Die Selbstzerstörung der Demokratie. Baal Müller

Die Selbstzerstörung der Demokratie - Baal Müller


Скачать книгу
ihren Ursachen. Handelt es sich dabei um kontingente Faktoren wie Inkompetenz, Korruption, Macht- und Geldgier politischer Entscheidungsträger, die man abwählen könnte, oder um einen systemisch bedingten Missbrauch demokratischer Strukturen durch die politische Klasse, dem durch Reformen und mehr Bürgerpartizipation beizukommen wäre, oder gar um Verfallstendenzen, denen das demokratische System insgesamt unterliegt?

      Betrachtet man die – natürlich oft unreflektiert vorgetragene – Kritik an Demokratie und Parteienstaat näher, lässt sich feststellen, dass Verschiedenes in Frage gestellt wird:

      1. Das Funktionieren der Demokratie

      Dabei wird vorausgesetzt, dass die grundgesetzliche Ordnung noch intakt sei, durch das Verhalten der Parteien aber nicht mehr hinreichend mit der »Verfassungswirklichkeit« zur Deckung gelange.

      2. Die Demokratie des Grundgesetzes

      In den Augen dieser Kritiker wird die Demokratie bereits auf Verfassungsebene nicht ausreichend verwirklicht: Das Grundgesetz sei nur ein Kon­strukt nach dem Willen der Siegermächte, ein Provisorium der Besatzungszeit, das nach der Wiedervereinigung durch eine wirkliche, vom Volk selbst verabschiedete Verfassung hätte ersetzt werden müssen. Da dies nicht der Fall gewesen sei, ermangele ihm die Legitimität. Oder, noch weitaus radikaler: Das GG sei im Zuge der Wiedervereinigung, von der Bevölkerung weithin unbemerkt, beseitigt worden, und eine illegitime Regierung gaukle dem Volk dessen weitere Geltung lediglich vor. Nach dieser vor allem von sogenannten »Reichsbürgern« vertretenen Auffassung ist die Bundesrepublik Deutschland mangels gültiger Verfassung überhaupt keine Demokratie, ja nicht einmal mehr ein Staat, sondern lediglich ein Wirtschaftsunternehmen, das Menschen, die sich noch immer irrtümlich für Bürger halten, als sein »Personal« beschäftigt und ausbeutet.

      3. Die Demokratie als politische Ordnung allgemein

      Eine generelle Ablehnung der Demokratie aus monarchistischer oder »führerstaatlich«-faschistischer Sicht ist nach 1945 nur noch in sehr kleinen isolierten Nischen vertreten worden; die marxistische Kritik an der »bürgerlichen (Klassen-)Demokratie«, die noch durch eine sozialistische »Volksdemokratie« vollendet werden müsse, die das Privateigentum der Produktionsmittel abschaffe und wirkliche Gleichheit herstelle, spielt seit 1990 ebenfalls keine Rolle mehr.

      Abgesehen von diesen ideologischen Restbeständen gibt es heute eine – in Deutschland wenig bekannte, sondern eher in den USA vertretene – intellektuelle Demokratiekritik aus libertärer Perspektive, die monarchistische und »anarchokapitalistische« Positionen verbindet. Nach dieser Position wird die Demokratie nicht nur falsch umgesetzt, sondern ist bereits in der Theorie ein schädliches Gesellschaftsmodell, das durch eine »natürliche Ordnung« ersetzt werden sollte. Wir werden sehen, dass diese Kritik den Finger in manche Wunden legt, auch wenn man ihren radikalen Konsequenzen nicht folgen muss.

      Neben der philosophischen, bis in die Antike zurückreichenden Demokratiekritik gibt es die »theokratische« Kritik des radikalen Islam, der jede säkulare Gesellschaftsform bekämpft. Aufgrund der muslimischen Einwanderung spielt sie mittlerweile auch in Europa eine Rolle, auch wenn die meisten Muslime (und ihre nichtmuslimischen Lobbyisten) – sei es aus mangelnder Vertrautheit mit den eigenen religiösen Lehren oder deren halbherziger Umsetzung, sei es aus bewusster Täuschung der »Ungläubigen« (Taqiyya) – die Unvereinbarkeit des Islam mit der Demokratie bestreiten. Sowohl der Koran als auch die politische Realität in muslimischen Ländern sprechen indes eine andere Sprache (was selbstverständlich nicht bedeutet, dass auch die meisten Muslime die Demokratie ablehnen würden).

