Thomas Mann. Die frühen Jahre. Herbert Lehnert
des Willens zum Leben über den eigenen Leib hinaus.[151] Belehrt von Heinrich wird Thomas Mann verstanden haben, dass Schopenhauers Weltwille mächtiger ist als sein eigener individueller Wille, wenn der sich dem Trieb moralisch entgegensetzt. Der junge Selten widersetzt sich der üblichen moralischen Konvention und sucht nach einer eigenen Moral. Einmal, nach der Vereinigung mit der Geliebten, hat er eine moralische Hemmung. In ihm kommt die Frage auf, »ob er nicht bei allem Glück ein Lump sei«, allerdings wehrt er sie sogleich ab: »Das hätte ihn sehr geschmerzt.« und: »Aber es war gut und schön.« (2.I, 36) Das Glück der freien Liebe begründet eine eigene Moral. Der studentische Liebhaber verklärt sein Glück mit religiösen Metaphern: Ihm ist »glockenfeierlich im Gemüt, wie etwa bei seiner Konfirmation«, und es war ihm »als sähe er dem lieben Gott mit ernster, schweigender Dankbarkeit ins Angesicht«. Bald danach flüstert er den Namen seiner Geliebten »als andächtiges Morgengebet« (2.I, 36). Ein Gott, der nicht die Geschicke lenkt, sondern das »Leben« ist, tritt in einem Gedicht des jungen Mannes auf und schaut »wehmutsvoll« auf das Glück des Sommers, wissend, dass es endet, wie die Jahreszeiten enden müssen. Die Notwendigkeit der Natur im Geschlechtstrieb setzt sich an die Stelle der alten religiösen Begriffe.
Die geliebte Partnerin nutzt das »gesellschaftliche Übergewicht der Frau von 20 Jahren über den Mann gleichen Alters« (2.I, 37), um sich ihren Freund zu unterwerfen. Sie nimmt ihr Leben in ihre Hand, erkennt, dass sie sich außerhalb der Konventionen des Bürgertums gestellt hat, dass sie nach deren Begriffen nicht mehr ›unschuldig‹ ist: »Es wussten ja doch alle, dass ich sowieso …!«, wird im Text ihr Verstoß gegen die guten Sitten beschrieben. Der Autor hebt das im Druck hervor (2.I, 46). Sie fällt in die traditionelle soziale Rolle der Schauspielerin zurück, für die die Sitten des Bürgertums nicht galten. Ihr sexuelles Glück hat sie von den beschränkenden bürgerlichen Konventionen ihrer Herkunft befreit, aber nicht von der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, in der das Geld herrscht. Auch der Student wird in die Welt geworfen, in der man nicht mehr Gott für sein Glück dankt, sondern in der das Geld regiert. Der Student hatte ein gestörtes Verhältnis zum Geld, er hatte es sich durch lügenhafte Briefe an seine Mutter verschafft (2.I, 18). Diese Briefe verweisen auf die Macht der bürgerlichen Ordnung, die Zahlungsfähigkeit von jedem Bürger verlangt. Dahin weist auch der moralische Schluss, den der ältere Selten aus seiner Geschichte zieht: »Wenn eine Frau heute aus Liebe fällt, so fällt sie morgen um Geld« (2.I, 49). Diese moderne Moral bleibt nicht allein stehen. Der Erzähler macht am Ende darauf aufmerksam, dass der Fliederduft von einem Strauß in einer Vase in Selten die Erinnerung geweckt hat, denn Flieder blühte auf dem Weg zur Geliebten. Es ist von Bedeutung, wenn Selten den Fliederduft tief und langsam einatmet, bevor er den Strauß zerstört (2.I, 49). Die Erinnerung an seine Liebe behauptet sich in ihm für einen emotionalen Moment gegen seine neue zynische Moral.
Der Student Laube fühlt sich nicht widerlegt durch Seltens Geschichte. Sein blondes Haar (2.I, 14) macht ihn anziehend, wie Hans Hansen und Ingeborg Holm in Tonio Kröger. Doktor Seltens schwarzes Haar (2.I, 15) stellt ihn zu anderen problematischen Figuren in Thomas Manns frühem Werk, wie Tonio Kröger, dem er dunkles Haar (2.I, 268) und zart umschattete Augen zuteilt (2.I, 244). Selten hat schwarze Locken (2.I, 18). Seine Geschichte sagt, dass freie Liebe nicht in eine Gesellschaftsordnung passt, die von Geldmitteln bestimmt ist, will diese nicht als vorbildlich-verbindlich-moralisch anerkennen.
Die Liebesgeschichte zwischen dem jungen Selten und einer jungen Schauspielerin ist ein imaginierter Wunsch ihres Autors. Kaum 1894 in München angekommen, entwickelte Thomas Mann eine Schwärmerei für eine junge Schauspielerin des Münchener Hoftheaters. 1952 erinnerte er sich, er habe sie damals hundertmal gesehen in allen ihren Rollen (21, 545). Thomas Manns Brief an Ida Hofmann vom 2. Mai 1894 ist erhalten. Der noch 18-jährige Briefschreiber bittet die zwei Jahre ältere Frau um die Erlaubnis, sie besuchen und ihre Hand küssen zu dürfen, da seine Bewunderung ihres Spiels »nach einem mündlichen Ausdruck« verlange (21, 24). Die Erlaubnis bekam er nicht; Thomas Mann erinnert sich: »sie hat mich nie gesehen«.[152] Im Text von Gefallen erscheinen Worte des Briefes kaum verändert als Aufforderungen Röllings, des älteren Freundes des Studenten (2.I, 20; 21, 24).
