Thomas Mann. Die frühen Jahre. Herbert Lehnert
zurückerhielt: »Wenn sie öfters solche Einfälle haben, sollten Sie etwas dagegen tun«. Er hat die Anekdote in einer autobiographischen Vorlesung 1940 in Princeton (On Myself ) erzählt mit der Bemerkung, er sei, als er noch zur Schule ging, mit der Wiener Schule Hermann Bahrs »in Berührung« gewesen (GW XIII, 132 f.). Dass sein Bruder ihn auf Bahr brachte und dass er einen Text Heinrichs bearbeitete, erwähnt Thomas Mann nicht.
Dass Thomas Mann schon 1893 Grundzüge von Nietzsches Perspektivismus kannte, beweist sein Aufsatz Heinrich Heine, »der Gute« in Der Frühlingssturm! Der junge Thomas Mann will die Größe des geliebten Dichters Heinrich Heine für übermoralisch erklären, indem er Dr. Konrad Scipio angreift, dessen langer Artikel im März und April 1893 in der Feuilleton-Beilage des Berliner Tageblatts erschienen war. Scipio war kein Pseudonym, vielmehr der wirkliche Name eines liberalen Pastors aus Stettin, von dem Thomas Mann nur dessen Artikel kannte. Scipio hob Heines bürgerliche Seiten hervor, um ihn gegen antisemitische Angriffe zu verteidigen. Heine habe Luther positiv dargestellt und sei in einem allgemein religiösen, nicht strikt konfessionellen Sinn »durch und durch Protestant« gewesen. Er habe Deutschland kritisch geliebt, so dass ihm Patriotismus zugebilligt werden konnte. Zwar missbilligt Scipio Heines lockeres Leben; aber er habe es wenigstens nicht scheinheilig verborgen.[47] Der junge Thomas Mann weiß es besser: Der Dichter passt nicht in eindeutige Rollen. »Heine […] bewunderte Luther, trotzdem er kein Protestant war«, »Heine […] bewunderte Napoleon, trotzdem er ein geborener Deutscher war« (14.I, 22). Nietzsches perspektivisches Denken führt der Schüler in seiner Einleitung vor: Die Begriffe »gut« und »schlecht« seien lediglich »soziale Aushängeschilder«. »Ein absolutes ›gut‹ oder ›schlecht‹, ›wahr‹ oder ›unwahr‹, ›schön‹ oder ›hässlich‹« gebe es in der Theorie ebenso wenig, »wie es im Raum ein oben und unten gibt« (14.I, 21). Wenn der junge Thomas Mann »gut« und »schlecht« als Gegensätze nimmt, statt des üblichen »gut« und »böse« dann folgt er Nietzsches Zur Genealogie der Moral. Dessen »Erste Abhandlung« unterscheidet »Gut und Böse« und »Gut und Schlecht« (KSA 5, 257–289). Die richtige Perspektive auf Heine, meint der junge Thomas Mann, sei seine Größe als Dichter. Die perspektivische Wertung verzichtet auf einen allgemein gültigen Wertmaßstab. Heine ist weder moralisch gut, noch ist die Schönheit seiner Dichtungen der gültige Maßstab für seine Größe. Vielmehr bezieht sich das Urteil »groß« lediglich auf seine Dichtung.
Über das Thema der Religion Heinrich Heines hat sich Thomas Mann wahrscheinlich aus Georg Brandes’ Die Hauptströmungen der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts (1872–1891) unterrichtet,[48] dessen sechster Band Das junge Deutschland 1891 erschienen war. Heinrich wird sein Exemplar nach Lübeck mitgebracht haben, und Thomas hat begierig darin gelesen. Über Heines Taufe fand er: »Er [Heine] wechselte die Religion, nicht aus Überzeugung von der Wahrheit des Christentums, im Gegenteil voll Abneigung gegen die Staatsreligion und voll Scham über den Schritt, den er unternahm; er wollte den Versuch machen, sich der demütigenden und drückenden Abhängigkeit von seinem Onkel zu entziehen und konnte unter keinen anderen Umständen Einnahmen, Lebensstellung oder ein Amt erlangen.«[49]
Ostern 1894 verließ Thomas Mann seine Heimatstadt mit dem Zeugnis der mittleren Reife so schnell er konnte.[50]
Tarnende Sprache: Zweimaliger Abschied
In einer redaktionellen Bemerkung zum zweiten, dem erhaltenen Heft von Der Frühlingssturm!, spricht Thomas Mann von einem »Vorrat« von Manuskripten, aus dem er geschöpft habe (14.I, 20). Zu diesen älteren Texten gehört Zweimaliger Abschied.[51] Das Gedicht war Thomas Mann wichtig. Nachdem es in Frühlingssturm! gedruckt worden war, erschien es im Oktober 1893 in der Zeitschrift Die Gesellschaft noch einmal. Der zweite Teil des Gedichtes scheint einen Abschied auf einem Bahnhof zu evozieren, auf den sich Thomas Mann in zwei erhaltenen Briefen von 1889 bezieht.
