Selbstverständlich ist nichts mehr. Hans Bürger
man aber nicht so sehen. Man könnte auch sagen: Damals im 16. Jahrhundert hat das begonnen, was nun bald ein halbes Jahrtausend hält.
Die Arbeit macht uns zu dem, was wir sind.
Und das soll nur „positiv“ besetzt sein, wie es uns nun jahrhundertelang eingeimpft worden ist?
Wenn die Berufung tatsächlich der Beruf geworden ist, dann stimmt das, dann kann Arbeit sinnstiftend sein und Freude bereiten.
Aber kann Lohnarbeit das auch?
Die „neuen“ Lohnarbeiter von damals haben das nicht so gesehen. Die eigene Arbeitskraft an einen anderen Menschen zu verkaufen, damit dessen Profit gesteigert werden kann, galt zumindest lange Zeit als entwürdigend.
Mit der Reformation waren übrigens auch Zinssätze möglich, manche Geschichtswissenschaftlicher sehen darin die eigentliche Geburtsstunde des Kapitalismus, bei dem ganz am Beginn des Prozesses ein Kredit steht, der jedoch in einer in der Zukunft liegenden Periode zurückgezahlt werden muss. Wir erinnern uns an den Kreislauf des eingesetzten Kapitals und den permanenten Wachstumszwang. Der deutsche Soziologe und Nationalökonom Max Weber schrieb 1904: „dass unser heutiger Begriff des Berufs religiös fundiert sei“ und „das Ethos des rationalen bürgerlichen Betriebs und der rationalen Organisation der Arbeit“9 der Reformation entspringe.
Aus dem Arbeiten, um zu leben, ist im Laufe der Jahrhunderte ein Leben, um zu arbeiten geworden.
Der Übergang war fließend. Aus dem Muss war offenbar Gewohnheit geworden. Eine der vielen Selbstverständlichkeiten, die wir in den weiteren Abschnitten infrage stellen wollen. Aber konkret erst für das 21. Jahrhundert.
Also führen wir den kurzen historischen Abriss fort und versetzen uns ins 18. Jahrhundert. Mit der Industrialisierung kommt es zu einer Bevölkerungsexplosion. Doch ohne Arbeit kein Einkommen. Männer, Frauen, Kinder – alle müssen in die neuen Fabriken. Die Welt beginnt, schneller zu werden. Vor Zügen mit Dampfmaschinen wird von Fortschrittsgegnern gewarnt. Ab einer Geschwindigkeit von etwa 30 km/h bestünde für den Menschen die Gefahr der Gehirnerweichung. Die Weltproduktion verdoppelt sich in kürzester Zeit. Einen Wert sehen die Arbeiter in ihrem Tun allerdings nicht. Kommt der Lohn, gehen sie nach Hause. Mehr als notwendig zu arbeiten, ist nicht vorgesehen. Die Fabrikanten reagieren so ganz und gar nicht ökonomisch, obwohl angeblich schon damals der freie Markt alles regeln sollte. Ein Satz aus einem Zeitungsartikel zu diesem Thema, der erst vor einigen Jahren erschienen ist, ist mir bis heute in Erinnerung geblieben:
Zur Motivation der Arbeiter senken die Fabrikanten die Löhne.
Das ist wahrlich interessant. Wenn das Angebot sinkt, steigen da nicht die Preise? Wenn sich frustrierte, erschöpfte Arbeitnehmer aus dem Produktionsprozess zurückziehen, könnte ich sie dann nicht mit höheren Löhnen zur Rückkehr motivieren? Könnte man. Muss man aber nicht, wenn man weiß, dass letztlich ohnehin immer mehr in die Fabriken drängen müssen. Dann kann man Männern, Frauen und Kindern auch Hungerlöhne zahlen, denn es wird ihnen, um irgendwie existieren zu können, nichts anderes übrig bleiben, als zu arbeiten. Und zwar immer länger pro Tag. Je niedriger der Lohn, desto länger muss die gesamte Familie in der Fabrik stehen.
Es kommt zur Arbeiterbewegung. Der Druck gegen die Fabrikbesitzer wird immer größer, die Arbeitsbedingungen verbessern sich. Aber halten wir dennoch fest: Am Wert der Arbeit rütteln auch Sozialisten und Sozialdemokraten nicht. Ganz im Gegenteil. In dem Kampflied der sozialistischen Arbeiterbewegung (Text seit 1871), „Die Internationale“, die bewusst als Gegenpol zu rein nationalen Hymnen geschrieben worden ist, heißt es in Strophe 3:
In Stadt und Land, ihr Arbeitsleute, wir sind die stärkste der Partei ’n. Die Müßiggänger schiebt beiseite! Diese Welt muss unser sein;
Kein Platz für Müßiggänger also, und das von österreichischen Sozialdemokraten seit 1868 (!) gesungene „Lied der Arbeit“ endet mit:
So ruft: Die Arbeit sie erhält, die Arbeit, sie bewegt die Welt! Die Arbeit hoch! Die Arbeit hoch!
