Thomas Mann. Die frühen Jahre. Herbert Lehnert
einer Familie. Dass er eine Zeit lang Schopenhauers Philosophie sehr wichtig nahm, zeigt sich darin, dass er sich die sechsbändige Reclam-Ausgabe von Schopenhauers Werken anschaffte.[56] Bruder Thomas konnte sie benutzen und machte sich 1894 erste Notizen daraus über Schopenhauers Ansicht zu dichterischem Wahnsinn bei Horaz und Wieland (Nb.I, 47).[57] Die notierten Zitate stammten aus dem Paragraphen 36 des ersten Bandes von Die Welt als Wille und Vorstellung,[58] in dem Schopenhauer über die Kunst schreibt, die er für eine »geniale Betrachtungsart« der Welt, »unabhängig vom Satze des Grundes«, hält. Wer ein künstlerisches Produkt betrachtet, will nicht seinen Willen darauf anwenden, nicht in das Bild eingreifen, es verändern. Schopenhauer hält die Kunst, »das Werk des Genius« für ein Mittel zur Erkenntnis des Wesentlichen der Welt, das in den platonischen Ideen enthalten ist. Genialität sei die »vollkommenste Objektivität«, die Fähigkeit, »sich rein anschauend zu verhalten«, die Erkenntnis dem Dienste des Willens zu entziehen; Interesse, Wollen, Zwecke ganz aus den Augen zu lassen, »um als rein erkennendes Subjekt, klares Weltauge übrigzubleiben«.[59]
Wenn Schopenhauer den »Genius« in der Kunstbetrachtung oder Kunstschöpfung als positiv gelenkten ›Willen‹ versteht, dann bestätigt das die literarische Tradition seit Gustave Flauberts Madame Bovary: das kalte Abstandnehmen des Erzählers von seinem Objekt. Das in der Natur Aufgefasste sei »durch überlegte Kunst zu wiederholen«, so Schopenhauer. Mit Bezug auf Goethe soll das Genie die schwankende Erscheinung befestigen, soll »überlegte« Kunst gestalten, nicht bloß das Wirkliche abbilden.[60] Der Genius stehe im Gegensatz zu dem »gewöhnlichen Erdensohn«, der in der Gegenwart ganz aufgeht und, weil er seinesgleichen überall findet, »Behaglichkeit im Alltagsleben hat, die dem Genius versagt ist«.[61] Einmal bezeichnet Schopenhauer den nicht-genialen, den gewöhnlichen Menschen als »Fabrikware der Natur«.[62] Schopenhauer gab dem Künstler ein Wertgefühl. Andererseits entschuldigt er geniale Menschen für ihren Mangel an mathematischer Fähigkeit und ihren Mangel an Vernunft überhaupt. Die Genialen könnten, so Schopenhauer, Schwächen haben, die zum Wahnsinn führen. In diesem Kontext kommen Schopenhauers Zitate aus Horaz und Wielands Oberon vor, die Thomas Mann sich notiert hat.[63] Einige Seiten weiter behandelt Schopenhauer in Paragraph 38 die Erlösung von der Qual des Wollens durch die Betrachtung des Schönen.[64] Dieser Text enthält die Stellen, die Nietzsche im sechsten Abschnitt der Abhandlung Was bedeuten asketische Ideale? in Zur Genealogie der Moral verspottete (KSA 5, 346–349). Schopenhauers Wertschätzung des Künstlers und Nietzsches Zweifel daran wirkten als Anregung für Der kleine Herr Friedemann. Friedemann versucht, den Willen zu verneinen, aber es gelingt ihm nicht, Erlösung von den Leiden der Willenswelt zu erlangen; der dilettantische Genuss von Kunst genügt nicht als Gegengewicht zu dem sexuellen Begehren.
Dass Heinrich den Bruder in Schopenhauer eingeführt hat, hat Thomas Mann verheimlicht. Die Geschichte, die er in den Betrachtungen eines Unpolitischen von seiner ersten Lektüre Schopenhauers erzählt (13.I, 79), kann allenfalls seine erste Lektüre von Schopenhauers Essay Über den Tod und sein Verhältnis zur Unzerstörbarkeit unsers Wesens an sich gewesen sein. Diesen Text verwendete er in seinem Roman; er tröstet Thomas Buddenbrook. Auch die Geschichte des »Okkasionskauf[s] beim Buchhändler« in Lebensabriss von 1930, die er dort auf Thomas Buddenbrook und auf sich selbst bezieht (Essays III, 190), kann nicht stimmen: Es war nicht die Brockhaus-Ausgabe, die er während des Schreibens von Buddenbrooks 1899 las, denn diese ist von 1922 und in Thomas Manns Nachlassbibliothek erhalten. Sie ist nicht broschiert und kann nicht – wie die Reclam-Ausgabe – unaufgeschnitten gewesen sein.[65] Er hat sich seine erste Schopenhauer-Ausgabe nach 1898 angeschafft, nachdem er Rom, Bruder Heinrich und dessen Schopenhauer-Ausgabe verlassen hatte. 1954 berichtet er, wie er in seinem Münchener Zimmer, wo er Buddenbrooks schrieb, wohl 1898, die sechs Bände der Reclam Ausgabe tagelang aufgeschnitten habe (GW X, 935). Schopenhauers Lehre von der Kunst, die einem hilft, dem destruktiven Willen, dem Übel in der Welt, zu entgehen, kannte Thomas Mann vielmehr schon seit 1893 und 1894, als er mit Heinrich im Austausch war und dessen Ausgabe benutzte.
