exil-Germanist Wolfgang Michael hat mir erzählt, dass Thomas Mann, als er ihn in Kalifornien besuchte, eine Reihe von Rilke-Gedichten auswendig rezitierte. Hugo von Hofmannsthal schickte Thomas Mann die Sammlung seiner Gedichte zu Weihnachten 1908, nachdem dieser Hofmannsthal in Rodaun besucht hatte (21, 401, 746).
Ibsen und Wagner nennt Thomas Mann 1928, in einem kleinen Aufsatz unter diesem Titel, »die beiden großen Kundgebungen, die der nordisch-germanische Kunstgeist« dem französischen, russischen und englischen Roman und der französischen impressionistischen Malerei als »ebenbürtige Schöpfungen« an die Seite gestellt habe, beide seien kennzeichnend für die Größe der Epoche des 19. Jahrhunderts, »ihrer titanischen Morbidität« (GW X, 227).
Das Lübecker Theater war dem Senatoren-Haus benachbart. Erinnerungen Thomas Manns aus dem Jahr 1930 sprechen davon, dass er häufig das Theater besuchte, »erlaubter- oder unerlaubterweise« (GW XI, 418). Ein Brief von 1917 erzählt von dem Eindruck, den Schillers Don Carlos sowie eine französische Ehebruchs-Komödie auf den Sechzehnjährigen machte.[106] Die Lübecker Aufführung von Ibsens Nora oder Ein Puppenheim durch eine Gastspiel-Truppe wird er besucht haben. Nora gehört zu einer Gruppe von gesellschaftskritischen naturalistischen Dramen von Ibsen, zusammen mit Stützen der Gesellschaft, Gespenster und Ein Volksfeind, die alle 1877–1881 entstanden, oft in deutscher Übersetzung aufgeführt wurden und einen großen Eindruck hinterließen. Thomas Mann spielte 1895 die Rolle des alten Werle in der deutschen Erstaufführung des Dramas Die Wildente mit dem »Akademisch Dramatischen Verein«, einer ehemaligen Studentenverbindung. Er hatte die Wahl des Dramas »warm befürwortet« (21. 43).
Jens Peter Jacobsens Roman Niels Lyhne (1880) wurde in den 90er-Jahren in Deutschland rezipiert. Eine Übersetzung erschien 1889 im Reclam Verlag. Thomas Mann hat Niels Lyhne sehr wahrscheinlich in den 90er-Jahren gelesen, vielleicht schon in Lübeck, vielleicht auf der Reise nach Dänemark.[107]