Einzig in diesem Punkt treffen sich Kapitalisten und Sozialisten. Über die Arbeit lassen wir nichts gehen. Aber auch gar nichts.
Philosophie und Ökonomie machten diese Entwicklung übrigens weitgehend mit. Thomas Hobbes, ein englischer Mathematiker, Staatstheoretiker und bis heute viel beachteter Philosoph, sieht im 17. Jahrhundert die Arbeit als entscheidenden Faktor für soziale Anerkennung, Aufstieg und Vermögen. Mit der in weiten Zügen akzeptierten gesellschaftlichen Gleichberechtigung von Armut und Reichtum ist es vorbei. Und der „Erfinder“ und Begründer der Ökonomie als Wissenschaft, der Schotte Adam Smith, unterscheidet erstmals zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit. Blickt man in die griechische Antike zurück, fallen genau die damals hochgeschätzten „Tätigkeiten“ bei Smith hinab ins weitgehend unproduktive Nichts: politisches Engagement, Beamte, religiöse Gelehrte, auch das Militär und ganz besonders all jene, die danach trachteten, das Volk zu unterhalten: Schauspieler, Sänger, Musiker, Artisten und alle anderen, denen es damals nicht vergönnt war, ihre Künste auszuüben.
Den Tiefpunkt erlebt die Arbeit aber erst im Nationalsozialismus. Der internationale Tag der Arbeiterbewegung wird mit 1. Mai 1933 zum Tag der nationalen Arbeit. Zeitgleich werden die freien Gewerkschaften zerschlagen.
Aber es sollte noch viel entsetzlicher kommen. Als Aufschrift auf den Eingangstoren der nationalsozialistischen Konzentrationslager stand der Satz: Arbeit macht frei. Der Tiefpunkt für den Wert der Arbeit – ein Höhepunkt an Zynismus und menschlicher Entwürdigung. Ist die Arbeit im Werteranking des Menschen 2020 gegenüber dem 17. Jahrhundert dramatisch abgestürzt?
Nicht wirklich.
Ist im Gegenteil nicht nach wie vor
nichts als Arbeit?
„Heute haben wir keine andere Zeit als Arbeitszeit“, schreibt der Philosoph Byung-Chul Han. Den Maschinen des Industriezeitalters seien die neuen, Zwang und Sklaventum hervorbringenden, digitalen Apparate gefolgt. Die dadurch entstandene völlige Mobilität hat dafür gesorgt, dass wir den Arbeitsplatz überall vorfinden. Da Muße dort beginnt, wo Arbeit aufgehört hat, muss Erstere notwendigerweise verschwinden.
Cogito ergo sum. Wirklich? Oder doch nur noch laboro ergo sum?
Bin ich dann aber auch?
„In seiner Arbeit aufgehen“ kann dann eine radikale Bedeutungswende erfahren.
Wenn wir die Worte des Zweiflers schlechthin, des französischen Philosophen René Descartes, so auslegen, wie er sie tatsächlich gemeint hat, dann sind wir eigentlich nicht. Denn Descartes wollte mit ego cogito, ergo sum, wie es vollständig heißt („Ich denke, also bin ich.“), nichts weniger, als seine eigene Existenz beweisen, konkret seine Existenzfähigkeit.
Der Wert der Arbeit
Heute ist die Arbeit ein Beweis für Existenz. Wer nicht arbeitet, ist nicht.
In sich schon. Aber nicht im sozialen Netz der Vergleichspersonen. Mehr Einkommen lässt uns mehr Prestigegüter kaufen. Die gesellschaftliche Achtung steigt. So wie die Ächtung für jene, die nichts zu zeigen haben, weil sie vielleicht die Arbeit losgeworden sind. Unfreiwillig. Arbeitslos.
Arbeit gibt Prestige. Dessen Aufwertung zur Sinnstiftung bedarf keiner großen Schritte mehr. In diesem Fall könnten wir also formulieren: Arbeit macht Sinn.
Mehrarbeit macht demnach nicht nur mehr Sinn, sondern bringt auch ein höheres Einkommen. Und diese Mehrarbeit macht der Arbeitende selbstverständlich freiwillig. (Achtung Ironie.) Der Philosoph Nils Markwardt bringt es auf den Punkt: „Überstunden werden jetzt nicht mehr paternal verordnet, sondern die Kollegen werden vom jovialen Chef mit dem Verweis auf Teamspirit des gemeinsamen Projekts freiwillig zum Bleiben gebracht. Die Pointe: Der permissive Befehl ist viel stärker als der