Der Mensch und seine Grammatik. Simon Kasper

Der Mensch und seine Grammatik - Simon Kasper


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      Die Äußerung stellt insofern eine Besonderheit dar, als sie eine sehr hohe Quote an kategorial mehrdeutigen Ausdrücken aufweist und zugleich ko(n)textlos präsentiert ist. Beides ist bei den neutestamentlichen Äußerungen, die ich untersuchen werde, nicht der Fall. Daher sollen kategoriale, lexikalische und Kompositamehrdeutigkeiten auch nicht im Mittelpunkt unseres Interesses stehen. Ich hätte oben, als es darum ging, eine Interpretation für die Interpretin von Äußerung (4) zu erarbeiten, beispielsweise auch darauf hinweisen können, dass Mutter lexikalisch mehrdeutig ist. Aus Gründen der Übersichtlichkeit habe ich darauf verzichtet. Ich bin einfach davon ausgegangen, dass die Interpretin weiß, dass der Jünger die Mutter nicht zum Schrauben mitgenommen hat.

      Die für Äußerung (8) ermittelten Mehrdeutigkeiten bereiten Interpretinnen Schwierigkeiten, wenn es darum geht, erst einmal herauszufinden, was ein Etwas ist. Uns interessiert der etwas spätere Schritt, bei dem Interpretinnen ermitteln müssen, welches bereits ermittelte Etwas mit welchem anderen Etwas inWas steht womit in welcher Beziehung? welcher Beziehung steht, also beispielsweise, ob der Jünger oder die Mutter Jesu in unserer Äußerung in (4) Subjekt und Nehmer(in) beziehungsweise Objekt und Genommene(r) ist. Die Arten von sprachlich vermittelten Mehrdeutigkeitenmehrdeutigsyntaktische Funktionen, die dafür eine zentrale Rolle spielen, sind entsprechend andere, nämlich solche bezüglich syntaktischer Funktionen wie Subjekt und Objektmehrdeutigsyntaktische Funktionenet passim und semantischermehrdeutigsemantische Rollen Rollenmehrdeutigsemantische Rollenet passim wie Nehmer und Genommenes, oder allgemeiner, AgensAgens und PatiensPatiens. Auch diese Mehrdeutigkeiten sind bisweilen auszumachen, wenn eine Äußerung allen eigenstrukturellen Regelungen einer Sprache entspricht. Unsere hochalemannische Äußerung (1) aus Kapitel 1 illustriert genau einen solchen Fall. Sie ist hier im Vergleich zur neuhochdeutschen Äußerung (4) aufgeführt, die uns bis hierhin durch dieses Kapitel begleitet hat.

      Mit den gleichen eigenstrukturellen Mitteln, mit denen ich gezeigt habe, dass die neuhochdeutscheNeuhochdeutsch Äußerung eindeutigeindeutig ist, lässt sich auch zeigen, dass die hochalemannischeHochalemannisch Äußerung (mindestens) zweideutig ist. Mit den Worten von vorhin ausgedrückt, können wir sagen, dass die Eigenstruktur hier nicht verhindert, dass die Interpretin naheliegende, aber nicht beabsichtigte Bestimmungen an den Ausdrücken und Ausdrucksteilen vornimmt. Wenn ich die Bestimmungen wieder mithilfe eines Strukturschemas darstelle, erhalten wir daher zwei verschiedene Strukturschemata für dieselbe Äußerung.

      Abbildung 7 zeigt im relevanten Ausschnitt die Struktur der ersten möglichen Interpretation, diejenige, die der Schreiber auch kommunizieren wollte: Der Jünger hat sie, die Mutter, zu sich, dem Jünger, genommen.

      Abb. 7:

      Die Funktion sprachlicher Ausdrücke für die intendierte Interpretation am Beispiel von „(Und vo säbere Stund aa) hät si de Jünger zue sich gnaa“

      Welchen DeutungsroutinenRoutine, Routinisierung ist die Interpretin hier gefolgt und durch welche eigenstrukturellen Leistungen ist sie bei dieser Interpretation angelangt? Als ersten kritischen Hinweis findet die Interpretin zunächst hät. Als finites aktivisches Auxiliar tut es für die Art und Weise, wie sich die Eventualität vorgestellt wird, wenig mehr als ein Satzglied im Nominativ zu fordern, das als Subjekt fungiert. Dieses findet die Interpretin in de Jünger. Durch Jünger wird das Auxiliar in seinen P.N.-Spezifikationen bestimmt. Die Interpretin weiß nun, dass der Jünger der Habende ist. Als Auxiliar bestimmt hät auch die Form des Passivpartizips Perfekt (PPP) für das Vollverb. Das Vollverb wiederum bestimmt ein Satzglied im Akkusativ, das als Objekt fungiert. Dieses findet die Interpretin in si. Zusammengenommen erlaubt dies der Interpretin, eine Aktivdiathese für den gesamten Komplex anzunehmen, so dass sie si als PatiensPatiens und de Jünger als AgensAgens identifizieren kann. Der Jünger ist also ein sie-zu-sich-genommen-Habender.7 In dieser Lesart steht sich in einem Kohärenz stiftenden Verhältnis zu Jünger. In der Gerichtetheitsbeziehung, die durch zue ausgedrückt wird, fungiert zudem die Mutter als das Gerichtete. Auf die Darstellung der diffizilen Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Flexiven und lexikalischen Ausdrücken habe ich hier erneut verzichtet.

