Thomas Mann. Die frühen Jahre. Herbert Lehnert
Es gebe in München ein Mädchen, das noch immer nicht genug Rosen von ihm bekommen habe. Diesem Mädchen galt wohl das Gedicht, das in der Januar-Ausgabe 1895 der Zeitschrift Die Gesellschaft erschien:
Siehst du, Kind, ich liebe dich,
Da ist nichts zu machen;
Wollen halt ein Weilchen noch
Beide drüber lachen.
Aber einmal, unverhofft,
Kommen ernste Sachen, –
Siehst du, Kind, ich liebe dich,
Da ist nichts zu machen! (3.I, 135)
Das angeredete »Kind« ist wahrscheinlich Ina Bruhn, die fünfzehnjährige Tochter des Direktors der Versicherung, in der Thomas Mann einige Monate Lehrling war.[91] Im Brief an Grautoff teilt er sich die Rolle des Brackenburg zu, des aussichtslosen Liebhabers in Goethes Egmont, und nennt sich selbst einen »entartete[n] Schwächling« (21,60), im Kontrast zu der Rolle des überlegenen Freundes, die er Grautoff gegenüber annahm.
Im nächsten Brief vom 30. Juni [1895][92] bekennt Thomas Mann, er sei »gründlich verliebt«. Sein Kopf sei voll von »merkwürdigen und aufregenden Gedanken«, er müsse sich über seine »Psychologie in eroticis wieder einmal ›klar‹ […] werden«. Das »wieder einmal«, an Grautoff gerichtet, bezieht sich auf die Lübecker Gespräche mit dem Freund über homoerotische Liebe. Die jetzt geltende heterosexuelle Liebe hat den gleichen Rang wie die vergangenen homoerotischen. »Liebe ist bei mir gänzlich verrotteten Wesen immer bloß ein ganz künstlicher Rausch, – aber ein Rausch immerhin, der so stark ist, das[s] er mich zu den sonderbarsten und frechsten Schritten zu treiben vermag, wie ich sie in diesen Tagen einer nach dem anderen tue.« Solch freche Schritte waren die Besuche bei Ina Bruhn und vielleicht auch das Gedicht in Die Gesellschaft. Der Brief soll Grautoff wissen lassen, dass sein Freund heterosexuelle Gefühle hat, dass er sich nicht seiner homoerotischen Gefühle schämt, nicht an ihnen leidet.
In diesem Brief vom 30. Juni [1895], in dem er von seiner Verliebtheit schreibt, reagierte er auch auf einen Bericht Grautoffs über dessen Arztbesuch bei einem Assistenten des Berliner Psychiaters Albert Moll. Thomas Mann wisse immer noch nicht »das intim Persönliche« von Grautoffs Krankheit, und er bittet ihn, ihm seinen Fall »deutlich und offenherzig« darzulegen. Aus späteren Briefen geht hervor, dass Grautoff seine Homoerotik behandeln lassen wollte. Thomas Mann möchte alles wissen über die Art und Weise, wie der Arzt das »intim Persönliche deines Falles« beurteile und behandle. Thomas Mann würde alles »verstehen«, was Grautoff ihm schreibe, um nicht zu sagen: »kennen«, denn er selbst sei »wackelig«. Hier nimmt Thomas Mann etwas von seiner selbstsicheren Überlegenheit zurück, die er in anderen Briefen Grautoff vorgespielt hatte. Sein Arzt hatte Grautoff eine Medizin verschrieben, vielleicht gegen Neurasthenie. Thomas Mann möchte, dass Grautoff ihm das Rezept schickt. Er erwähnt in dem Brief seine Lektüre von Molls Buch Conträre Sexualempfindung, über das er urteilt: »Es strotzt von Humanität«.
Die Berlin-Reisepläne störte Bruder Heinrich mit einem nicht überlieferten Brief, der am 10. Juli 1895 in München ankam und Bruder Thomas nach Rom rief (21, 61). Auf einer Postkarte aus Rom vom 5. Oktober 1895 erklärt Thomas Mann sich von Rom begeistert (TM / OG, 60). Die Abneigung, die Jahre später Tonio Kröger in der gleichnamigen Erzählung äußert (2.I, 281 f.), gehört zur Figur und dient dort der Polemik gegen Heinrichs Roman-Trilogie Die Göttinnen. Den Sommer 1895 verbrachten die Brüder in Palestrina. Heinrich schrieb für Das Zwanzigste Jahrhundert, Thomas nahm teil und revidierte seine ungedruckten Erzählungen.
Selbstbildung
Ende 1895 beantwortete Thomas Mann einen Vordruck mit Fragen nach seiner Bildung, worum Ilse Martens, eine Freundin der Familie, ihn gebeten hatte. Im Jahr 1895 stand Thomas Mann noch am Anfang seiner Selbstbildung. Auf die Frage nach seinen Lieblingsschriftstellern nannte er »Heine, Goethe, Bourget, Nietzsche, Renan«. Seine »Lieblingscharaktere in der Poesie« seien »Hamlet, Tristan, Faust und Mephisto, Parsifal«. In dem Interesse an Bourget ist der Einfluss des Bruders Heinrich noch spürbar. Das gleiche gilt für Renans Das Leben Jesu. Allerdings wurde Renan damals allgemein diskutiert, auch Nietzsche beschäftigte sich mit ihm. Thomas Manns lebenslanges Interesse für Shakespeares Hamlet schlägt sich hier, schon Ende 1895, nieder. Dramen Friedrich Schillers hatte er schon in der Schule gelesen. Goethes Dichtung und Wahrheit, woraus er oft zitiert, dürfte er auch bereits während der Schulzeit gelesen haben.
