Thomas Mann. Die frühen Jahre. Herbert Lehnert

Thomas Mann. Die frühen Jahre - Herbert Lehnert


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1894 von einem kaum bekannten Münchener Verlag gedruckt und wenig beachtet.

      Heinrich kam zurück aus Florenz und Viareggio, als Thomas im März 1894 aus Lübeck in München ankam. An der Korrektur des Romans des älteren Bruders hat Thomas sich sicher beteiligt. Thomas hatte keine Pläne für einen Roman. Er war mehr interessiert an Heinrichs unveröffentlichter Erzählung Haltlos und deren Thema der freien Liebe. Die Brüder Heinrich und Thomas verstanden sich jetzt gut. Die Familie war 1894 in München vollständig: die Mutter, Heinrich, Thomas, Julia, Carla und der vier Jahre alte Viktor. Nach damaligem Recht war Thomas Mann noch nicht volljährig; seine Vormünder hatten über seine Berufsausbildung zu bestimmen. Die Lehre in einer Münchener Versicherung, die die Vormünder für Thomas vereinbart hatten, fand dieser langweilig. Stattdessen wollte er ein Gasthörerstudium am Münchener Polytechnikum (heute Technische Universität) aufnehmen, um sich auf den Beruf des Journalisten vorzubereiten. Mit Hilfe eines Rechtsanwalts (Essays III, 181) konnte er den Vormund Krafft Tesdorpf abwehren, der vermutlich ein Studium der Journalistik verboten hatte, weil es unvereinbar war mit dem Willen des verstorbenen Vaters. Im Juni 1896 wurde Thomas Mann volljährig und war der Aufsicht der Vormünder entwachsen. Von Thomas Manns abgebrochenem Studium wird ein eigenes Kapitel handeln.

      1894 schrieb Thomas Mann Gefallen. Die Erzählung ist inspiriert von der Kritik junger Schriftsteller an den patriarchalischen Regeln, die damals das Verhältnis der Geschlechter bestimmten. Die deutsche Öffentlichkeit wurde zu der Zeit bewegt von der Diskussion der rechtlichen Stellung der Frau in den Entwürfen für das Bürgerliche Gesetzbuch. Deutsche Frauenvereine protestierten 1894 gegen den Entwurf, der zwar der alleinstehenden Frau gleiche Rechte gab wie alleinstehenden Männern, jedoch die Ehefrau nach alter patriarchalischer Gewohnheit weiterhin dem Ehemann und Familienvater rechtlich unterwarf.[144]

      Konflikte mit den traditionellen ›guten Sitten‹ spielten als Themen eine große Rolle in der europäischen Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. La dame aux camélias (Die Kameliendame) von Alexandre Dumas dem Jüngeren, erschien 1848 als Roman, dann als Drama, das 1852 uraufgeführt wurde, und aus dem 1853 die Oper von Giuseppe Verdi, La traviata hervorging. Als Bühnenstück hielt sich Die Kameliendame, besonders, wenn Sarah Bernhardt die Titelrolle spielte. Der Roman Manon Lescaut des Abbé Prévost war 1731 erschienen, auf ihm beruhen die Libretti für die französische Oper Manon (1884) von Jules Massenet und für Giacomo Puccinis Oper Manon Lescaut (1893). Nietzsche pries 1888 in Der Fall Wagner die Oper Carmen von Georges Bizet (1875). Prostitution war Thema in George Bernard Shaws Stück Mrs. Warren’s Profession, gedruckt im Jahr 1893. Eine Aufführung durfte erst 1902 stattfinden. Émile Zolas Roman Nana (1880), über den Aufstieg einer Prostituierten, blieb lange ein Muster für einen gewagten naturalistischen Roman. Die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts empfand die Moral der bürgerlichen Ehe als ungenügend für die Natur der Sexualität. Dieses Ungenügen war ein Thema in Heinrichs Haltlos gewesen. Auch der neunzehnjährige Thomas zweifelte an der bürgerlichen Ehe-Moral und hatte eine natürliche Sehnsucht nach freier Liebe, hetero- oder homoerotischer Art. Sein Liebhaber sollte nicht so dekadent und haltlos sein wie derjenige in Heinrichs unveröffentlichter Novelle.

      Thomas Mann war eine Weile stolz auf Gefallen, aber nicht lange. Der Autor nahm den Text nie in eine Sammlung seiner Erzählungen auf und nannte ihn schon 1896 »neunzehnjährig« (21, 68). Als er 1910 frühe Erzählungen an den Germanisten Ernst Bertram schickte, wertete er Gefallen ab.[145] 1940, in der Vorlesung »On Myself« in der Universität Princeton, nannte er die Erzählung ein »schreiend unreif[es]« wenn auch, »vielleicht nicht unmelodiös[es] Produkt« (GW XIII, 134). Sein negatives Selbsturteil hat sich als Vorurteil gehalten.[146] Es lohnt sich aber, das kleine Werk wieder in den Kanon von Thomas Manns Erzählungen aufzunehmen.

