Thomas Mann. Die frühen Jahre. Herbert Lehnert

Thomas Mann. Die frühen Jahre - Herbert Lehnert


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an dem Wert seiner dekadenten, dilettantischen und kosmopolitischen Freigeistigkeit wurden in den 90er-Jahren – also zu der Zeit, als Heinrich Mann sich für Bourget begeisterte – zu einer entschiedenen Absage an die Modernität. Der Thesen-Roman Le Disciple (1889) lässt einen Philosophen eine positivistische, deterministische Psychologie entwickeln und vertreten. Seine Lehre wird fragwürdig, als er mit der Schuld eines Schülers belastet wird. Der junge Mann hatte sich durch die Lehren des Philosophen von dem katholisch-christlichen Glauben und von der alten Moral befreit gefühlt; er hat sich davon überzeugt, dass nur das eigene Ich wirklich sei und will die Stärke seiner Lehre beweisen, indem er die Tochter eines adligen Hauses dazu bringt, sich in ihn zu verlieben. Die Betrogene tötet sich. Bevor ihr Bruder den Verführer erschießt, hat dieser seinem Lehrer sein Experiment erklärt und den Philosophen erschüttert. Bourget leitet seinen Roman ein mit einem Brief an einen jungen Franzosen, den er aufruft, an der Gesundung Frankreichs nach seiner Niederlage 1871 teilzunehmen. Bourget meinte das in konservativem Sinn, als Gegner der Dritten Republik. Heinrich, der bald selbst konservative Neigungen entwickeln wird, blieb lange Sympathisant Bourgets. Er verstand Le Disciple eher als Bourgets selbstkritische Analyse der Moderne denn als konservatives Manifest.

      Heinrich Manns Haltlos

      Heinrich probierte die neue nach-naturalistische Schreibart in einer Erzählung, deren Titel Haltlos er von einem Gedicht der Wiener sozialkritischen Schriftstellerin Ada Christen übernahm.[28] Deren Verse evozieren »Vagabunden des Lebens« und »moderne Zigeuner«, die nach außen keck seien, aber nach innen »verjammert«,[29] nämlich bindungslos und unglücklich. Das moderne Streben nach Freiheit hat problematische Konsequenzen. Diese erfährt die Hauptfigur in Heinrich Manns Erzählung, ein junger Mann ohne Namen, der fast den ganzen Text hindurch die Perspektive bestimmt. Sein sozialer Stand gibt ihm keine Sicherheit. Der Buchhändler-Lehrling muss täglich ins Geschäft gehen, obwohl er wie sein Autor der »Sohn eines vornehmen Hauses« ist.[30] Er hat genug Taschengeld, um in Restaurants zu speisen und Prostituierte zu bezahlen. Wie sein Autor hat er die Schule vorzeitig verlassen. Erotische Gefühle will er nicht in bürgerliche Konventionen lenken, und der Text analysiert sie in der Weise von Bahr und Bourget, die statt der »Naturstände« des Naturalismus »Seelenstände« zum Gegenstand der Literatur machen wollten.

      Ihm ist eine junge Verkäuferin in einem Zigarrenladen aufgefallen. Aus ihrem Benehmen hat er geschlossen, dass auch sie eine Außenseiterin ist und daher zu ihm passt. Weil die junge Frau so anders ist als die Bürgertöchter, möchte der Mann ihr seine Scham beichten, nachdem er, von Kollegen eingeladen, ein Bordell besucht hat und sich nachher »gefallen« vorkommt, gefallen vor ihr, der unbürgerlichen jungen Frau.[31] »Gefallen« ist das Wort, das Thomas Mann zum Titel einer Erzählung wählen wird, mit der er auf Haltlos antwortet. Die Anziehung, die sie auf ihn ausübt, ändert sich, als die junge Frau ihm ihre Notlage erklärt. Ihr kleines Gehalt reicht nicht für die Medizin, die ihre Mutter benötigt. Ihr Hauswirt hat ihr das Geld geliehen, dreißig Mark. Das Darlehen will er tilgen, wenn sie ihm zu Willen ist. Sie hat den Verdacht, dass er sie danach als Prostituierte ausbeuten will.

      Wenn der junge Mann ihr das Geld gibt, nimmt er die traditionelle Rolle des männlichen Versorgers an, der die Frau wie seinen Besitz betrachtet. Die verarmte Kleinbürgerin fühlt »herzenswarm: er war ihr nun alles«,[32] sie spürt aber auch, dass seine nihilistische Indifferenz, sein Dilettantismus ihn hindern wird, sie zu heiraten. Sie will mit ihm die freie Liebe erfahren, bevor sie ihren Erpresser-Hauswirt bezahlt. Sie lädt ihn ein und gibt sich ihrer Liebe hin. Am nächsten Tag schickt sie ihm einen Brief, in den sie die dreißig Mark einlegt, die er ihr geschenkt hatte. Sie hat ihre Schuld bei ihrem Hauswirt auf die geforderte Art getilgt. Einmal wollte sie frei lieben, obwohl sie weiß, dass sie jetzt Prostituierte für ihr ganzes Leben geworden ist.