Der erste Teil des Gedichtes erzählt den abendlichen Spaziergang eines verliebten Paares an einem Strand. Beide sind überzeugt, dass eine Trennung bevorsteht: »Niemals wieder« werden sie ihr Glück zusammen erleben. Die Wiederholung von »niemals wieder« lässt den Abschied als zwingend notwendig erscheinen, ohne dass die Notwendigkeit begründet wird. Der Sprecher des zweiten Gedicht-Teils duzt die verabschiedete Person in seinen Gedanken: »[D]eine Eltern sah ich«, so spricht der Sprecher die Abreisende in seinen Gedanken an, benutzt aber die Sie-Form in der Öffentlichkeit: »leben Sie recht wohl«. Die Liebe musste verborgen bleiben. In zwei Briefen an Frieda Hartenstein vom Oktober 1889 und Januar 1890 schreibt der junge Thomas Mann von einem »rührenden« Abschied, was ironisch zu lesen ist. Auch der Abschied in einem Gedicht von Schiller soll ironisch verstanden werden (21, 22).[52]
Frieda Hartenstein war im Haus Mann angestellt gewesen, wahrscheinlich als Kinderfräulein für die jüngeren Schwestern. Sie wurde zufällig oder nicht zufällig ungefähr gleichzeitig mit Heinrichs Abreise nach Dresden im Oktober 1889 verabschiedet. Sie war damals 29 Jahre alt.[53] Es ist denkbar, dass Frieda Hartenstein in Heinrich Mann erotische Gefühle erweckt hatte, die auch den vierzehnjährigen Thomas interessierten, denn er versucht, mit seinen Briefen eine Beziehung wiederherzustellen. Obwohl es wenig beweiskräftig ist, wenn wir eine fiktive Aussage als biographische Quelle benutzen, ist es naheliegend, an eine Stelle in den Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull zu denken. Dort lässt sich der junge Krull von Genovefa, dem dreißigjährigen Zimmermädchen des Elternhauses, in die Sexualität einführen. Diesen Vorgang bezeichnet der Erzähler als »gewöhnlich« (12.I, 60 f.), das heißt: häufig vorkommend in Großbürgerkreisen. Ist eine solche Begegnung der Grund einer heimlichen, verbotenen Liebe Heinrich Manns, der 1889 achtzehn Jahre alt war?
Hat auch der vierzehnjährige Bruder an der Heimlichkeit teilgenommen? Allerdings liebte Thomas Mann im Sommer 1889 nicht Frieda, sondern seinen Schulkameraden Armin Martens. Das »liebe Blondhaupt« in der ersten Strophe der Strandszene könnte Armin Martens gehört haben (3.I, 131). Er hatte blondes Haar[54] wie auch Hans Hansen in Tonio Kröger (2.I, 244). 1955 schrieb Thomas Mann über Armin Martens: »den habe ich geliebt – er war tatsächlich meine erste Liebe«. Im selben späten Brief an einen früheren Mitschüler erzählt er, er habe Armin seine Liebe gestanden, mit der dieser »nichts anzufangen wusste« (Briefe III, 387). Vermutlich ist nicht einmal eine Freundschaft entstanden, vielmehr liegt es nahe, dass Thomas Manns Geständnis, dass er Armin liebe, zu einer erschrockenen Distanz zwischen ihnen führte. Denn die Homosexualität war zu vermeiden, sie wurde als Krankheit angesehen, noch dazu war sie gesellschaftlich verpönt.[55] Wollte Thomas sich in das Liebesverhältnis seines Bruders einbringen? Stellt er sich zwei verschiedene Liebes-Einverständnisse während eines Abends am Strand vor, Heinrichs und seines? Ist der Strandspaziergang ein Wunschtraum beider Brüder? Auf den geliebten Armin Martens könnte deuten, dass der Partner des Strandspaziergangs in Zweimaliger Abschied keinen Namen und kein Geschlecht hat; auch weibliche Fürwörter sind vermieden. Zweimaliger Abschied kann als eine frühe Übung in tarnender Sprache gelesen werden.
Thomas Manns andere Jugendliebe zu Williram Timpe löste intime Gespräche mit dem ein Jahr jüngeren Freund Otto Grautoff aus. Gewarnt durch die Abweisung von Armin Martens, hat Thomas Mann Williram seine Liebe nicht gestanden. In Der Zauberberg erhält Williram den (rhythmisch ähnlich klingenden) Namen Pribislav Hippe. Von Williram hat Castorp als Schüler sich einmal, wie sein Autor Thomas Mann in der Wirklichkeit, während einer Pause auf dem Fliesenhof des Lübecker Katharineums einen Bleistift geliehen. Castorp verwandelt seine Liebe für Pribislav in die für Clawdia Chauchat, mit der er legitim, ohne das Vorurteil gegenüber der Homoerotik, eine Affäre haben kann. Die Werbung um Clawdia Chauchat in Der Zauberberg vereinigt die vergebliche Liebe zu Williram Timpe und die wirkliche zu Katia Pringsheim im Fiktiven, gibt der in der Wirklichkeit nicht gewagten Werbung um Williram Timpe eine fiktive Existenz. Es handelt sich nicht um bloße Tarnung der homoerotischen Liebe durch eine heterosexuelle, sondern der bisexuelle Autor führt beide zusammen, erkennt sie als echte Liebe an. Das versucht schon Zweimaliger Abschied.
Schopenhauer und Nietzsche
Schopenhauers Pessimismus kam den Brüdern entgegen, waren