Thomas Mann. Die frühen Jahre. Herbert Lehnert
der Bildungsbürger eintreten, die immer größere Bedeutung gewann. Der zweite Sohn, Thomas, sollte nach dem zehnten Schuljahr wie der Vater eine Kaufmannslehre beginnen, sich an der Leitung der Firma beteiligen und schließlich Nachfolger des Vaters werden. Aber die Söhne Heinrich und Thomas wollten die Firma Mann nicht fortsetzen. Darum bestimmte der Vater, der Testamentsvollstrecker solle die Firma binnen eines Jahres auflösen, was zu substanziellen Verlusten führte. Für die minderjährigen Kinder setzte der Vater zwei Vormünder ein. In den Anweisungen an diese machte der Senator die Einwirkung auf eine praktische Erziehung seiner Kinder zur Pflicht.
Soweit sie es können, ist den Neigungen meines ältesten Sohnes zu einer s[o] g[enannten] literarischen Tätigkeit entgegenzutreten. Zu gründlicher, erfolgreicher Tätigkeit in dieser Richtung fehlen ihm m[eines] E[rachtens] die Vorbedingnisse; genügendes Studium und umfassende Kenntnisse. Der Hintergrund seiner Neigungen ist träumerisches Sichgehenlassen und Rücksichtslosigkeit gegen andere, vielleicht aus Mangel an Nachdenken. (1.II, 625 f.)
Thomas’ gutes Gemüt lobt der Vater in seinen Nachlass-Bestimmungen, aber er verweist auch ihn auf einen »praktischen Beruf« (1.II, 625 f.).[37] Thomas’ literarische Neigungen erwähnt er mit keinem Wort. Julia, die Mutter der Kinder, hatte Sympathie für Heinrichs literarische Versuche, sie hatte einmal »fabelhaft« unter ein Manuskript des Vierzehnjährigen geschrieben.[38] Der Senator wird erwartet haben, dass sie dazu neigte, Heinrichs Schriftsteller-Laufbahn zu unterstützen. Aus den Zinsen des Vermögens stand den Brüdern eine kleine Rente zu, die es ihnen ermöglichte, sich auf den Schriftstellerberuf vorzubereiten.
Von seinen sehr frühen Schreibversuchen hat Thomas Mann gelegentlich erzählt, aber erhalten ist nichts davon. In den einleitenden Worten zu dem Vortrag Meine Zeit von 1950 spricht er von einer unbestimmten »Schuld, Verschuldung, Schuldigkeit«, die er dort als sein religiöses Empfinden anspricht, das sich auf seine Arbeiten als »Gutmachung, Reinigung und Rechtfertigung« auswirke und zwar so, dass jeder neue Versuch für »den vorigen und alle vorigen« aufkommen müsse, um deren »Unzulänglichkeiten« gutzumachen. Die religiös verstandene Schuldigkeit verlange eine hohe Qualität in seinen Werken. Für »Schuldbegleichung« könne er nur auf die »souveräne Macht« der »Gnade« hoffen. Diese Macht ist eine nicht definierte religiöse Instanz, denn er nennt keinen Gott, der Gnade gewähren könnte.[39]
In seinem Fragment über das Religiöse von 1931 spricht Thomas Mann von seinem Vater, der sich lange Gebete an seinem Sterbelager verbeten habe. Dort heißt es: »Was aber ist denn das Religiöse? Der Gedanke an den Tod.« Solche Gedanken sind im Sinn von Schopenhauers Essay Über den Tod und sein Verhältnis zur Unzerstörbarkeit unseres Wesens an sich[40] zu verstehen: als Befreiung am Ende des Lebens.[41] In einem ähnlichen Sinn war der Tod des Vaters ein Ende seiner Gewalt über seine Kinder und zugleich eine Befreiung für deren Lebensziele.
In den Dankesworten anlässlich der Verleihung der Ehrenbürgerwürde der Stadt Lübeck in seinem Todesjahr 1955 spricht Thomas Mann über seinen Vater und äußert den Wunsch, dieser hätte seinen Weg noch »etwas weiter verfolgen und sehen können, dass ich mich eben doch, gegen alles Erwarten, auf meine Art als sein Sohn, sein echter erweisen konnte«. Das war, wie er gleich hinzufügt, ein unerfüllbarer Wunsch. »Wie hätte ich Buddenbrooks schreiben können, während er noch da war? Undenkbar!« (GW XI, 535 f.). Die Befreiung vom Vater war eine Notwendigkeit für Thomas Manns Werk. Aber dessen gesellschaftlicher Rang wirkte auf den Willen des Sohnes, diesem Werk Qualität zu geben.
Die Brüder kommen sich näher:
Der Frühlingssturm!