      Für den jungen Mann war die Liebesszene nur ein »Rauschen und Drängen des eigenen Blutes« gewesen,[33] wie manches Mal zuvor. Er hatte die konventionelle Doppelmoral verinnerlicht: das »Recht des Mannes«, das Ziel der geschlechtlichen Vereinigung zu erreichen, während es »Pflicht des Weibes sei, den Weg dorthin zu verlegen«.[34] Bevor er den Brief seiner Liebhaberin erhält, hatte er überlegt, wie er sie loswerden könne. Ein »guter Kerl«, ein guter Bürger, würde sich verpflichtet fühlen, sie zu heiraten. Aber das kommt für den haltlosen und modernen Dilettanten nicht in Frage, er muss bindungslos bleiben. Er kann sie nur mit Geld loswerden, also auf gewöhnliche Art. Ihr Brief beweist, dass sie freier war als er, der nur den üblichen Konventionen folgen wollte. Ihr freier Entschluss, ihm und sich selbst die freie Liebe zu schenken, solle ihn gut machen, schreibt sie ihm. Er solle an ihrer beider reine Liebe denken und nicht mehr ganz haltlos sein, wissend, dass es das Gute gibt.[35] In der bürgerlichen Ordnung, die durch Besitz bestimmt ist, kann eine freie Liebe nicht dauern.

      Mit den Grenzen, die die bürgerliche Ordnung der freien Liebe gesetzt hatte, beschäftigt sich auch Heinrichs Skizze, Freie Liebe, die er im September 1891 in Berlin aufzeichnete. Er hatte von Prostituierten erfahren, wie sehr diese die »Doppelmoral« verinnerlicht hatten. Eine Frau, »die einen außerehelichen geschlechtlichen Akt begangen hat«, meint eine der Prostituierten, befinde sich immer »im Bewusstsein einer Schuld«. Heinrich Mann schließt aus solchen Äußerungen: »Die Zahl der Frauen der Gegenwart also, mit denen man in wirklicher, d[as] h[eißt] geistig freier, Liebe leben könnte, ist minimal.«[36] Eine solche Frau hat er sich in Haltlos konstruiert, aber so, dass ein freies Liebesverhältnis gerade nicht entstehen kann, weil die junge Frau sich der Doppelmoral unterwirft.

      Eine junge Frau, die mit ihrem Leben gegen die Konventionen der standesgemäßen Ehe protestiert, spielt eine zentrale Rolle in Heinrich Manns kurzer Erzählung Vor einer Photographie von 1892. Der Text ist aus der Perspektive eines konservativen Offiziers erzählt, der ein Mädchen aus der höheren Gesellschaft geliebt hat. Er hat nicht um sie geworben, weil weder er noch ihre Familie die Mittel für eine standesgemäße Ehe hatten. Er zieht sich zurück, lässt seine Geliebte frei. Diese bestraft seinen Rückzug, indem sie eine freie Liebesbeziehung mit seinem Freund eingeht und, als der sie heiraten will, darauf besteht, dass ihre Beziehung frei und illegitim bleibt. Sie wird damit zur eigentlich freien Figur der Erzählung. Indem sie ihren reservierten Abstand bewahrt, treibt sie ihren Liebhaber in den Tod. Er verletzt sich schwer durch einen vermeidbaren Sturz beim Springreiten. Auf seinem Sterbebett gibt er dem Erzähler das Bild seiner Freundin, die im Titel erwähnte Photographie. Nach seinem Tod verliert die junge Frau ihr gesellschaftliches Ansehen. Auch sie bezahlt einen hohen Preis für ihre freie Liebe.

      Die genannten Texte enthalten Unwahrscheinlichkeiten, sie äußern den Wunsch nach einer Akzeptanz freier Frauen, die sich von den Beschränkungen der traditionellen Konventionen gelöst hatten. Heinrich veröffentlichte Haltlos nicht, wahrscheinlich, weil die männliche Hauptfigur zu viele autobiographische Züge trug. Den neunzehnjährigen Bruder muss Heinrichs Thema der freien Liebe sehr beschäftigt haben.

      Im Frühjahr 1891 gibt Heinrich Mann seine Lehre in Dresden auf und tritt mit Erlaubnis des enttäuschten Vaters als Volontär in den S. Fischer Verlag in Berlin ein. Er scheint allerdings nicht viel für Fischer getan zu haben; lieber genoss er die Theater in Berlin und schreibt Theaterkritiken für Die Gegenwart, eine angesehene Zeitschrift.

      Des Vaters Tod und Testament

      Freiheit für ihre literarische Laufbahn erhalten beide Brüder erst mit dem Tod des Vaters am 13. Oktober 1891. Die Todesursache war eine Blutvergiftung, die Folge der Operation eines Blasenkrebses. Der literarisch interessierte Kaufmann hatte nicht verstehen können, dass sein Sohn Heinrich aus der Schule abging und damit auf das Universitätsstudium verzichtete, das dem Vater versagt war. Seine Anweisungen an den Testamentsvollstrecker reflektierten seine Bitternis über die Zerstörung der Pläne, die er für seine Familie gemacht hatte. Obwohl der Vater das Vorbild für Thomas’ Romanfigur Thomas Buddenbrook war, dürfen wir den Chef der Firma Mann nicht mit dem lebensmüden Thomas Buddenbrook vom Ende des Romans verwechseln. Die wirkliche Firma Mann war nicht wegen altmodischer Geschäftsführung im Absteigen. Zwar hatte sie Verluste erlitten, aber im Gegensatz zu Thomas Manns Romanfigur war der ältere Thomas Johann Heinrich Mann in die moderne Geldwirtschaft


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