Die Welt-Skepsis Schopenhauers und die Idee der zwecklosen, freien Kunst als Erlösung von den Verstrickungen der Welt hat lange auf Thomas Mann und auf sein Schreiben gewirkt. In Betrachtungen eines Unpolitischen nennt er ›Erotik‹ das tiefste Wesen der Metaphysik Schopenhauers (13.I, 79), weil er als Philosoph den ›Willen‹ als den Weltgrund erkennen wollte, als Kants ›Ding an sich‹. Dieser Weltgrund sollte aber nicht fassbar und nicht als Objekt begreiflich, und doch im Bewusstsein der Menschen spürbar sein – vor allem in der Erotik, der geschlechtlichen Begierde.
Auch das Interesse für Nietzsches Philosophie teilte Heinrich mit dem Bruder. Thomas’ Essay Heinrich Heine, der »Gute« in Der Frühlingssturm! zeugt schon 1893 von einer ersten Kenntnis Nietzsches zu der Zeit in Lübeck, als Thomas engen Kontakt zu Heinrich pflegte. 1894 notiert sich Thomas Mann in einem Notizbuch Passagen aus Nietzsches Jenseits von Gut und Böse (Nb.I, 33 f., 36 f.). Um die Jahreswende 1894 /95 merkt er sich zur Anschaffung vor: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, Unzeitgemäße Betrachtungen, Menschliches, Allzumenschliches, Morgenröthe und Fröhliche Wissenschaft (Nb.I, 50). Der Band 8 der Großoktavausgabe von Nietzsches Werken in Thomas Manns Nachlassbibliothek hat den Besitzervermerk »Thomas Mann 1895« und enthält Der Fall Wagner, Götzendämmerung, Nietzsche contra Wagner, Der Antichrist und sämtliche Gedichte. 1896 legt der junge Thomas Mann Morgenröthe und Die fröhliche Wissenschaft dazu. Der Band 7, mit Jenseits von Gut und Böse und Zur Genealogie der Moral erschien erst 1899, aber Heinrich Heine, der »Gute« und ein ungenaues Zitat in einem Brief an Otto Grautoff vom 17. Februar 1896 (21,72; vgl. KSA 5, 352) beweisen, dass er wenigstens Teile von Zur Genealogie der Moral schon vorher kannte, vermutlich aus Heinrichs Bibliothek. Ein minimales Zitat aus Also sprach Zarathustra findet sich in Notizbuch I: »Wohlan! Noch einmal« (Nb.I, 51; KSA 6, 199). Das notierte er sich vielleicht als Gegengewicht zu Schopenhauers Pessimismus. Wenn man die beschränkten Geldverhältnisse Thomas Manns in den 90er-Jahren bedenkt, dann sind die Anschaffungen vieler Bände der Großausgabe von Nietzsches Werken nur dadurch zu erklären, dass er schon zu dieser Zeit ein intensives Nietzsche-Studium betrieb.
1905 schrieb Thomas Mann von einer »Schule von Geistern, die Nietzsche in Europa geschaffen hat«. Diese Schule identifiziere den »Begriff des Künstlers mit dem des Erkennenden« (14.I, 86). Diese Aussage beschreibt wohl eher Thomas Manns Rezeption Nietzsches und Schopenhauers als eine »Schule«. Die Moralkritik Nietzsches war in einer lebendigen, gewählten und trotzdem eingängigen Sprache verfasst und ließ das traditionelle Weltbild als Gottes Schöpfung und Ordnung hinter sich. Eine neue Ordnung aller Werte war gefragt. Wie aber konnte diese Ordnung gelehrt werden, wenn das moderne Denken keine absolut gültige Metaphysik als Grundlage des Denkens und Wissens gelten ließ? Nietzsche lieferte die Antwort: Der freie, überlegene Geist denkt kreativ, ist nicht in ein System gebunden, muss nicht konsistent sein: »Du solltest Gewalt über dein Für und Wider bekommen und es verstehen lernen, sie aus- und wieder einzuhängen, je nach deinem höheren Zwecke. Du solltest das Perspektivische in jeder Wertschätzung begreifen lernen« (KSA 2, 20; aus der späten Vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches von 1886) »Für« und »Wider« sind Gegensätze, die der Denker »aushängen« oder »einhängen« kann, auf eine allgemein gültige Metaphysik verzichtend. Solche Gedanken mussten einem jungen Mann, der nach einer Orientierung sucht, imponieren.
Die Darstellung der Wirkung Nietzsches auf Thomas Mann in Lebensabriss von 1930 ist gefärbt von einer Nietzsche-Skepsis, die sein Widerstand gegen den aufkommenden Nationalsozialismus nötig gemacht hatte. Eine solche Nietzsche-Skepsis deutet sich schon in seinem Widerstand gegen Heinrichs Roman Die Göttinnen oder die drei Romane der Herzogin von Assy (1902) an, deren Protagonistin Nietzsches starkes Leben zum Vorbild nimmt. Von Anfang an bezog Thomas Mann Nietzsches »Pathos der Distanz« auf den modernen Künstler, der die Gewöhnlichen überragte, die an überkommenen Konventionen festhielten. Als Schlagwort stellt Thomas Mann »Pathos der Distanz« schon in der Erzählung Der Wille zum Glück (1896) ein.
Richard Wagner
Thomas Manns Wagner-Liebe begann in seiner Lübecker Jugendzeit (GW XI, 418 f.).[66] Das