Thomas Mann. Die frühen Jahre. Herbert Lehnert

Thomas Mann. Die frühen Jahre - Herbert Lehnert


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haben, die leider verloren sind. Heinrich verachtete die Gedichte seines Bruders noch mehr, wenn sie homoerotische Liebe darstellten. Als Beispiel zitiert er in einem Brief an Ewers vom 21. November 1890 aus einem Gedicht des jüngeren Bruders:

      – – als an deiner Brust ich ruhte …

      – als um den Freund den Arm ich schlang,

      und ich in süßer Lust mich wiegte …[12]

      Thomas liebte damals, 1889, seinen Mitschüler Armin Martens und ein Jahr später Williram Timpe,[13] den Thomas Mann »Willri« nannte. Die homoerotischen Motive erinnerten Heinrich an August von Platen, den er im privaten Brief »Ritter vom heiligen Arsch« nennt.[14]

      In einem der seltenen Fälle, in denen Heinrich in den Briefen an Ewers Motive aus einem Gedicht von Thomas nennt, muss es sich um Thomas’ Version eines Gedichtes von Heinrich handeln, das im November 1890 in der Zeitschrift Die Gesellschaft gedruckt wurde. Es heißt Geh schlafen und handelt von dem Selbstmordwunsch einer »gefallenen« und verlassenen jungen Frau, die sich der Verachtung der Mitwelt ausgesetzt fühlt.[15] Auch Thomas dichtet von einer Gestalt, die sich ertränken will,[16] – vielleicht beschreibt er einen vergeblich liebenden Jungen.

      Heinrich entwickelt einen Heilungsplan für den leidenden Bruder:

      Mein armer Bruder Tomy. Lass ihn nur erst in das Alter kommen, wo er unbewacht und – bemittelt genug ist, seine Pubertät zum Ausdruck zu bringen. ’ne tüchtige Schlafkur mit einem leidenschaftlichen, noch nicht allzu angefressenen Mädel – das wird ihn kurieren. Sage ihm das aber nicht. Ironisiere die Geschichte; das hilft. Nur nichts tragisch ernst nehmen! Er will »meine Ansicht« durch dich wissen. Sage ihm also das inhaltsschwere Wort »Blödsinn«. Ich denke, das genügt.[17]

      Der zynisch-herablassende Ton, in dem Heinrich über die Bemühungen seines jüngeren Bruders schreibt, wirkt verstörend. Ewers wird den Auftrag Heinrichs dem Sinne nach ausgeführt und Thomas mitgeteilt haben, wie wenig Heinrich dessen poetische Versuche schätzte. Selbst wenn Ewers dies schonend tat, muss die Enttäuschung bitter gewesen sein, und wir können annehmen, dass sie nicht die einzige war. Heinrichs Abwertung des noch vierzehnjährigen Bruders dürfte lange, vielleicht lebenslang, nachgewirkt haben, auch, wenn der jüngere Bruder dem Vorbild des älteren weiter auf dem Weg in den Schriftstellerberuf folgte. Von Störungen während der Jugend der Schriftsteller-Brüder hat Katia Mann berichtet: Ihr Mann habe ihr erzählt, er habe als Junge mit Heinrich ein Jahr lang nicht gesprochen.[18]

      Als Thomas achtzehn Jahre alt wurde, änderte sich das Verhältnis. Heinrich ließ den jüngeren Bruder an seinem Studium Schopenhauers und Nietzsches teilnehmen. Ein früher Nietzsche-Einfluss ist erkennbar in Thomas Manns Heinrich Heine, der »Gute«, einem Essay, der ganz am Anfang von Thomas’ Laufbahn als Schriftsteller steht und den wir näher betrachten werden. Nietzsches Moralkritik ist ein fortschrittliches Element in Thomas Manns Denken, das im Gegensatz steht zu dem konservativeren zeit- und raumlosen ›Willen‹ Schopenhauers. Die Welt in Thomas Manns Werk wird weder ausschließlich von Nietzsche noch von Schopenhauer bestimmt; sie kann Widersprüche aufnehmen.

      Während die moderne Naturwissenschaft die Skepsis gegen den biblischen Schöpfungs-Mythos bestärkte, orientierte die Mehrheit der deutschen akademisch Gebildeten ihr modernes Denken an der rechten oder der linken Hegel-Nachfolge: Die Konservativen beruhigte Hegels Staatsphilosophie, nach der das Wirkliche vernünftig ist, und die Umstürzler, sowohl die Marxisten als auch die präfaschistischen Nationalisten, nahmen Hegels dialektische Geschichtsphilosophie als ideologische Rechtfertigung für ihre Ziele. Thomas Mann behielt lebenslang Sympathie für Schopenhauers Willenslehre, aber sie war ihm ein Kunstwerk, eine Erfindung, mit der man viel erklären konnte, ohne dass das Erklärte ihm absolute Wahrheit war.

      Weil Schopenhauer sein Konzept des ›Willens‹ für das »Ding an sich« erklärte, lag die Versuchung nahe, den zeit- und raumlosen ›Willen‹ für das Ganze der Welt zu nehmen: als Pantheismus. Schon früh hat Thomas Mann Nietzsches Schopenhauer-Kritik in Zur Genealogie der Moral zur Kenntnis genommen. Die Widersprüche hinderten ihn nicht, von beiden zu nehmen, was er brauchte.