      Schon vor der Veröffentlichung von Thomas Manns Erstlingswerk war eine Erzählung mit dem Titel Gefallen! erschienen. Ihr Verfasser, Hans Schliepmann, veröffentlichte sie 1893 in der Freien Bühne, der Zeitschrift des S. Fischer Verlages.[147] Der Text behandelte den vergeblichen Versuch eines Studenten, eine Prostituierte, eine gefallene Bürgerliche, zu reformieren. Dagegen geht Thomas Manns Gefallen von einer freien unbelasteten Liebe aus, entwickelt eine ganz andere Handlung als die Schliepmanns.[148]

      Gefallen spielt in dem Atelier eines Malers, in das der Gastgeber einen dreißigjährigen Arzt, einen jungen Studenten und den Ich-Erzähler eingeladen hat. Der Erzähler nimmt sich Zeit, das seltsame Atelier zu beschreiben. Der Raum sei mit Kunstwerken und kunstgewerblichen Gegenständen aus verschiedenen Weltgegenden »in schreienden Zusammenstellungen« beladen, die »gleichsam auf sich selber mit Fingern wiesen« (2.I, 14). Die eklektische Stillosigkeit ist ein Signal: Die Moderne ist kosmopolitisch, glaubens- und haltlos, so wie Paul Bourget den Dilettantismus beschrieben hat. Feindlich gegen Kirche und Glauben äußert sich der Älteste in der bohemischen Gruppe, der Arzt Dr. Selten, dessen scharfe Ironie sich beständig lustig macht über den großen, altertümlich geschnitzten Kirchenstuhl, auf dem er sitzt. Er hat es sich zum Prinzip gemacht, das »von der betreffenden Regie da oben wenig umsichtig inszenierte Erdenleben völlig frag- und skrupellos zu genießen […]« (2.I, 15).

      Das eklektische Atelier kann man als Anspielung auf Nietzsches zweite Unzeitgemäße Betrachtung: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (1874) lesen, die die blinde Sammelwut des modernen historischen Bewusstseins beklagt. Sie lasse keine Richtung erkennen und entwerte alle Maßstäbe; kulturelle Indifferenz behindere wahre Kultur (KSA 1, 268). Die historische Erziehung am Gymnasium und an der Universität habe der Jugend die Zukunft »entwurzelt«, wenn sie den »Cynismus« einer bloßen »Hingabe der Persönlichkeit an den Weltprozess« empfehle (KSA 1, 295, 312). Junge Menschen fühlen sich nicht mehr an den traditionellen bürgerlichen Lebensstil gebunden. Sie wollen in freier Liebe die traditionelle Sexualmoral ignorieren. Aber dem Liebespaar in Thomas Manns Erzählung gelingt das neue Leben nicht. Der Binnen-Erzähler und seine Geliebte »fallen« am Ende; die junge Frau verkauft sich teuer, der Mann verfällt in eine Libertinage, in der sein Genuss durch Hass verfälscht ist. Thomas Manns Gefallen erzählt vom »Verfall« der alten wie der neuen Sitten, passt in die Mode der Dekadenz.

      Die Ungerechtigkeit der alten Sexualmoral vertritt ein junger Student der Wirtschaftswissenschaft, der nach dem Schriftsteller Heinrich Laube benannt ist. Von ihm hatte Thomas Mann in Heinrich Heines Die romantische Schule gelesen, er habe ein »große[s] flammende[s] Herz[ ]«.[149] Der Student Laube kämpft für eine Erneuerung der Geschlechter-Beziehungen, gegen die sexuelle Doppelmoral zu Ungunsten der Frau. »Ist der Mann nicht gerade so gut gefallen?«, fragt er (2.I, 16). Diese Frage hatte sich auch der junge Mann in Heinrichs Haltlos gestellt, nachdem er ein Bordell besucht hatte.

      Seltens Geschichte, wie er als junger Student von dem freien Liebesverhältnis mit einer Schauspielerin enttäuscht wurde, soll Laube von seinem Einsatz für die Emanzipation der Frauen abbringen. Mit seiner Erzählung stellt Doktor Selten die Frage erneut, die implizit Heinrichs Haltlos zugrunde lag: Kann es eine naive Beziehung zwischen den Geschlechtern geben, die nicht von den bürgerlichen Konventionen und dem Geldbesitz der Bürger abhängig ist? In der 1894 bestehenden patriarchalischen Gesellschaftsordnung, die Frauen der Oberschicht von allen höheren Berufen ausschloss, bleibt die Frau von ihrem Mann oder ihrem Vater abhängig. Schauspielerinnen sind Ausnahmen.

      Der Protagonist war gutmütig und verträglich, der vollendete gute Kerl, »der Liebling aller seiner Kameraden« (2.I, 17). Den Begriff »guter Kerl« gibt es auch in Heinrichs Novelle. Deren Hauptperson überlegt nach einer Nacht mit seiner Freundin, dass er sich nicht an sie binden will. Wenn er sich verpflichtet gefühlt hätte, sie zu heiraten, so wäre er ein »guter Kerl« gewesen im Sinne der herrschenden Moral. Ein »guter Kerl« ist ein an die gewöhnliche Ordnung angepasster Bürger.[150] Der verliebte Student in Gefallen kümmert sich nicht um die bürgerlichen Konventionen. Er wird ein »besserer Kerl als jemals«, nachdem er seine Geliebte gewonnen hat (2.I, 35). Seinen Trieb empfindet er als Notwendigkeit.

      Er fühlte, dass irgend ein selbständig überlegter Wille gegen diesen still-mächtigen Befehl sein Inneres nur in wehevollen Widerstreit versetzt hätte. Nachgeben – nachgeben; es würde das Richtige geschehen, das Notwendige. – (2.I, 33)


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