Selbstverständlich ist nichts mehr. Hans Bürger

Selbstverständlich ist nichts mehr - Hans Bürger


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Fernsehjournalistin Fabienne Hurst widmete sich in einer Reportage dem verordneten Glück durch Unternehmen, nennen wir es „Motivation Total“, und beschreibt, was in einer deutschen Bäckerei so abgeht.

      In dieser Bäckerei herrscht „Corporate Happiness“. Nicht mittels höherer Löhne, sondern durch Erkenntnisse aus der Verhaltensökonomie. Am auffälligsten ist das seit Jahren so beliebte Gummibändchen am Handgelenk zur Anbringung diverser Botschaften. Auf dem Bändchen der Bäckereimitarbeiter steht: „Stop complaining“. Also: „Hör auf, dich zu beschweren.“ Oder ins Österreichische übertragen: „Sudere nicht!“

      „Ein Bändchen auf dem Weg ins Glück“, kommentiert es die Redakteurin des Beitrages. Aber laut Firmenphilosophie soll das Bändchen nicht tagaus, tagein am Handgelenk herumhängen, sondern dumme Gedanken am Arbeitsplatz verhindern. Das alles ist kein Scherz. Tatsächlich sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aufgefordert, das Bändchen auf das andere Handgelenk zu geben, wenn man sich über etwas aufgeregt oder beschwert hat. Ziel ist es, das Bändchen 21 Tage lang am selben Handgelenk zu tragen. Und zwar 21 Tage in Folge. Das bedeutet dann, dass man sich drei Wochen lang über nichts aufregen oder beschweren musste. Die Idee stammt von einem früheren Finanzmanager und heute – auch von der Großbäckerei – gut bezahlten „Erfolgs- und Glückscoach“.

      In diesem Unternehmen können auch „Happiness“-Punkte gesammelt werden. Mehr Punkte bedeuten einen höheren Rang im Glücksranking der Firma. Natürlich kann man seinen Kontostand schon mal ordentlich aufbessern, wenn man – im Sinne des Firmenglücks – ab und an mal bis 22:00 Uhr noch Dinge erledigt. Schließlich gilt es, den Führenden im Glücksranking vielleicht heuer doch noch einzuholen.

      Moderne Erpressung? Aber nein! Einfach ehrliche Motivation durch den so einfühlsamen Vorgesetzten. Wichtigste Zutat laut Fabienne Hurst: „Die Mitarbeiter sollen nicht merken, dass sie zielgerichtet motiviert werden.“11

      Auch Nils Markwardt sieht das gleichermaßen: „Die vermeintliche Freiwilligkeit ist ein unglaublich effektives, aber unter Umständen auch perfides Instrument der Führung … denn Selbstführung produziert ja relativ wenig Widerstand, weil die Leute oft nicht merken, dass sie geführt werden – oder weil sie es selbst wollen … In dem Moment, wo Mitarbeiter Freunde oder sogar eine Art Familie sind, fällt auch so ein gewisser Spielraum weg, ‚Nein‘ zu sagen.“12

      Anerkennung ist nicht Selbstverwirklichung. Vielleicht auf den ersten Blick. Wer heute mit dem Zug fährt, sieht viele Pendler in Arbeit vertieft. Texte schreibend, Mails beantwortend. Ähnlich im Flugzeug, wenn es sich nicht gerade um einen Ferienflieger handelt. Die Laptop-Benutzer wirken angespannt und ernst. Nicht wirklich glücklich. Aber auch nicht unglücklich. Man fragt sich, gehen diese Leute gerade in sich auf oder verfehlen sie sich gerade? Oder wissen und spüren sie nicht mehr, ob ihnen das, was sie machen, auch inneren Lebenssinn bereitet.

      Wenn etwa der Vorgesetzte anweist: „Gehen Sie doch in den Randzeiten zum Arzt“, dann ist das natürlich sein gutes Recht, aber die ausgesprochene Botschaft ist größer und versteckt sich im Wort Randzeit. Hauptzeit ist Arbeitszeit. Hauptlebenszeit ist Arbeitszeit.

      Arbeit – die größte Selbstverständlichkeit der Welt. Warum eigentlich? Zur eigentlichen Sinnfrage kommen wir erst später, aber eine Vermutung des kanadischen Philosophen Mark Kingwell sei schon an dieser Stelle angeführt. Kingwell fragt sich, warum sich Arbeit als etwas Unvermeidliches präsentiert und gleichzeitig unter Verwendung eines Netzes von Finten und bestimmten Arbeitgebermethoden auch als etwas Angenehmes. Der wichtigste Effekt ziele auf die Verbreitung der Gewissheit ab, dass Arbeit grundsätzlich notwendig sei. „Jeder akzeptiert, dass jeder einen Job haben muss, weil er weiß, dass er einen Job haben muss.“13 Arbeit bringt Ansehen. Mehr Arbeit noch mehr Ansehen.

      „Hatte Jahwe einst den Menschen mit lebenslanger Arbeit für den Sündenfall bestraft, scheint die Arbeit für uns heute selbst der Himmel auf Erden zu sein“14, schreibt die Philosophin Svenja Flaßpöhler.