      Heinrich Mann »überwindet«

      den Naturalismus

      Ende 1890, dem ersten Jahr seiner Dresdener Zeit, gewinnt eine neue literarische Mode Heinrichs Aufmerksamkeit. Er liest den Roman Die gute Schule (1890) des Österreichers Hermann Bahr, in dem, wie er Ewers schreibt, die Psychologie »aufs Höchste getrieben« sei. Er fühle sich geistesverwandt mit Bahr und lobt ihn, weil er »so ganz in der Moderne lebt«.[19] An die Stelle realer und wissenschaftlicher Genauigkeit solle eine Psychologie der fiktiven Figuren treten. Heinrich setzte die neue Mode sofort um in seiner Novelle.[20] Die neue Schreibweise wirkt als nervöser Impressionismus, der statt »Sachenstände« »Seelenstände« zeigt.

      Bahr, der in Paris gelebt hatte, empfahl als moderne Schriftsteller Joris-Karl Huysmans, Maurice Barrès, Maurice Maeterlinck, Paul Bourget. Heinrich Mann nahm Bourgets Romane zum Vorbild sowie dessen viel gelesene Essays über moderne Schriftsteller, die 1883 als Buch unter dem Titel Essais de psychologie contemporaine zusammengefasst wurden.[21] Paul Bourget verstand sein 19. Jahrhundert als Spätzeit. Dekadenz sei die Modernität des glaubenslosen Lyrikers Charles Baudelaire. Bourgets Modell für die Zeit des Absturzes in den Verfall war das spätrömische Reich, bevor die germanischen Barbaren es zerstörten. Patrizische spätrömische Intellektuelle trugen zum Untergang ihres eigenen Reiches bei, indem sie sich von ihrem Staat abwendeten.[22] Die dekadente Kunst Bourgets will sich nicht wehren gegen die Stärke der Barbaren, ebenso wenig wie Athen den rauen Mazedoniern gewachsen war. Ihre Zukunft findet die Kunst des Verfalls in jungen Künstlern, die das Besondere schätzen. Weil die Dekadenten in ihrer eigenen Welt leben, teilen sie nicht die gängigen Vorurteile und entwickeln eine allseitige Toleranz.

      Paul Bourget wählte Ernest Renan, einen Religionswissenschaftler, als Beispiel für die Fähigkeit, sich in viele Glaubensformen einzufühlen, sie gelten zu lassen.[23] Diese Toleranz hat auch im modernen Roman einen Platz. Renan hatte, wie Baudelaire, seinen katholischen Glauben aufgegeben, ohne ihn durch eine Ersatzreligion zu ersetzen. Bourget schätzte an Renan, dass er nicht-christlichen Glaubensformen einen religiösen Wert zugestand. Die Kunst, sich in andere Menschen einzufühlen, nennt er »Dilettantismus«, ein Wort, das ursprünglich wohlhabende Menschen bezeichnete, die Künstlerisches leisteten, ohne von ihren Produkten leben zu müssen. Diese Herkunft hängt dem Begriff noch an: die Dilettanten Bourgets sind oft die Söhne erfolgreicher Väter, die Kunst genießen, aber selbst nicht mehr kreativ sind. Einmal unterscheidet Bourget die modernen Dilettanten von älteren, vielseitig begabten Künstlern wie Leonardo, Montaigne, Shakespeare. Diese waren kreativ, die modernen sind es kaum noch.[24] Der Dilettantismus ist ein Begriff, der zwischen dem Positiven, der Sehweise des Künstlers und dem Negativen, der fehlenden oder schwindenden Kreativität, schillert.

      Modern ist auch der Kosmopolitismus, für den der Bourget der Essais den vielgereisten Romanschriftsteller Stendhal (Marie-Henri Beyle) als Beispiel hinstellt.[25] Kosmopolitismus, Multiperspektivismus, die Einfühlung in fremde Welten, gilt als eine Form des Dilettantismus. Mit seinem Roman Cosmopolis (1892) wendet Bourget sich gegen die Praxis des modernen Dilettantismus zugunsten konservativer Werte. Am Ende des Romans empfiehlt ein Altgläubiger einem kosmopolitischen modernen Dilettanten die Rückkehr zu den Sicherheiten des katholischen Glaubens.

      Eine Kunst der Dekadenz, die sich wenig um Fortschritt in die Zukunft kümmerte, war attraktiv für den Kaufmannssohn, der in die Kunst entlaufen war. Aber für die Praxis des dilettantischen Kosmopoliten reichte Heinrichs kleine geerbte Rente nicht.

      Ich führe das kosmopolitische Leben so gut wie es bei so beschränkten Mitteln, wie die meinen sind, angeht. Ich pflege die verschiedenen Kultursprachen, lebe das Leben der verschiedenen Länder, genieße überall die eigentümliche Kunst; das genügt jedoch nicht. Ich bin an kleine bürgerliche Pensionen gebunden […]. Mein Gesichtspunkt ist kein freier, über den Interessen und unrealisierbaren Wünschen stehender, es ist der der mehr oder weniger leeren Tasche, der durch alle Einbildungskraft und den möglichen Dilettantismus niemals so weit korrigiert werden kann,


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