Auf die Frage: »Lieblingshelden in der Geschichte« ist »Christus« die Antwort. Thomas Mann hatte sich 1895 Nietzsches Der Antichrist angeschafft. Darin fand er einen Jesus, der sich gegen die jüdische »Kirche«, die jüdische Sekte der Jünger Jesu, absetzte. Deren Lehren von Gott als strafendem Richter, die Begriffe Sünde, Schuld und Strafe überhaupt, erkannte Nietzsche nicht als Lehren Jesu an, sowie »jedwedes Distanz-Verhältnis zwischen Gott und Mensch« (KSA 6, 205). Das Himmelreich gehört den Kindern; es besteht aus liebevollem Handeln. »Die evangelische Praktik allein führt zu Gott, sie eben ist Gott« (KSA 6, 206). Jesus habe gelebt und sei gestorben, »um zu zeigen, wie man zu leben hat […]. Er widersteht nicht, er verteidigt nicht sein Recht […]. Und er bittet, er leidet, er liebt mit denen, in denen, die ihm Böses tun …« (KSA 6, 207). Das Christentum der Jünger und das des Paulus sieht Nietzsche als auf krude Weise missverstanden. »[I]m Grunde gab es nur einen Christen, und der starb am Kreuz.« (KSA 6, 211)
Bourgets Programm-Roman Le Disciple hat Thomas Mann damals wohl im französischen Original gelesen. Im frühesten erhaltenen Notizbuch hat er sich 1894 die Einleitung zu Le Disciple in französischer Sprache notiert. Im Februar 1896 berichtet er Grautoff, er lese Bourgets Physiologie de l’amour moderne. (21, 73). Eine Notiz aus dem Jahr 1896 belegt die Lektüre von Bourgets La Terre Promise (Nb.I, 51). In der Antwort auf eine französische Rundfrage von Ende 1903, wie französische Literatur auf ihn gewirkt habe [Der französische Einfluss] (14.I, 73–75),[93] schränkt er diese Wirkung erheblich ein, vermutlich um Heinrichs Anleitung zu verbergen. Ähnlich schreibt er an den französischen Professor Joseph-Émile Dresch im Oktober 1908: »Ich verehre Maupassant und namentlich Flaubert von ganzem Herzen, glaube jedoch, dass ich von den großen Romanciers germanischen und slawischen Stammes mehr gelernt habe als von ihnen (Dickens, Tolstoi, Turgenjew, Jakobsen [sic], Andersen, selbst Reuter)« (21, 394). Thomas Mann teilte sicher das große Interesse moderner Schriftsteller der Zeit an Gustave Flaubert; die Zeugnisse dafür sind jedoch eher gering.[94] Eine Äußerung über die Lektüre der Briefe Flauberts an George Sand findet sich in einem französischen Zitat aus einem Brief vom Sommer 1904 an Katia Pringsheim (21, 299). An Louis Leibrich schreibt er 1953, er habe Flauberts L’Éducation sentimentale im Original gelesen.[95] Madame Bovary war das Muster eines modernen Romanes, dessen Hauptfigur nicht um die Sympathie der Leser wirbt. 1907 im Versuch über das Theater nimmt Thomas Mann Flauberts Madame Bovary in eine Reihe bedeutender Romane auf (14.I, 133). An Philipp Witkop schreibt er am 27. April 1933 recht widersprüchlich, er habe Flaubert wie Balzac und Zola »erst ziemlich spät kennen gelernt, […] einer eigentlichen Beeinflussung« sei er sich »nicht bewusst«, jedoch gehöre »die streng künstlerische Haltung Flauberts« zu den »Bildungserlebnissen« seiner »späteren Jugend« (Briefe I, 331).
Am Anfang seiner Rezension eines unbedeutenden Buches für die Zeitschrift Das Zwanzigste Jahrhundert findet Thomas Mann zwei Figuren mit gegensätzlicher Weltanschauung in Bourgets Roman Cosmopolis »prachtvoll« einander gegenübergestellt (14.I, 40).[96] Damals, 1896, war der Einfluss Heinrichs, den Thomas 1895 in Rom besucht hatte, noch voll lebendig, jedoch zeigt sich auch schon kritische Distanz. Denn Heinrich hatte 1894 eine längere Rezension von Bourgets Roman Cosmopolis (HMEP I, 52–67) unter dem Titel Bourget als Kosmopolit in einer modern-liberalen Zeitschrift veröffentlicht. Erst gegen Ende seines Artikels war er auf den gläubigen Montfanon zu sprechen gekommen, die Gegenfigur zu dem kosmopolitischen Schriftsteller Dorsenne, auf den Bourget seine eigenen früheren schriftstellerischen Intentionen überträgt. Heinrich hatte gezögert, Bourgets konservative Entwicklung festzustellen. Thomas dagegen macht die reaktionäre Haltung