Der Mensch und seine Grammatik. Simon Kasper
Das bedeutet nun aber, dass im Grunde die morphologischeMorphologie und syntaktischeReihenfolge Organisation des Partnerteilsatzes gar keine Rolle mehr dafür spielt, mit welchen imaginären eigenstrukturellen Spezifikationen die Nullstelle besetzt wird. Der Partnerteilsatz kann morphologisch oder syntaktisch ausgeprägt sein, wie er will; wenn der Teilsatz mit der Nullstelle morphologisch mehrdeutigmehrdeutigmorphologisch ist, genügt das, damit die Objektlesart für die Nullstelle nicht mehr auszuschließen ist. Das folgende Beispiel illustriert dies.
Das erste Konjunkt ist morphologisch und syntaktisch eindeutig, das zweite ist morphologisch mehrdeutig. Allein der letztere Befund reicht dafür aus, dass eine Interpretin die Nullstelle – inti Ø garauuitun ostrun – als Subjekt oder Objekt interpretieren kann.
Das wiederum bedeutet nun aber auch, dass es nicht einmal eine Rolle spielt, ob der (Teil-)Satz mit Nullstelle ein koordinierter ist. Die Konsequenz ist: Immer, wenn eine Äußerung in einer älteren Sprachstufe morphologisch mehrdeutig ist und eine Nullstelle erschlossen werden muss, spricht nichts Eigenstrukturelles gegen eine imaginäre Objektlesart der Nullstelle. Das Subjekt kann insbesondere im AlthochdeutschenAlthochdeutsch unausgedrückt bleiben.10
2.3.3 Der Einfluss der Schrift auf die sprachliche Eigenstruktur
Ich gehe also von einer beweglichen Grenze der sprachlichen Eigenstruktur aus. Sie ist beweglich im Sinne historischer Umstrukturierungen, wir können auch sagen Durchstrukturierungen, innerhalb einer Sprache. Die Interpretation bestimmter Phänomene ist in den modernen Sprach(stuf)eSprach(stuf)en des Deutschen und Englischen in höherem Maße durch die sprachliche Eigenstruktur geregelt als in den älteren Sprachstufen. Dazu gehört manches im sprachlichen Umgang mit Pronomen und Nullstellen, mit denen, wie wir gesehen haben, Kohärenz hergestellt wird, die aber als Satzglieder auch syntaktische Funktionen einnehmen und semantische Rollen tragen können. Im Rahmen der Durchstrukturierungen wurden diese Phänomene zunehmend von der sprachlichen Eigenstruktur erfasst. Welche Bezüge eine Interpretin zwischen welchen Elementen vornahm, war in der Folge nicht mehr bloß davon abhängig, was für sie jeweils nahelag, am leichtesten erschließbar war oder ihrer pertinenzgesteuertenPertinenz Interpretation entsprach. Die Phänomene wurden zunehmend syntaktifiziertSyntaktifizierung und integriertSyntaktifizierungsyntaktifiziertReihenfolge.1 Damit ist Folgendes gemeint: Ich habe oben auf die Überstrukturiertheit sprachlicher KonventionenKonvention hingewiesen und argumentiert, dass ein Merkmal der sprachlichen Eigenstruktur kaum unabhängig von anderen Elementen der sprachlichen Eigenstruktur charakterisiert werden kann. Im Zuge der Syntaktifizierung und Integration sprachlicher Phänomene wird das Netz zwischen den Elementen der sprachlichen Eigenstruktur noch engmaschiger. Die sprachlichen Einheiten, unter denen eine Interpretin für Pronomen und Nullstellen nach Partnerausdrücken suchen konnte, und die Möglichkeiten, sie in einer bestimmten Funktion, zum Beispiel Subjekt oder Objekt, zu interpretieren, wurden jetzt in die positionalen und kombinatorischen Regelungen eingebunden. Das steckt hinter der Syntaktifizierung. Mit ihr geht die zunehmende Kompaktheit von sprachlichen Konstruktionen einher, also die Vernetztheit zwischen Wortteilen in Wörtern, Wörtern in Wortgruppen, Wortgruppen in Sätzen und zwischen Sätzen in Texten. Einzelne Äußerungen oder Sätze bilden so gleichsam Netze, in die kleinere Netze eingewoben sind und die mit größeren Netzen verwoben sind. Das ist mit Integration gemeint. Das Schema in Abbildung 6 vermittelt einen Eindruck von dieser Vernetztheit. Die Fäden des Netzes bilden gleichsam einen Kokon um die linear gedachte Struktur der Äußerung beziehungsweise des Textes herum.
