Der Mensch und seine Grammatik. Simon Kasper
und keine andere die korrekte sein sollte. Wenn das Verstehenverstehen nicht regelmäßig gelingt, können wir bei ihr nicht von einer Fähigkeit sprechen, sprachliche Äußerungen zu verstehen.
Die Kenntnis der sprachlichen Eigenstruktur spielt insofern eine herausragende Rolle für diese Fähigkeit, als sie Verlässlichkeit für die Interpretation herstellt. Die folgenden sind die wichtigsten eigenstrukturellen HinweiseHinweiseigenstrukturell in einer öffentlichen Entäußerung von Vorstellungen, damit eine Sprachbenutzerin zuverlässigHinweiszuverlässig zu deren korrekter Interpretation gelangen kann:
WortkategorienWortart
KasusKasus- und KongruenzmorphologieKongruenzMorphologie
ReihenfolgeReihenfolge (Kombinierbarkeit und relative Positionen)
Der Wert sprachlicher Eigenstrukturen lässt sich noch von einer anderen Seite her erhellen. Der Schreiber unserer Äußerung in (4) hatte eine bestimmte Vorstellung des entsprechenden Ereignisses. Für ihn, in seiner Vorstellungswelt, war völlig klar, wasWas steht womit in welcher Beziehung? womit in welcher Beziehung steht. Wir sahen, dass diese Klarheit und Bestimmtheit durch die Entäußerung dieser Vorstellung verloren geht, was ich auf die TreueTreue (vs. Sparsamkeit)- und SparsamkeitszwängeSparsamkeit (vs. Treue) zurückführte, denen das öffentliche Verkehrsmittel Sprache ausgesetzt ist. In den symbolischensymbolische Auslagerung Auslagerungen identifizierte ich eine Kompromisslösung für diese Zwänge der Öffentlichkeit. Sie führen zu DependenzbeziehungenDependenz zwischen Ausdrücken und sogar zwischen Ausdrucksteilen. Die Einheit, die eine Auslagerung eines Aspektes aus einer Vorstellung symbolisiert, ist dann abhängig von der Einheit, aus der dieser Aspekt ausgelagert wurde. Für die Beziehungen in unserem Beispielsatz habe ich dies so ausgedrückt, dass die Auslagerungen offen, unbestimmt oder ergänzungsbedürftig sind und durch andere Elemente geschlossen, bestimmt beziehungsweise ergänzt werden müssen. Dies ist, was die Ebene „Vorstellen von etwas“ in Abbildung 6 illustriert. Wir sahen aber ebenfalls, dass eine Interpretin nur mit der Kenntnis der WortartenWortart identifizieren kann, welcher Ausdruck überhaupt ein Etwas und welcher nur einen Aspekt von einem Etwas bezeichnet, also welche Ausdrücke oder Ausdrucksteile überhaupt Auslagerungen darstellen. Das galt selbst dann, wenn die Ausdrücke in der Äußerung schon unabhängig von den Wortarten Vorstellungen in der Interpretin hervorrufen.
Vor allem anhand ihrer Kenntnis der kasusKasus- und kongruenzmorphologischenKongruenz, kombinatorischen und positionsbezogenen Eigenstruktur kann sie dann identifizieren, welche Ausdrücke oder Ausdrucksteile mit welchen anderen in einer Auslagerungsbeziehung stehen und welche qualitativen Beziehungen zwischen ihnen bestehen. Die Tatsache, dass mehrere Ausdrücke in einem Satz jeweils mehrere Auslagerungen haben können, führt dazu, dass diese Ausdrücke und ihre Auslagerungen nicht immer direkt nebeneinander stehen können. So interveniert beispielsweise der zwischen nahm und Jünger, aber sowohl der als auch nahm sind beide Auslagerungen aus dem Jüngergegenstand. Die Vorstellung zu zu ist ergänzungsbedürftig unter anderem durch die Vorstellung zu nahm, doch dazwischen stehen der, Jünger, die, Mutter und Jesu. Dieses Geflecht von Beziehungen zwischen verschiedenen Einheiten, die zudem zu größeren Einheiten zusammengebunden werden können und auf den verschiedenen Ebenen Beziehungen miteinander eingehen können, bringen das Bezugsproblem hervor, nämlich zu bestimmen, was eine Auslagerung wovon ist.
Diese Verhältnisse sind in Abbildung 6 in dem Überbau über der Äußerung, das heißt auf den Ebenen (b) bis (e) dargestellt. Die Überstrukturiertheit der sprachlichen Eigenstruktur war daran erkennbar, dass wir die Wortarten, die uns vor allem anzeigen, was wir uns vorstellen sollen (a), nicht ohne Bezug auf die anderen Aspekte der Eigenstruktur identifizieren können, die ihre Leistungen für eine Interpretin vor allem auf den anderen Ebenen erbringen ((b) bis (e)). Umgekehrt können wir diese anderen instruktiveninstruktive MittelWortart Mittel nicht ohne die Kenntnis der Wortarten gebrauchen.