      Schauen wir uns in Abbildung 8 im gleichen Ausschnitt die zweite, nicht intendierte Interpretation an, derzufolge sie, die Mutter, den Jünger zu sich, der Mutter, genommen hat. Als das Satzglied, für das hät den Nominativ bestimmt und von dem hät seine P.N.-Spezifikationen erhält, identifiziert die Interpretin nun si. Die restlichen Unterschiede sind mehr oder weniger zwingend eine Folge davon: De Jünger ist das Satzglied, das in seiner Akkusativform von gnaa bestimmt ist. Sich steht in einem Kohärenz stiftenden Verhältnis zu si und das Gerichtete in der Gerichtetheitsbeziehung ist nun der Jünger.

      Abb. 8:

      Die Funktion sprachlicher Ausdrücke für die nicht intendierte Interpretation am Beispiel von „(Und vo säbere Stund aa) hät si de Jünger zue sich gnaa“

      Die Mehrdeutigkeit kommt hier offensichtlich dadurch zustande, dass die morphologischeMorphologie Eigenstruktur des HochalemannischenHochalemannisch weder für das Personalpronomen der 3. Person Femininum, si, noch für den bestimmten Artikel de, noch für das Substantiv Jünger unterscheidbare Formen für den Nominativ und den Akkusativ aufweist. Da es sich bei beiden Satzgliedern um solche der 3. Person Singular handelt, kann die Interpretin die Flexionsform des Auxiliars hät ebenfalls nicht als eindeutiges Instruktionsmittel nutzen. Hier haben wir es mit morphologischer Mehrdeutigkeitmehrdeutigmorphologisch zu tun. Die relative ReihenfolgeReihenfolge von Subjekt und Objekt hat im Hochalemannischen nach allem, was wir wissen, auch keinen instruktiveninstruktive Leistungen Wert in Bezug auf die Frage, inWas steht womit in welcher Beziehung? welcher Beziehung die Vorstellungsinhalte zueinander stehen. Ich werde das als syntaktische Mehrdeutigkeit bezeichnenmehrdeutigsyntaktisch. Wir können also festhalten, dass die Äußerung sowohl morphologisch als auch syntaktisch mehrdeutig ist. Aus der Perspektive der symbolischensymbolische Auslagerung Auslagerung ist es für eine Interpretin dieser Äußerung somit gleich naheliegend, die ergänzungsbedürftigen Teile des Verbkomplexes mit dem einen oder dem anderen Gegenstandsausdruck zu schließen. Anders ausgedrückt, die Äußerung ist mehrdeutig in Bezug auf die syntaktischen Funktionen Subjekt und Objekt, und, dadurch vermittelt, in Bezug auf die Rollen AgensAgens und PatiensPatiens. Im ersten Kapitel hatte ich die Äußerung in (1) noch als grammatisch mehrdeutig bezeichnetmehrdeutiggrammatisch. Diesen Ausdruck verwende ich dann, wenn eine Äußerung sowohl morphologischeindeutiggrammatisch als auch syntaktisch mehrdeutig ist.

      An Beispiel (1) können wir noch eine weitere Art von Mehrdeutigkeit aus unserer Untersuchung ausschließen. Im betreffenden Bibelkapitel gibt es neben Maria, auf die sich si bezieht, auch diverse andere Gegenstände, auf die mit den grammatischen Merkmalen Femininum oder Plural Bezug genommen werden kann. Auf sie alle könnte, morphologisch gesehen, si sich beziehen. Solche Mehrdeutigkeiten im Pronomenbezugmehrdeutigbezugs- werden uns nicht interessieren. Es ist auch leicht zu erkennen, dass je nachdem, welcher Partnerausdruck für si gewählt wird, sich daran, dass seine syntaktische Funktion und semantische Rolle unklar sind, nichts ändert. Bezugsmehrdeutigkeiten und Mehrdeutigkeiten syntaktischer Funktionen beziehungsweise semantischer Rollen sind unabhängig voneinander.

      Subjekt-Objekt-Mehrdeutigkeiten sind aber nicht die einzigen, die wir in unseren Bibeltexten erwarten dürfen. Viele Äußerungen weisen nämlich neben einem Subjekt und einem Objekt auch mindestens ein weiteres Objekt auf. Objekte weisen entweder einen KasusKasus auf, der direkt vom Verb bestimmt wird, wie (die) Mutter (Jesu) (Akkusativ) in Äußerung (4) oder einen, der von einer Präposition bestimmt wird, wie (zu) sich in derselben Äußerung. Der Ausdruck der Objekte mittels verschiedener Kasusmarkierungen oder Präpositionen geht üblicherweise damit einher, dass diese Objekte in verschiedenen


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