Ein Vorbild der Figur Rölling ist Bruder Heinrich. In der Fiktion ist Rölling der ältere Freund des Erzählers aus dessen Heimat, der jetzt für den gleichen Beruf studiert (2.I, 19 f.); er hat früher Novellen verfasst (2.I, 17). Er kann sich eine »sentimentalisch[e]« Liebe gar nicht vorstellen, (2.I, 20). Heinrich wird 1894 nicht aufgehört haben, sich Sorgen um homosexuelle Neigungen des Bruders zu machen. Vermutlich hat er die Neigung seines Bruders für Ida Hofmann ermutigt, und diese Ermutigung bildet sich ab in Röllings Reden.
Das französische Original des Begriffes »Seelenstände«, das in literarischen Gesprächen mit Heinrich vorgekommen sein muss, bringt Thomas Mann in seinem Text zum Spaß unter: Als der Student seine Geliebte das zweite Mal besucht, hat er seine Schüchternheit verloren. Der Erzähler kommentiert das so: »All die exaltierten états d’âme, die das erste Mal die Liebesscheu in ihm wachgerufen, kamen da schon in Wegfall.« (2.I, 29). Das französische Zitat sagt dem Lehrmeister Heinrich: Ich weiß, was als modisch gilt, aber ich spiele nur damit.
Gefallen erschien im November 1894 in Die Gesellschaft, geleitet von Michael Georg Conrad, der eine heimliche Liebesaffäre mit der Lübecker Schriftstellerin Ida Boy-Ed hatte, die mit der Mann-Familie bekannt war.[153] Wahrscheinlich hatte Ida Boy-Ed Thomas Manns Novelle empfohlen.
Der Druck von Gefallen und die freundliche Teilnahme des damals berühmten Schriftstellers Richard Dehmel ermutigten Thomas Mann 1894 und 1895 eine Anzahl neuer Texte zu schreiben. Von der verlorenen Erzählung Der kleine Herr Professor ist in Briefen die Rede. Vermutlich ist sie die Vorstufe von Der kleine Herr Friedemann. Aus Walter Weiler wurde Der Bajazzo. Aus Mitleid entstand ebenfalls schon 1894 (21, 30); vielleicht wurde Tobias Mindernickel daraus. Ein Märchenspiel in Versen Der alte König, entstand 1894–1895 (21, 30; 21,45; TM / OG, 27). Vielleicht war es eine politische Satire. Denn Thomas Mann schrieb scherzhaft an seinen Freund Otto Grautoff, die Autoren Ludwig Fulda und Leo Melitz, letzterer ein Verfasser von Schauspiel- und Opernführern, sollten vor seinem Stück »erbleichen« (21,30). Offenbar war Der alte König mit Fuldas Märchenspiel in Versen Der Talisman (1892) vergleichbar. Fulda benutzte die Handlung des Märchens von Hans Christian Andersen, Des Kaisers neue Kleider, um das absolute Königtum zu verspotten, dem Kaiser Wilhelm II. im modernen Deutschland nacheiferte. Thomas Manns Text ist verloren. Am 17. Januar 1896 gibt er in einem Brief an Grautoff die Entstehungsdaten und die Entstehungsorte von 1895 geschriebenen, ungedruckten Texten an: Im Mondlicht, Begegnung (vermutlich Vorstufe von Enttäuschung) und den verlorenen Essay Zur Psychologie des Leidenden (21, 64). Der einzige 1895 entstandene Text, der veröffentlicht wurde, ist Der Wille zum Glück (21, 64). Am 27. Februar 1896 schreibt Thomas Mann wieder von einer Novelle mit dem merkwürdigen Titel ›Im Frühling aufzuhören‹, die nicht erhalten ist.[154] Vielleicht war das eine Vorstufe der Tagebuch-Erzählung Der Tod.
Studien
Thomas Manns Gasthörer-Studium am Münchener Polytechnikum begann im November 1894.[155] Von allem, was er am Polytechnikum höre, schreibt Thomas Mann an Freund Grautoff, sei die Nationalökonomie am interessantesten (21, 38 f.). Sie wurde von Professor Max Haushofer gelesen.[156] Sache der Nationalökonomie sei es, lehrte er, »das Murren des Arbeiters auf seine Berechtigung zu überprüfen«. Das »Manchestertum«, ein damals gebräuchlicher Ausdruck für die unbeschränkte Marktwirtschaft, sei »heute überwunden«. Mit Beifall nahm Thomas Mann auf, dass Haushofer seine Volkswirtschaft als moralische Wissenschaft verstand, er unterstrich das Wort in seiner Mitschrift.[157] Die Nationalökonomie habe »lange im Dienste des Reichtums gestanden«, das sei ein »überwundener Standpunkt«. Die Wirtschaft, so Haushofer, müsse »den Volksreichtum nicht nach dem vorhandenen Gelde, sondern nach dem Vermögensstand der mittleren und niederen Klassen beurteilen«.[158] Zwar sei der Eigennutz ein natürlicher Trieb, aber auch der Gemeinsinn sei nicht nur anerzogen, sondern sei natürlich, finde sich schon bei Tieren. Gemeinsinn gebe es in der Familie, in der Gesellschaft, in der Nation. Über den Gemeinsinn des Patriotismus stellt Haushofer die »allgemeine Menschenliebe oder Cosmopolitismus«.[159]