Selbstverständlich ist nichts mehr. Hans Bürger

Selbstverständlich ist nichts mehr - Hans Bürger


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aber käme nach dem Kapitalismus? Würde das neue System einen Sinn ergeben?

      Die Sinnfrage wird sich, ob wir das nun wollen oder nicht, durch alle Gesellschaftsebenen ziehen. Von uns als Einzelkämpfer bis zum multinational tätigen Konzern.

      Ein Kapitel in meinem ersten Buch (2009), welches ich zusammen mit dem weit über den deutschen Sprachraum hinaus bekannten Ökonomen Prof. Kurt W. Rothschild geschrieben habe, lautet: „das Ende der Selbstverständlichkeiten“. Heute, zehn Jahre später, ist es sinngemäß zum Titel dieses Buches geworden.

      Jedenfalls erscheint heutzutage noch viel weniger als selbstverständlich als damals und erst recht gegenüber den 1960er-/1970er-Jahren. Was gilt denn noch? Was hält denn noch? Ehe, Beruf, politische Koalitionen, der Glaube an eine bestimmte Religion? Und dazu der Glaube an ein Produkt – an ein Objekt der Begierde am Gütermarkt? An eine Form des Zusammenlebens, einen Gott, einen Arbeitgeber, eine Stammpartei, eine Automarke, ein Kleidungsgeschäft, eine Skimarke. Ich könnte sie alle aufzählen, diese „Das und sonst nichts“-Kaufentscheidungen von damals, auch die meiner Eltern. Vom Kleidungsgeschäft über das Wirtshaus bis zur Automarke.

      Drei fixe Mahlzeiten am Tag.

      Zwei oder drei fixe Radio- und/oder Fernsehsendungen.

      Fixe Sporteinheiten – zumindest bei einem Teil der Bevölkerung.

      Ein Kinotag. Ein Einkaufstag. Und – erzwungenermaßen – in der Zeit der Ölkrise: der autofreie Tag. Und heute? Vielfältige Möglichkeiten menschlichen Zusammenlebens. Zweifel an Religionen, mehrere, einer oder kein Arbeitgeber, keine Stammpartei, mehrere Automarken, Hunderte Kleidungsanbieter, nicht ganz so viele Skimarken. Große, zig kleine oder gar keine Mahlzeiten, keine fixen Radio- und/oder Fernsehsendungen, kaum sportliche Betätigung oder nur dann, wenn zwischen 06:00 Uhr und 07:00 Uhr oder ab 20:00 Uhr Lust und Zeit bleiben. Kein spezieller Kinotag, sondern irgendwann, wenn es die Zeit zulässt. Kein geplanter Einkaufstag, sondern shoppen zwischendurch. Keine acht Stunden Schlaf.

      Gefragt sind Entscheidungen. Nicht eine. Dutzende. Und das innerhalb von 24 Stunden. Sechs Stunden Schlaf weggerechnet (im Schnitt – variabel).

      Schon 1994 (!), der Mobiltelefonwahn war noch ein Marktbaby, wird ein interessantes Wort geboren: die (mobile) Multioptionsgesellschaft (als Titel eines Buches des damals 53-jährigen Schweizer Soziologen Peter Gross, Co-Autor Stefan Bertschi). Gross schreibt angesichts der auf den Markt kommenden Mobiltelefone schon vor einem Vierteljahrhundert – lange vor dem unmittelbaren Siegeszug des Handys und noch viel länger vor dem ersten Smartphone – von einer „endlosen und kompetitiven Ausfaltung neuer Möglichkeiten“ in modernen Gesellschaften. Und dass die Ausfaltung neuer Möglichkeiten nicht nur die Regale der Supermärkte und das Angebot an Dienstleistungen betreffe, sondern auch das Reich des Geistes. In keiner Sphäre sei der Bewohner einer solchen Gesellschaft vor den Optionen geschützt, die sich ihm darbieten würden. Dieser Bewohner sei aber nicht Opfer, sondern der Wille zum Mehr und zur Steigerung sei im Herz des modernen Menschen implantiert. Rund 20 Jahre später wird der bekannte deutsche Soziologe Hartmut Rosa von der „Steigerungslogik“ sprechen.

      Dennoch kann in einem Punkt auch widersprochen werden. Implantiert oder eingemeißelt, wie Gross es an anderer Stelle auch formuliert, war dieser Wille zur Steigerung wohl nur in wenigen von uns. Zuerst mussten wir die Möglichkeiten sehen. Um das von permanent neuem Konsum geprägte, kapitalistische System aufrechterhalten zu können, mussten menschliche Bedürfnisse erzeugt werden, die eben nicht vorhanden waren. Natürlich kann man auch anhand dieser Betrachtungsweise nicht von „Opfer“ sprechen, aber letztlich unterliegt der menschliche Wille auch immer den Gegebenheiten des persönlichen Umfelds. Zumindest darf man es als sehr schwierig bezeichnen, die Kinder von heute komplett ohne Smartphone und Tablet oder ohne sonstige mobile Computerwelten durchs Leben ziehen zu lassen, will man doch seine Lieben abseits der Erziehung zu kritischem Konsumgeist auch nicht automatisch in eine Außenseiterisolation abgleiten lassen.