      Was aber ist, wenn nicht Arbeit ist? Egal, ob nun erzwungenermaßen (weil arbeitslos) oder freiwillig? Die Zeit einige tausend Jahre zurückdrehen und auf eine neue, wieder von der Muße bestimmte Antike hoffen? Für irgendetwas muss es sich doch zu leben lohnen außerhalb von reinen Genusswelten.

      Wir stoßen nun auf eine der wahrscheinlich wichtigsten und ältesten Frage der Philosophie. Was ist das gute Leben?

       DAS GUTE LEBEN

      Das gute Leben.

      Irgendwie haftet diesen in 1,73 Sekunden gelesenen drei Worten etwas Banales an.

      Weit gefehlt.

      Sokrates, Platon und Aristoteles haben in dieser Phrase das eigentliche Ziel der Philosophie gesehen. Gemeint haben sie eine gelungene Lebensführung und dass erst dadurch so etwas wie Lebensglück entstehen könne. Glück ist also das Resultat eines Verhaltens. Wobei Glück keine gute Übersetzung des Wortes ist, um das es tatsächlich gehen soll, das in der antiken Philosophie gemeinte Wort war Eudaimonie (auch Eudämonie, altgriechisch eudaimonía). Oft bleibt Eudaimonie bis heute unübersetzt. Am besten beschreiben würde es in etwa ein „seelisches Gesamtwohlbefinden als Resultat einer gelungenen Lebensführung nach den Anforderungen der Ethik“15.

      Es ist schon merkwürdig. Nach vielen Jahrhunderten der Stille um „das gute Leben“ erlebt es in der Philosophie eine plötzliche Renaissance. Kaum ein Philosoph, kaum ein Qualitätsmedium, egal ob Print, Radio oder Fernsehen, kommt seit Jahren am guten Leben vorbei; an den Universitäten hat dieses eigentliche Ziel der philosophischen Forschung wieder Einzug gehalten, die Studierenden sind begeistert und spüren gute Lebensnähe des jahrzehntelang verstaubten Fachs. Dabei ist das gute Leben ein zentraler Begriff und das Hauptziel der Sozialethik.

      Eine der Expertinnen zu diesem Thema im deutschsprachigen Raum, Univ. Prof. Dr. Dagmar Fenner von der Universität Basel, die sich selbst als Philosophin und Ethikerin bezeichnet, zitiert selbst einen Philosophen: Man habe in den letzten Jahren tatsächlich den „Eindruck gewinnen können, dass die Grundfragen der Ethik auf die Gasse geraten“ seien.

      Und tatsächlich hatte sich diese Suche nach einer wissenschaftlich begleiteten Lebensformel in die Ratgeberliteratur, die Welt der Lebensberater, bis hinein in die Wellnesstempel begeben. Von der Werbebranche gar nicht zu reden. Wie viele Produkte hatten in den letzten Jahrzehnten gleichzeitig ein gutes Leben und körperliches Wohlbefinden – natürlich für mindestens fünf Jahre garantiert – versprochen, wenn man sie doch einfach nur kaufen würde. Ratenzahlung willkommen. Nicht inkludiert: die oft Abertausende Euro teuren Esoterikpakete dubioser Heiler und Lichtgestalten.

      Aber zurück zur Definition. Man bringe eher zwei Philosophen dazu, die gleiche Zahnbürste zu benutzen, als die gleichen Begriffe zu verwenden, schreibt Dagmar Fenner.

      Apropos Zähneputzen. Der deutsche Philosoph Albert Kitzler versteht bezüglich des guten Lebens die Welt schon lange nicht mehr. Für alles Mögliche nehme man sich Zeit, nur für unsere ureigenen seelischen Bedürfnisse nicht. „Im Vergleich schneidet das Zähneputzen besser ab als die Sorge für den eigenen psychischen Haushalt. Wen wundert es? Wer hat uns denn beigebracht, wie wir uns um unser Seelenleben kümmern sollen?“16

      Weshalb sind wir bei der Einhaltung bestimmter Abläufe und Rituale nur so unglaublich streng mit uns, warum stets so erpicht darauf, nur ja nicht von den selbst – oder den Eltern – vorgezeichneten Lebenslinien abzuweichen, wissend, dass es sich selten um tatsächlich Bedeutendes oder gar Existenzielles handelt? Wie wichtig ist in vielen Familien nach wie vor die punktgenaue Einhaltung der Essenszeiten oder gar die auf einen bestimmten Wochentag festgelegte Speise. Spaghetti immer samstags. Ja, warum denn eigentlich? Und man denke nur an die an den Wochenenden und vorwiegend in manchen Land- oder stadtnahen Gegenden zu beobachtenden Pkw-Schlangen samt Sonntagsfahrern vor Waschanlagen.

      Völlig anders geht der Mensch von heute mit seinen ureigenen Bedürfnissen um. Wer nimmt sich Zeit, kurz innezuhalten? Was wäre


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