Politische Justiz. Otto Kirchheimer
von seiner ersten Frau scheiden lassen und danach eine geschiedene Frau geheiratet. Privatbriefe, die Eheschwierigkeiten und Liebesgefühle mit großer Offenheit und Angelegenheiten von erheblicher öffentlicher Bedeutung mit Frivolität und Zynismus behandelten, wurden nicht sorgfältig verwahrt und gingen von Hand zu Hand. Einige erreichten die Zeitung Figaro, die Caillaux am meisten nachstellte. Sie druckte ein paar Leseproben ab und kündigte saftige Enthüllungen an. Von Angst und Sorge getrieben, stürzte Frau Caillaux am 17. März 1914 zur Redaktion des Figaro und gab mehrere Schüsse auf den Redakteur Calmette ab. Die Schüsse waren tödlich.
Der Politiker Caillaux war lahmgelegt. Die herrschenden Sitten verlangten, dass er sich bis zur gerichtlichen Entscheidung die größte Zurückhaltung auferlege. Ohne zu zögern, gab Caillaux sein Regierungsamt auf und schied überhaupt aus dem politischen Getriebe aus; er kümmerte sich nur noch um die Verteidigung seiner Frau. In den entscheidenden Sommermonaten des Jahres 1914 gab es keinen Politiker Caillaux.35 Frau Caillaux wurde von einem Pariser Geschworenengericht freigesprochen.
Seit dem Ausbruch des Krieges war es mit der Hoffnung auf eine Linkskoalition vorbei. Jaurès war ermordet worden. Caillaux war praktisch isoliert und hatte mit politischen Entscheidungen nichts zu tun. Man fürchtete ihn immer noch. Seine außenpolitischen Ansichten hatten sich nicht gewandelt; auch machte er kein Geheimnis daraus, dass ihm ein baldiges Ende des Krieges wichtiger schien als Frankreichs Sieg. Aber er blieb der aktiven Politik fern und äußerte sich nicht in der Öffentlichkeit. Er trat in den Dienst der Armee und zankte sich mit seinen Vorgesetzten. Die Regierung forderte ihn auf, jenseits des Ozeans Rohstofflieferungen zu organisieren. Caillaux übernahm den Auftrag; später wurde ihm für die geleisteten Dienste hohes Lob zuteil.
Den Winter 1914/15 verbrachte Caillaux in Lateinamerika. Er war unmutig und nahm kein Blatt vor den Mund. In Rio de Janeiro machte er die Bekanntschaft eines Grafen Minotto, der die Guaranty Trust Company of New York vertrat und in halbamtlichem Auftrag reiste. Caillaux war bekannt, dass Minotto mit Graf Luxburg, dem deutschen Botschafter in Buenos Aires, zusammenkam. Nicht bekannt war ihm, dass vieles, was er in Unterhaltungen mit Minotto sagte, nach Berlin gemeldet wurde. So hieß es in einem dienstlichen Bericht Luxburgs, Caillaux habe sich über die Dummheit der deutschen Presse beklagt, die ihn überschwänglich lobe und damit der französischen Öffentlichkeit verdächtig mache.36 Da Luxburgs Berichte abgefangen wurden, konnte die französische Anklagebehörde daraus später die Behauptung machen, Caillaux habe die Berliner Regierung gebeten, die Dienste, die er der deutschen Sache leisten könnte, nicht aufs Spiel zu setzen.37
Auch nach seiner Rückkehr nach Frankreich blieb Caillaux in seinem gesellschaftlichen Umgang wie immer unvorsichtig und wenig wählerisch. Er unterhielt Beziehungen zu einem etwas anrüchigen Finanzmakler namens Bolo, der sich später als deutscher Sonderagent für Pressebestechungen und Zeitungskauf entpuppte. Er schrieb Artikel für die Zeitung Bonnet Rouge, die sich von der Unterstützung der Vorkriegspolitik Caillaux’ erst zur Propaganda für den Sieg und dann zur Politik des Friedens bekehrt hatte und deren geschäftsführender Redakteur Duval beim Einlösen schweizerischer Bankschecks gefasst wurde, deren Ursprung aus deutschen Regierungsfonds ermittelt werden konnte. Und er kam mit dem Journalisten Almereyda zusammen, der sich der Reihe nach als halber Anarchist, als Kriegspropagandist und zuletzt als Kriegsgegner und Regierungskritiker betätigt hatte und dem nun auch vorgeworfen wurde, im Dienst der deutschen Regierung zu stehen. Caillaux’ Schwäche für diese zwielichtigen Gestalten stammte aus der Zeit des Prozesses gegen seine Frau: Damals hatten sie ihm als Leibwächter, Claqueure und Presseagenten manchen Dienst erwiesen, und er glaubte ihnen zu Dank verpflichtet zu sein. Schlimmer noch war, dass er nicht für nötig gehalten hatte, die zuständigen Behörden darüber zu unterrichten, dass deutsche Agenten auf ziemlich durchsichtige Weise versucht hatten, mit ihm brieflich oder durch Mittelsleute Verbindungen aufzunehmen. Bolo und Duval wurden verurteilt und hingerichtet. Almereyda beging im Gefängnis Selbstmord. Und der Unteragent, der an Caillaux herangetreten war, fiel der Polizei in die Hände.