      Insgesamt zeigt sich, dass die Demokratie in Deutschland und der gesamten westlichen Welt in großer Gefahr ist und ihre Transformation bis hin zur völligen Zerstörung all dessen, was wir unter Demokratie verstehen, droht. Allerdings wird ihre Abschaffung nicht von heute auf morgen durch eine Revolution oder einen Staatsstreich stattfinden, sondern sie vollzieht sich, wenn es so weit kommt, eher als allmähliche, schleichende Zersetzung des Systems von innen heraus. Kritische Bürger, die von der veröffentlichten Meinung als »rechtspopulistische« Demokratiefeinde geschmäht werden, tragen selbst am wenigsten zu diesem Prozess bei, sondern benennen ihn lediglich auf mehr oder weniger angemessene – und manchmal auch missverständliche – Weise. Sie sind gleichsam der Seismograf, der das aufkommende Erdbeben anzeigt und dafür zerschlagen wird. Allerdings ist die Entdemokratisierung kein Naturereignis, sondern wird von der politischen Klasse – unter formaler Beibehaltung demokratischer Wahlen – herbeigeführt. Dabei wirken bewusste und willentliche Maßnahmen wie die Ausschaltung oder Marginalisierung politischer Konkurrenten durch ständige Verunglimpfung, Verdrängung aus den Massenmedien, geheimdienstliche Beobachtung usw. mit allgemeinen Verfallstendenzen zusammen.

      Der Verfall der Demokratie vollzieht sich auf also mehreren Ebenen. Immanente Tendenzen zur Selbstzerstörung werden von externen, historisch kontingenten Faktoren verstärkt.

      Erstere wurden bereits in der Antike wahrgenommen und von den Kritikern der attischen Demokratie problematisiert. Diese Philosophen gingen davon aus, dass die verschiedenen politischen Verfassungen aufgrund jeweils charakteristischer Verfallstendenzen spezifische »Entartungsformen« hervorbringen, auf die dann andere Staatsformen folgen. Insgesamt solle es dadurch zu einer Art Kreislauf der Verfassungen kommen, der dem Zyklus des Werdens und Vergehens in der Natur entspreche. Ausgehend von der Zahl der jeweils Herrschenden wurden bereits die drei Grundtypen der Monarchie, Aristokratie und Demokratie unterschieden und aus ihnen die jeweiligen Verfallsformen abgeleitet, in denen nicht mehr das Interesse der Allgemeinheit, sondern das eines Einzelnen oder einer Gruppe vorherrsche.

      Wenn dies zutrifft, ist also auch die Demokratie auf eine ihr immanente Weise aus sich selbst heraus bedroht und fragil. Um ihre problematischen Züge einzudämmen, hat Aristoteles eine Kombination demokratischer Elemente mit solchen anderer Staatsformen, also eine »gemischte Verfassung«, vorgeschlagen.

      Neben diesen Faktoren, die für die Demokratie überhaupt kennzeichnend sein sollen, gibt es solche, die aus den jeweiligen nationalen und historischen Eigentümlichkeiten folgen. So kann ein Land etwa aufgrund seiner heterogenen Bevölkerungsstruktur, konfessionellen Gegensätze, historischen Erblasten (Sklaverei, Totalitarismus, Massenmorde etc.), sozialen Spannungen, ökonomischen Probleme, aber auch wegen seiner exponierten Lage und feindlicher Aggressionen am Aufbau einer Demokratie scheitern oder überhaupt daran gehindert werden, eine eigene Staatlichkeit auszubilden. Bekanntlich galt Deutschland lange Zeit als »verspätete Nation«, bei der die Demokratisierung aufgrund einer besonderen Neigung zu Militarismus, autoritärem Untertanengeist und reaktionärem Romantizismus verzögert verlaufen und erst spät – und nicht zuletzt unter äußerem Zwang – erfolgt sei.

      Im heutigen Deutschland, um das es hier vor allem geht, sind als problematische interne Faktoren paradoxerweise die geistigen Folgen der totalen Niederlage von 1945 zu nennen, obwohl diese zunächst einmal die Vor­aussetzung der (Re-)Demokratisierung nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus gewesen ist. Einerseits sollte durch die Reeducation die nationalsozialistische Gesinnung ausgemerzt und der Boden für eine demokratische Entwicklung


Скачать книгу