Selbstverständlich ist nichts mehr. Hans Bürger
nur faulenzten. Damit sollte ein klares Nein zur Sklaverei ausgedrückt und diese Hierarchie in der Gemeinschaft der Christen aufgelöst werden, etwa beim gemeinsamen Essen. Es sollten eben nicht die einen auf das Essen warten, das die anderen zubereitet hatten, sondern: Wer nicht gearbeitet hatte, sollte auch nicht mitessen dürfen. Im Grunde war das ein Aufruf zur sozialen Gleichberechtigung und Gerechtigkeit.
Abgesehen von diesem „historischen“ Einwand wird Faulheit wohl bei wenigen ein echtes Lebensziel sein. Kaum jemand wird sich zeit seines Lebens freiwillig ausschließlich zwischen Bett und Küche bewegen wollen. Fällt die Arbeit einmal tatsächlich weg oder auch nur zu einem großen Teil des bisher gewohnten Umfanges, wird für viele in der westlichen Welt auch der Sinn wegfallen. Auch wenn sie das anderen gegenüber nur selten zugeben werden.
Familie, Gesundheit, eine gesunde Umwelt und der Weltfrieden – deshalb bin ich hier, so werden zwar in den letzten Jahrzehnten Fragebögen ausgefüllt, aber im sozialen Vergleich sind es dann doch der Beruf, die hierarchische Ebene in diesem sowie Einkommen, Immobilie, Auto, Urlaubsdestinationen, Kleidung und das nicht länger als vor einem halben Jahr erworbene Smartphone, die zählen.
Das wäre in vielen Fällen wohl anders, würden wir – auch mit unserer Familie – auf einer einsamen Insel leben. Sobald der soziale Wettbewerb hinzukommt, ist es mit der Inselmentalität schon wieder vorbei. Tatsächlich schaffen in den letzten Jahren immer mehr Menschen die Fokussierung auf Glück, Lebenszufriedenheit und Sinn – auch mitten im sozialen Wettbewerb –, aber dennoch sind diese Aus- und Umsteiger in ihren selbst fabrizierten Holzhütten im Wald oder in Kleinhäuschen in Kreta nach wie vor in einer verschwindend kleinen Minderheit. Da nützen auch die seit der Jahrtausendwende gefühlt jährlich 1000 neuen Ratgeber zum Rückzug – am besten gleich ganz in sich selbst – wenig bis nichts.
Es wird jedem von uns – vor allem jenen, die am Anfang oder mitten im Arbeitsprozess stecken – nichts anderes übrig bleiben, als sich mit sich selbst darüber im Klaren zu werden, was kommt, wenn die Lohnarbeit geht.
Was kommen soll.
Was geschieht, wenn die direkte Abhängigkeit vom Arbeitgeber wegfällt. Was auf den ersten Blick nur zu Erleichterung führen kann, gestaltet sich auf den zweiten Blick allerdings viel komplexer. Geldlohn gegen zeitlich begrenzte Zurverfügungstellung von körperlicher oder geistiger Arbeitskraft schafft auch Sicherheit, halbwegs stabile Rahmenbedingungen im wackeligen Weltgefüge und die Möglichkeit zum sozialen Aufstieg.
Arbeitgeber oder gar Selbstversorger, wie sie zum Teil in der Dritten Welt noch immer gang und gäbe sind, müssen sich diese Fragen nicht stellen, was dennoch nicht bedeutet, dass sie das „Wozu das alles?“ nicht auch zusehends beschäftigt.
Womit wir uns dem Untertitel dieses Buches annähern. Der Suche nach Sinn in einer kapitalistischen Welt, der immer mehr die Arbeit ausgeht. Oder: Sinn statt (nur) Gewinn. Gemeint ist selbstverständlich nicht nur der Unternehmensgewinn. Sondern das, was wir im herkömmlichen Sprachgebrauch neben dem Gewinn in Firmen darunter verstehen: Gewinn von mehr Gütern, Gewinn von sozialem Aufstieg oder Prestigegewinn (durch die Anschaffung von Kleidung, Smartphone, Auto, etc. – vorausgesetzt, das Produkt wird von anderen oder professionellen Marketingstrategen gerade jetzt als wirklich „in“ gebrandet).
Was wird sein, wenn Gewinn in diesem Sinne, beziehungsweise präzise formuliert: permanenter Gewinnzuwachs, nicht mehr möglich ist? Wenn uns das Gegenteil treffen wird? Weniger Arbeitsvolumen in der westlichen Welt, also weniger Nachfrage nach dem Produktionsfaktor menschliche Arbeitskraft, weniger Wirtschaftswachstum oder überhaupt kein Wachstum, was aber die feststehende Basis des Kapitalismus ist. Aber ohne Wachstum kein Kapitalismus. Warum das eigentlich so ist, werfen Sie ein?