Anfang 1917 wurden Caillaux und seine Frau von einer Horde nationalistischer Rowdys überfallen. Um sich von diesem Schock zu erholen, reisten sie nach Italien. Dort verkehrte Caillaux in Kreisen, die der Kriegspolitik der italienischen Regierung kritisch gegenüberstanden; auch in diese Kreise hatte sich, wie sich später herausstellen sollte, ein feindlicher Agent eingeschlichen. Im Gespräch mit dem einzigen italienischen Politiker von der »richtigen« Couleur, dessen er habhaft werden konnte, machte Caillaux kein Hehl aus seiner wirklichen Meinung. Mit den üblichen Entstellungen und Übertreibungen wurde den Pariser Behörden nicht nur über diese und ähnliche Unterhaltungen, sondern auch noch über die angeblich defätistischen Ansichten berichtet, die Caillaux auf der Heimreise einem Schlafwagenschaffner offenbart haben sollte.
In Frankreich verharrte Caillaux in der politischen Passivität. Im Parlament schwieg er. Die einzige politische Ansprache, die er vor seinen Wählern hielt, unterschied sich kaum von den Durchhaltereden anderer Politiker.
Bei seiner Abreise nach Italien hatte er sich kein Bild davon gemacht, wie lange er wegbleiben wollte, und für den Fall eines längeren Auslandsaufenthalts alle möglichen Papiere mitgenommen. Diese Papiere waren in einem Banksafe in Florenz geblieben, und Caillaux kam nicht auf die Idee, dass er sich damit bei Feinden und Aufpassern besonders verdächtig gemacht hatte. Als die Feinde gegen Ende des Jahres losschlugen, verursachten die »Geheimpapiere in Italien« eine böse Sensation. Auf Ansuchen der französischen Regierung ließen die italienischen Behörden das Bankfach öffnen. Der Presse wurde die Version serviert, dass Aktienpakete im Werte von Millionen Francs gefunden worden seien; kreischende Schlagzeilen malten das phantastische Vermögen aus, das Caillaux aus dem Lande herausgezogen habe, um dessen wirtschaftliche Abwehrkraft zu schwächen. (Die Richtigstellung kam später in einer kaum erkennbaren Zeitungsnotiz.)
In Wirklichkeit hatte das »Versteck« in Florenz hauptsächlich Manuskripte enthalten. Ihnen wandte die Anklagebehörde ihre besondere Aufmerksamkeit zu. Eins der Manuskripte behandelte die Ereignisse, die zum Ausbruch des Krieges geführt hatten: Die Rolle verschiedener französischer Politiker kam zur Sprache, Pardon wurde nicht gegeben, und Poincaré kam besonders schlecht weg. Hieß das nicht, das Ansehen der nationalen Führung in der Zeit schwerer Bedrängnis schädigen? In einem anderen Schriftstück hatte sich Caillaux zu einem früheren Zeitpunkt – unter der Überschrift »Rubikon« – Gedanken darüber gemacht, was er zu tun haben würde, falls er wieder an die Regierung käme. Darin war die Rede von einer Vertagung des Parlaments auf zehn Monate, von Notstandsermächtigungen für die Regierung für die Dauer der Parlamentsvertagung, von einem Hochverratsverfahren gegen die Monarchisten von der Action Française, Caillaux’ urälteste Feinde. War das nicht ein hochverräterischer Machtergreifungsplan?
Als Caillaux 1920 seinen Richtern, den Senatoren als Haute Cour, gegenüberstand, produzierte der Ankläger – irgendwie musste das Prestige des Präsidenten aus der Kriegszeit und der ihm gefügigen Parlamentsmehrheit gewahrt bleiben! – den bizarren Einfall, den Inhalt der florentinischen Papiere als crimen laesae maiestatis zu behandeln. Caillaux beschränkte sich darauf zu bemerken, mehr als hundert Jahre nach der Erklärung der Menschenrechte gehe es doch wohl nicht an, unveröffentlichte private Notizen zur Grundlage eines Strafverfahrens zu machen.38 (Dreihundert Jahre und ein halbes Jahrzehnt, hätte er hinzufügen können, seien seit 1615, seit dem Fall Edmund Peacham,39 verstrichen, in dem diese Art Anklage eindeutig verworfen worden war.) Nicht einmal die dem Regime Poincaré-Clemenceau treuen Senatoren, die einen beträchtlichen Teil des Gerichtskollegiums bildeten, ließen sich einreden, dass das Strafgesetz die politische Tätigkeit der Mitglieder einer Kriegsregierung vor jeglicher Kritik schütze. In der Urteilsbegründung wurden die Papiere aus Florenz nur in dem Sinne erwähnt, dass ihnen Hinweise auf die Motive des Angeklagten zu entnehmen seien.40