Bald nach dem Tod des Vaters befiel Heinrich eine akute Tuberkulose. Er brauchte Sanatoriumsaufenthalte, während derer er sein Ziel, Schriftsteller zu werden, weiter verfolgte. An seinem Interesse für Hermann Bahr und Paul Bourget ließ er jetzt auch den Bruder teilnehmen. Im Mai und Juni 1893 kam er nach Lübeck, weil die Mutter der Brüder ihren Haushalt in Lübeck aufgab, um in München ein neues Leben zu beginnen. Heinrich musste sein Zimmer räumen, das seine Bibliothek und Manuskripte enthielt. Über diese Zeit schreibt er Ewers, er habe wenig an seinem Roman gearbeitet, stattdessen die Ferien mit seinem Bruder verbummelt.[42]
Heinrich wird des Bruders Schwärmerei für Mitschüler als Pubertätserscheinung abgetan und sich bemüht haben, des Bruders heterosexuelles Begehren zu stärken. Wie seinem Freund Ewers dürfte Heinrich damals dem Bruder den Weg zu einer Prostituierten gezeigt haben. In einem Brief an Ewers hatte Heinrich dem Freund eine Pension in Lübeck empfohlen, deren Bewohnerin ihm »die ersten normalen sinnlichen Seligkeiten verschaffte«. Das Haus, dessen Adresse er ungenau in Erinnerung hat, habe ein »blankmessingnes Stiegengeländer«.[43] Dass Heinrich auch seinem Bruder Thomas das gleiche Haus beschrieb oder 1893 zeigte, geht daraus hervor, dass das Haus durch ein blitzendes »Geländer aus Messing« erkennbar wird, sowohl in der Empfehlung für Ewers als auch im Doktor Faustus. Leverkühn erwähnt es, als er Zeitblom von seinem Besuch eines Bordells in Leipzig berichtet (10.I, 208).
Thomas wollte im Juli mit der Mutter nach München ziehen, er musste das zehnte Schuljahr, die Unterprima, wiederholen, um die Berechtigung zum einjährigen freiwilligen Dienst in der kaiserlichen Armee zu erhalten.[44] Eine Schülerzeitschrift, die er mit Schulfreunden schrieb und redigierte, sollte das negative Urteil seiner Lehrer über ihn widerlegen. Das Blatt erhielt den Titel Der Frühlingssturm!. Als Herausgeber zeichnete Paul Thomas; Paul war ein zweiter Vorname Thomas Manns. Die Monatsschrift für Kunst und Literatur (so der Untertitel des Doppelhefts) gilt als die erste deutsche Zeitschrift, die von Jugendlichen für Jugendliche produziert wurde.[45] Sie entstand wohl großenteils in der Zeit, die Heinrich in Lübeck zubrachte.
Das Programm, von Thomas Mann in einem Leitartikel formuliert, klingt jugendlich-kämpferisch, progressiv. Wie ein Frühlingssturm wollen die Autoren in »Gehirnverstaubtheit«, »Ignoranz« und »bornierte[s] aufgeblasene[s] Philistertum« hineinfahren (14.I, 18). Von dem verlorenen ersten Heft aus dem Mai 1893 sind Bruchstücke in der Form von Zitaten aus Arthur Eloessers Biographie Thomas Mann. Sein Leben und sein Werk (Berlin, S. Fischer, 1925) bekannt (14.II, 11 f.). Aus dem ersten Heft ist nur ein vollständiger Text erhalten, ein erzählendes Gedicht, Zweimaliger Abschied, das zu einigen biographischen Vermutungen Anlass gibt, auf die wir noch kommen werden. Zwei Gedichte Thomas Manns lassen seinen Pessimismus erkennen: Das eine, Nacht, will in einer freien Verssprache mit der Ankündigung des Morgenrots trösten (3.I, 133). Das andere, Dichters Tod, nimmt den Tod als endgültiges Ende (3.I, 134). Die Erinnerungen eines Mitschülers aus dem Jahr 1925 nennen eine Besprechung von Ibsens Drama Baumeister Solness und zitieren nur einen Satz daraus: Der Schüler Thomas Mann hat das »robuste Gewissen«, das Hilde Wangel, einer Figur in Ibsens Drama, eigentümlich ist, auf seine vernachlässigten Schul-Aufgaben bezogen (14.I, 19). Ibsens Drama war im Januar 1893 im Berliner Lessingtheater zum ersten Mal aufgeführt worden und im gleichen Jahr auf Deutsch erschienen (14.II, 18). Baumeister Solness kritisiert den rücksichtslosen Kapitalismus; das Stück weckt Zweifel am Fortschrittsgedanken und an Nietzsches humanistischem Glauben an eine Höherentwicklung des Menschen. Ibsen wirbt jedoch nicht für eine Rückkehr zur alten Metaphysik, wenn er den Individualismus der Moderne in Frage stellt, sondern will nur auf das Problematische der neuen Weltanschauung aufmerksam machen. Die neue Welt vertritt Hilde Wangel mit ihrem Glauben an Solness’ Größe, mit dem sie allerdings seinen Tod verursacht. Sie tritt dem Leser aber nicht als Mörderin, sondern als liebenswerte, junge, reizvolle Frau entgegen. Ein solches Spiel mit Wert-Ambivalenzen entsprach schon früh Thomas Manns modernem Wertepluralismus.
Das erhaltene Exemplar des Doppelheftes Der Frühlingssturm! für Juni und Juli 1893 enthält die Skizze Vision (2.I, 11–13), die Neuformung eines langen ungereimten Gedichtes Die Hand, das Heinrich 1892 in einer Sammlung Deutsche Lyrik von 1891 veröffentlicht hatte.[46] Eine Liebesgeschichte spricht sich in wechselnden Farben aus. Thomas Mann macht ein Prosagedicht aus den thematischen Anregungen in Heinrichs lyrischer Strophe. Farben, getroffen von den gespiegelten Strahlen der untergehenden Sonne, wecken eine vergangene unterdrückte erotische Leidenschaft als imaginierte Erinnerung eines erzählenden Ichs. Thomas Mann widmet seinen Text »Dem genialen Künstler Hermann Bahr«.
Wahrscheinlich