Nur ein paar Zeilen dazu. Ein Unternehmen, das am Beginn steht, braucht neben Eigenkapital in der Regel auch Fremdkapital, und das nicht zu wenig. Es braucht also einen Kredit- und/oder einen Eigenkapitalgeber. Der verlangt Zinsen und/oder einen Teil des späteren Gewinns. Das gilt nicht nur bei Erstinvestitionen, sondern auch bei Erweiterungsinvestitionen. Eine neue Firma arbeitet also auf Pump und muss ab einem gewissen Zeitpunkt dauerhaft Gewinne garantieren können, damit Banken und Investoren bereit sind, Kapital vorzuschießen. Dauerhafter Gewinn bedeutet dauerhaftes Wachstum. Wäre der Kapitalismus ein Kreislauf, bei dem man nach jeder Periode wieder am Anfang landen würde, würden die privaten Unternehmen immer nur das einnehmen, was sie vorher an Löhnen und Investitionen eingesetzt hätten. Es entstünde dann eben keine Entlohnung des Kapitals, und keine Bank der Welt würde jemals wieder einen Vorschuss leisten. So oder so ähnlich, aber natürlich umfangreicher und detaillierter wird Kapitalismus auf Hunderten Seiten und in unzähligen Büchern definiert – dass es Kritiker ganz anders sehen und durchaus eine Ökonomie ohne Wachstum für realistisch halten, ist wieder eine andere Geschichte.
Auch eine andere Geschichte sind die Grenzen, die unser Planet dem ewigen Wachstum auf immer drastischere Weise entgegenhält. Ob nun die ökologischen Zäune, der in seinen Möglichkeiten begrenzte Mensch selbst, weil er mit dem Tempo des Lebens nicht mehr mithalten kann und ihm nicht nur Geld, sondern auch Zeit fehlt, um weitere Güter überhaupt noch konsumieren, geschweige denn genießen zu können, oder die immer weitgehender eingesetzte Digitalisierung der Arbeitswelt, Roboter oder Künstliche Intelligenz, wir werden uns schon aus diesen Gründen überlegen müssen, was der Mensch mit sich anfängt, wenn er in dieser neuen Welt seinen Platz finden will.
Wie also könnte er theoretisch auch leben? Gäbe es ein Leben mit mehr Sinn statt Tempo? Hat es überhaupt einen Sinn, ein „So ginge es auch“-Modell in der reinen Theorie zu beschreiben?
Hätte der Autor diese Fragen nach langem Überlegen letztendlich nicht doch mit „Ja, es hat einen Sinn“ beantwortet, wäre dieses Buch nicht entstanden. Und so hat er einige neue, vor allem aber teils jahrtausendealte Lebensweisheiten wieder ausgegraben, zusammengefasst und daraus theoretische Lebensmöglichkeiten gebastelt.
Das Buch wurde also geschrieben. Von Ende 2018 bis März 2020.
Und dann kam Corona.
Zeitgleich mit der Fertigstellung des Buches wurden in Österreich die sehr weitgehenden Ausgangsbeschränkungen beschlossen. Und schon nach wenigen Tagen wurde das für das Buch skizzierte Menschenbild – entworfen für eine Zeit, wenn die Arbeit als ein oder bei vielen der Lebenssinn wegfällt – Realität.
Plötzlich hatten alle Zeit. Zeit für sich, für die Familie, für Freunde, für Nachbarn. Eine Höflichkeit im Umgang miteinander war nicht Ausnahme, sondern fast schon Regel. Und die Menschen taten Dinge, die sie nach eigenen Aussagen, Jahre oder gar Jahrzehnte aufgeschoben hatten. Sie schlenderten durch die Natur, bastelten mit den Kindern oder suchten am Dachboden nach Juwelen.
Im letzten Kapitel soll darauf auch näher eingegangen werden, nicht auf die schreckliche COVID-19-Pandemie an sich, aber auf das, was dieser erzwungene Rückzug, der verordnete Stillstand, in uns allen ausgelöst hat.
Die Frage „Wozu das alles?“ – und damit wieder zurück zum ursprünglichen Sinn dieses Buches – erlebt seit Ende des vorangegangenen Jahrhunderts eine Renaissance. Zunächst in der Glücksforschung. In immer mehr Ländern wurde und wird versucht, mittels viel zu langer Fragebögen das Lebensglück zu erfragen, stets gipfelnd in der Parole: „Wir müssen Bhutan werden.“ Das buddhistisch gelenkte Königreich am Rand des Himalaya gilt weithin als weltweites Zentrum des Glücks, und seit den 1960er-Jahren wird das Bruttonationalglück in diesem Land in der Verfassung festgeschrieben. Sinngemäß heißt es dort: Nur eine Regierung, die für ihr Volk Glück schaffen kann, hat eine Existenzberechtigung. Tut sie das nicht, hat sie keinen Grund, zu regieren.
Auch die Ratgeberliteratur sprengte alle Rahmen des großen Glücks, das in nicht immer seriösen Varianten auf Zehntausenden Seiten niedergeschrieben wurde.
Doch dann ging dem Glück die Luft aus.
Glück sei nicht alles im Leben, warnten plötzlich die Philosophen. Ein Berufszweig, der Jahrzehnte geschwiegen und sich in die Denkerzimmer der theoretischen Philosophie, meist in Universitäten, zurückgezogen hatte, wagte sich wieder an die breite Öffentlichkeit. Die Philosophie erlebt in ihrer Ausprägung