       Konsumentenverwirrung

      Fragt sich nur, ob dann, auch bei Erwachsenen, der einem zugegebenermaßen schon seit der Aufklärung innewohnende ständige Drang nach Mehr noch als sinnvoll erlebt wird. Das darf vor allem dann hinterfragt werden, wenn wie in diesem 21. Jahrhundert das „Mehr“ in immer kürzeren Abständen erlebt werden soll. Der Soziologe Peter Gross spricht schon 1994 von der „Consumer Confusion“, einer Konsumentenverwirrung, die man heute im 21. Jahrhundert durch sehr spezielle Marketingmethoden zu verkleinern versucht. Werbesprüche, die nicht nur ins Auge stechen, sondern auch gleich jene Hirnareale ansprechen sollen, die vorher bei Testpersonen in Magnetresonanzröhren oder anderen medizinischen Hochleistungsgeräten getestet worden sind. Die Werbebranche überlässt diesbezüglich nichts mehr dem Zufall. Jeder Werbespruch ist genau durchdacht und soll exakt unser Belohnungssystem im Gehirn treffen.

      Und dennoch geht die Schere zwischen der Lust auf Neues und dadurch Befriedigung erlangen immer weiter auf. Schon allein deshalb, weil die Vielfalt technischer Geräte nicht mehr bedient werden kann. Wobei die Handhabung ohnehin immer mehr in den Hintergrund tritt. Die „Habung“ genügt. Das aktuelle Smartphone des Jahres zu haben, ist mit Sicherheit für viele schon wichtiger geworden, als es in seiner Komplexität zu bedienen, geschweige denn verstehen zu wollen.

      „Das Mobiltelefon ist eine Art Haltegriff der kommunikativen Vergewisserung in der modernen Welt“4, formulierte es Gross 2006. Aber wird dieser Haltegriff auch als sinnvoll erlebt? Interessanterweise findet sich in dem Wort Vergewisserung auch das Wort „Gewissen“ eingebettet. Man darf also fragen, welche Rolle das schlechte Gewissen spielt, wenn der Smartphone-Besitzer nicht „on“ ist. Alle sieben bis acht Minuten, Tendenz von Jahr zu Jahr sinkend, starren wir mitten in einem Gespräch mit einem real vor uns sitzenden oder stehenden Menschen oder während einer anderen Tätigkeit plötzlich auf unser kleines teures Mobiltelefon, ob auf einem der mindestens vier bis sechs Kanäle etwas Neues gekommen ist. SMS, E-Mail, WhatsApp, Signal, Wire und mindestens einem Sozialen Medium (Facebook, Twitter, Instagram, Snapchat, TikTok – was auch immer). In Büros ist es in der Zwischenzeit ohnehin üblich geworden, alle Kommunikationsebenen gleichzeitig geöffnet vor sich zu haben, zu Sitzungen kommt das Smartphone natürlich mit. Die Zahl derer, die nicht mehr fernsehen, ohne gleichzeitig das Smartphone zu bedienen, steigt übrigens dramatisch an. Und wissen Sie, wie oft Jugendliche mittlerweile mit ihren Augenpaaren zwischen den beiden Medien hin und her wechseln? Im Schnitt alle 15 Sekunden.

      Kommunikation 2020 – wirklich ein Haltegriff? Oder doch eher nachhechelnde Gewissensberuhigung?

       Zeitkrise

      Bei allem „Mehr“ bleibt ein Faktor immer gleich. Die Zeit. Sie beschleunigt sich nicht. Sie tut, was sie immer tut. Sie vergeht einfach. Egal, ob wir eine Stunde aus dem Fenster blicken und vorbeiziehende Wolken beobachten oder ob wir in diesen 60 Minuten drei Produkte online erworben, zwanzig Nachrichten auf vier Kommunikationsebenen gecheckt und filmschauend 20 Laufbandminuten hinter uns gebracht haben.

      Die Zeit ist weg. Nur. Was haben wir als sinnvoll erlebt? Haben wir überhaupt etwas erlebt?

      Der deutsch-koreanische Philosoph Byung-Chul Han spricht von Dyschronie und meint damit ein eher wirres Nebeneinander von Abläufen. „Wenn ich in einem Leben möglichst viele Weltmöglichkeiten umsetzen kann, brauche ich kein Versprechen auf Unsterblichkeit … aber dieses Kalkül ist naiv“5, sagt Byung-Chul Han. Fülle werde mit Erfüllung verwechselt. Schon die griechischen Philosophen haben uns klargemacht: Ohne das Erlebte nicht zu erfahren und ohne das Erfahrene nicht wirklich zu erkennen und zu verstehen, werden wir nicht genießen können. Wenn also all die auf uns einprasselnden Innovationen und Beschleunigungsmechanismen nicht mehr zu verarbeiten sind, setzen Überforderung und Desinteresse ein. Das wiederum führt über kurz oder lang zu innerem Abschalten und der Verweigerung neuer Botschaften und Produkte. Der umworbene Rezipient geht auf „off“. Sinn hat das keinen mehr. Und Unzufriedenheit und Wut wird es schließlich – um nochmals zur Multioptionswelt für


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