Syntaktifizierung und Integration hängen zumindest in den Sprachen, die uns interessieren, mit der jahrhundertelangen Herausbildung einer Schrift- und Lesekultur zusammen.2 Die schriftlose, gesprochene Kommunikation von Angesicht zu Angesicht ist eine dialogische, in der die Dinge in Rede und Gegenrede durchgesprochen werden. Die Einigung darüber, was womit in welcherWas steht womit in welcher Beziehung? Beziehung steht und welche praktische Relevanz das hat, kann so in Wechselrede ausgehandelt und in ihrem Verlauf konkretisiert werden. Dabei stehen unzählige HinweisreizeHinweisreizHinweis bereit, die in der schriftlichen Kommunikation von Angesicht zu Papier und von Papier zu Angesicht fehlen. Dazu zählen ProsodieProsodie, Mimik, Blickrichtung, Gestik und Körperausrichtung unter den Beteiligten, aber auch alle Aspekte einer gemeinsamen Situation, die im gemeinsamen Wissensvorrat der Beteiligten verfügbar sind. Was im sprachlichen Ausdruck uneindeutigmehrdeutig ist, kann so anhand von Hinweisen aus der Mit- und Umwelt vereindeutigteindeutig werden. Und wo dies schiefgeht und wahrnehmbare Konsequenzen zeitigt, erlaubt die Unmittelbarkeit des Kontakts die sofortige Behebung des Problems. Das dialogische face-to-face-Sprechen ist auf das Zurückgreifen auf außersprachliche HinweiseHinweisaußersprachlich hin, oder besser gesagt, an der VerfügbarkeitHinweisverfügbar dieser Hinweise entlang entwickelt. Die Beteiligten sind für ihren Interpretationserfolg nicht auf einen dicken Kokon vielschichtiger, engmaschiger Vernetzungen angewiesen, die sich um die Anordnung von Zeichen auf Pergament oder Papier herumwickeln. Das Netz, das sie zur Verfügung haben, ist viel weniger zwischen den Elementen der Äußerung oder des Textes geknüpft, wie es bei der geschriebenen Kommunikation zwangsläufig der Fall ist, als zwischen den Äußerungselementen, den Gegenständen der gemeinsamen Situation und den Beteiligten der Kommunikation. Deshalb kann man eine neuhochdeutscheNeuhochdeutsch Bibel auch vom Tisch nehmen, wegtragen und woanders ebenfalls verstehen. Nimmt man zwei Vogelsberger Bauern bei der Arbeit auf und hört sich die Aufnahme am eigenen Küchentisch an, wird schwer nachvollziehbar sein, was in den Äußerungen womit in welcher Beziehung stehend vorgestellt werden soll; nicht, weil man die Wörter nicht kennte, sondern weil beim Weggehen die Fäden in die außersprachliche Situation gerissen sind.
Wenn wir nun an monologische, geschriebene Texte wie die Bibel denken, ist es klar, dass Interpretinnen keine Verständnishilfen aus der Situation erwarten dürfen. Sie können auch nicht an den Urheber der Äußerungen zurückfragen, wie etwas gemeint ist. (Sie könnten sich an Dritte wenden, die die Auslegung sakraler Texte professionell betreiben.) Bei ihrer Interpretation sind sie allein auf das angewiesen, was das Medium und das darin Symbolisierte ihnen bereitstellen. Das erzeugt einen bestimmten funktionalen Druck auf monologische, geschriebene Sprache. Das Ausgedrückte muss ohne Fäden in die situative Mit- und Umwelt der Interpretin so deutbar sein, dass die richtigen Vorstellungen konstruiert und HandlungenHandlung vorgenommen werden können, und zwar nach Möglichkeit bei jedem erneuten Lesen auch und unabhängig davon, wer das Geschriebene interpretiert.3 Als geschriebensprachliche, eigenstrukturelle KonventionenKonvention entwickeln sich dann solche, die diese funktionalen Erfordernisse erfüllen können und deren Charakteristik ich als SyntaktifizierungSyntaktifizierung und Integration angegeben habe. Am vorläufigen Ende stehen situationsentbundene Sprachgebilde – anstatt situationsgebundener Sprechhandlungen – die ohne die Stütze der Mit- und Umwelt erfolgreich zu Interpretationen instruieren. Das konventionalisierte Know-howKnow-how, das auf der Seite eines Schreibers dazugehört, wird von Ong so charakterisiert:
To make yourself clear without gesture, without facial expression, without intonation, without a real hearer, you have to foresee circumspectly all possible meanings a statement may have for any possible reader in any possible situation, and you have to make your language work so as to come clear all by itself, with no existential context.4
Auf den ersten Blick klingt das nicht sonderlich herausfordernd. Immer wenn wir etwas für jemand anderes schreiben, glauben wir, und sogar meistens zu Recht, diesem Anspruch zu genügen. Bei dieser Beurteilung vergessen wir aber, dass wir uns dabei wie selbstverständlich und ohne es zu merken des schon konventionalisierten Know-hows bedienen, das unzählige Generationen vor uns erst akkumulieren mussten. Die historische Herausbildung dieses Know-hows innerhalb einer sprachlichen Verkehrsgemeinschaft musste sich genauso langwierig vollziehen wie die Herausbildung gesprochensprachlicher Konventionen, und das heißt durch Generationen übergreifende Zyklen aus Variation – vielfältiges Ausprobieren –, Selektion – Weiterverwendung des Erfolgreichen – und Reproduktion – Weitergabe beziehungsweise Übernahme des Bewährten – zwischen Menschen innerhalb von Gruppen und zwischen Gruppen. Die Schwierigkeit besteht darin, dass wir kein explizites,