2.2.6 Die Zeitlichkeit des Interpretierens und wechselseitige Vorhersagbarkeit
Wenn wir uns die Abhängigkeiten auf der Ebene „Vorstellen der Art und Weise“ (b) sowie die Abhängigkeitsrichtungen auf dieser Ebene anschauen, könnten wir uns fragen, warum nahm Formaspekte von der Jünger und die Mutter bestimmt und warum nicht umgekehrt diese Bestimmung von der Jünger und die Mutter zu nahm verläuft. Für die umgekehrte Bestimmungsrichtung spricht beispielsweise, dass nahm, aber nicht gefiel erfolgreich vorhergesagt werden kann, wenn ein Satzglied im Nominativ und eines im Akkusativ gegeben sind. Das Kriterium, das für nahm als das bestimmende Element spricht, ist aber, wie viel wie zuverlässigHinweiszuverlässig wechselseitig vorhergesagt werden kann. Eine finite, aktivische Form des Verbs nehmen erlaubt eine ziemlich zuverlässige VorhersageVorhersage eines Satzglieds im Nominativ und eines im Akkusativ. Der Jünger und die Mutter erlauben zwar zunächst einmal gemeinsam und als Satzglieder auch die zuverlässige Vorhersage eines finiten Verbs. Aber erstens ist dieses Verb nicht zuverlässig aktivisch. Wir können dabei an Da bekam der Jünger die Mutter Jesu überantwortet denken. Zweitens wüssten wir ohne weitere Informationen nicht einmal, dass es sich bei der Jünger und die Mutter überhaupt um Satzglieder und nicht um Satzgliedteile handelt. Drittens habe ich unterschieden, ob wir die Abhängigkeiten beziehungsweise Bestimmungen prozessual oder nicht prozessual betrachten. In gesprochenen Äußerungen haben wir nicht die komplette Äußerung von Anfang an vor uns, sondern wir hängen an den Lippen des artikulierenden Sprechers, während dieser sie erst hervorbringt. Im Vergleich zu unserer mühelosen und blitzschnellen auditiven WahrnehmungWahrnehmung ist die Artikulation mühevoll und langsam. Beim Hören und Interpretieren warten wir nicht mit unserer Interpretation, bis die Äußerung beendet ist, sondern wir konstruieren inkrementell, oder onlineOnline-Betrachtungsweise, eine Interpretation auf Basis des bereits Gehörten und generieren VorhersagenVorhersage über das, was noch kommen mag.1 Diese VorhersagenVorhersage betreffen auch Kategorien der sprachlichen Eigenstruktur wie WortartenWortart, morphologischeMorphologie Formen und Satzglieder. (Inhaltliche ErwartungErwartungen lasse ich hier noch außer Acht.) Bei geschriebenen Äußerungen verhält es sich prinzipiell ähnlich, wir können aber mit unseren visuellen Fixationen in der Äußerung hin- und zurückspringen. Unter diesen prozessualen Vorzeichen können wir sehen, dass in gewisser Weise jede vorhergesagte Einheit abhängig von der Einheit ist, auf deren Basis die VorhersageVorhersage getätigt wurde: In der Onlineinterpretation von nahm in (4) führt die Interpretation an der Stelle dieses Ausdrucks zu der Vorhersage eines Satzglieds der 1. oder 3. Person Singular im Nominativ und eines Satzglieds im Akkusativ. Wäre die Äußerung aber ein Nebensatz und nahm stünde am Ende, würde die Interpretin der Jünger zuerst interpretieren und ein finites Verb vorhersagen, das die Form der 3. Person Singular aufweist. An der Stelle die Mutter Jesu könnte sie vielleicht sogar zusätzlich ein aktivisches transitives Verb vorhersagen. Die Abhängigkeitsrichtung zwischen zwei Ausdrücken wäre dann immer abhängig von der ReihenfolgeReihenfolge, in der sie auftreten.
Die Abhängigkeiten in Abbildung 6 sind nicht in diesem Sinne zu verstehen, sondern stellen OfflineabhängigkeitenOffline-Betrachtungsweise dar. Lassen sich nicht prozessuale Abhängigkeiten überhaupt rechtfertigen? Ich denke ja, nämlich indem man in einem Abhängigkeitsverhältnis den besseren Prädiktor zum bestimmenden Element macht. Denn unabhängig davon, ob der Jünger oder nahm zuerst interpretiert wird, kann die Interpretin auf Basis des einen die Form des anderen effektiver vorhersagen, eher erwartenErwartung als umgekehrt. Auf Basis von nahm sagt sie genau zwei Satzglieder mit bestimmten morphologischenMorphologie Formen vorher. Sie wird sich aber hüten, auf Basis von der Jünger ein transitives, aktivisches Verb vorherzusagen. Sie wird das nicht tun, weil die Wahrscheinlichkeit, von der wirklichen Fortführung enttäuscht zu werden, groß ist. Auf der Jünger könnte einfach ein intransitives Verb folgen. Und diese Enttäuschung kostet sie etwas, nämlich Aufwand und Zeit: den Aufwand, eine VorhersageVorhersage überhaupt erst zu machen, den Aufwand, das, was wirklich gekommen ist, anders in ihre Vorstellung einzubauen, als sie es erwartet hat, und die Zeit, dies alles zu tun. Wenn die Interpretin auch die Mutter Jesu wahrgenommen und interpretiert hat, kann sie zwar einen Verbtypen und eine Verbform vorhersagen,